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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 629 / 15.8.2017

Die Genies des Karpatenbeckens

International In Ungarn perfektioniert sich Victor Orbáns Diktatur

Von Clemens Prinz

Die jüdische Weltverschwörung hat derzeit Konjunktur in Ungarn. Ihr erster Handlanger ist Christian Kern, der österreichische Bundeskanzler: Péter Szijjártó, der ungarische Außenminister mit Stehfrisur, für den seine Eltern seiner Aussage nach eine Millionenvilla angespart haben, der seine Kumpane aus seinem Hallenfußball-Verein ins Ministerium geholt und Jugendfreunden zu Botschafterposten verholfen hat, bemüht die hauseigene, hausbackene Verschwörungstheorie mit den Worten: »Kern stellt sich auf die Seite jener, die den »Soros-Plan« ausführen wollen.«

Der »Soros-Plan«: George Soros, ungarischer Holocaustüberlebender und Milliardär, Esperantovatersprachler und Philanthrop, gilt Orbán und seiner Regierung als die Verschwörung gegen Ungarn in persona. Er lasse nichts unversucht, um die Allmacht und Willkür von Orbán und seinen Gefolgsleuten zu beenden, ja sogar den europäischen Nationalstaaten wolle er den Garaus machen, so Szijjártó. Sein »Plan« sieht folgendermaßen aus, und ähnliches hört man auch aus Polen: Soros überhäuft NGOs mit Geld, diese wiederum sorgen dafür, dass möglichst viele »Migranten« nach Europa kommen, um hier Frauen zu vergewaltigen und so eine rasche Islamisierung Europas zu erreichen. So, oder so ähnlich. Dafür gäbe es haufenweise Beweise, die man aber nicht offenlegen wolle.

Nebenbei zahlt Soros die neuesten iPhones für »Syrer und Afghanen« und verteilt 2.000 Euro-Kleidergutscheine an »Schwarzafrikaner«. Er macht das, um die Heiligen Orbán, dem polnischen Politiker* Kaczynski und den österreichischen Politikern Kurz und Strache die Macht abzuringen, die sie mit absolut fairen, demokratischen Mitteln und ein wenig Gerrymandering (1) erlangt haben. Mal Spaß beiseite: Der Großteil der ungarischen Führungsriege wäre ohne Soros nicht dort, wo er jetzt ist: Orbán, Kövér und Co haben noch zu Beginn der 1990er Jahre von Soros-Stipendien Brot und Milch gekauft und ihre Heizungsrechnung bezahlt.

»Essen Sie Kaninchenfleisch!«

Die ungarische Kakofonie hat aber derzeit noch mehr zu bieten. Eine der jüngsten Kampagnen, die vor einiger Zeit von offiziellen ungarischen Stellen ausgerufen wurde, steht im Zeichen des Kaninchenfleischs. Im Landwirtschaftsministerium hat man, nachdem alle staatlichen Agrarflächen an Fidesz-Günstlinge verteilt worden waren, um in den Genuss von EU-Agrarförderungen zu kommen, festgestellt: »Die ungarische Familie« bekommt zu wenig Kaninchenfleisch auf den Tisch. Es sei aber ja sehr gesund und schnell und leicht zu produzieren. Die Kampagne »Egyen nyúlhúst!« (Essen Sie Kaninchenfleisch!) wurde in einem Budapester Einkaufstempel gestartet, wo ein Haubenkoch zeigte, welch schmackhafte Speisen man aus Kaninchen zubereiten kann. Klingt nach Kriegsvorbereitung? Denkt hier jemand an Hermann Görings Angorazucht?

Apropos Krieg, beziehungsweise Bürgerkrieg, wie ihn FPÖ-Chef und Orbán-Verbündeter Heinz-Christian Strache herannahen sieht (2): Auch bei László Kövér ist man damit richtig. Kövér ist Parlamentspräsident und kommt ursprünglich aus Siebenbürgen. Er ist auch deshalb überzeugt, ein ungarischerer Ungar als die ungarischen Ungar_innen und die Budapester_innen überhaupt zu sein. (3) Er hat sich eine Parlamentswache, besser: Privatarmee, aufgestellt, die über neueste Scharfschussgewehre, Granatwerfer und leichte Panzerfahrzeuge verfügt. Er hat fast allen oppositionellen Journalist_innen Hausverbot erteilt und verhängt Geldstrafen über Oppositionsabgeordnete, die ihm Nichtgefälliges sagen oder es gar wagen, die Regierung zu kritisieren. Einige Beispiele: Der unabhängige Abgeordnete Szabolcs Szabó wurde von Kövér zu 250.000 HUF Geldstrafe verurteilt, weil er bei der Abstimmung zur Central European University (CEU) eine Sirene ertönen ließ.

Neun sozialdemokratische Abgeordnete wurden zu 50.000-100.000 HUF Strafe verurteilt, weil sie während der Abstimmung Tafeln mit der Aufschrift »Ne írd alá, János.« (Unterschreib es - das Gesetz - nicht, János.) hochgehalten hatten. Verurteilungsgrund: sie hatten János Adér, den Staatspräsidenten, auf ihren Schildern geduzt. Die Strafe sei berechtigt, meinte Kövér, die Abgeordneten hätten »Felségsértés« (Majestätsbeleidigung) begangen.

Der Sprecher der Partei »Párbeszéd« erhielt von Kövér immerwährendes Hausverbot, weil er an Orbáns Bürotür einen Zettel geklebt hatte, auf dem »Putyin-csicska« (Putins Idiot vom Dienst) geschrieben stand. Das Mikrofon von Abgeordneten während ihrer Beiträge in Parlamentsdebatten abzudrehen, ist Alltag. Zuletzt hat Kövér am 5. Juli der ungarischen Presse mitgeteilt, dass er den Plan kenne, mit dem George Soros bereits einen Aufruhr, ja gar eine »Revolution« für den Herbst organisiere. (4)

Innere und äußere Grenzpolitik

In eine ähnliche Kerbe schlägt die Reisewarnung für alle europäischen Länder des ungarischen Außenministeriums, die Ende Juli herausgegeben wurde. Empfehlung: Man solle sich stets bei den ungarischen Konsulaten registrieren lassen, damit im Fall der Fälle eine schnelle Hilfe möglich sei - vermutlich so ähnlich wie im Jahr 2013, als hunderte Menschen auf der Autobahn zwischen Budapest und ungarischer Grenze zwei Tage lang eingeschneit waren. Das einzige, was die ungarischen Behörden damals unternommen hatten, war, eine SMS an alle (!) ungarischen Mobiltelefone zu verschicken. Unterdessen wurde ein Fidesz-Funktionär mit dem Hubschrauber ausgeflogen. Die Normalsterblichen hatten auszuharren, bis die österreichischen Schneepflüge die Autos ausgeschippt hatten.

Oder ist das alles nur ein Vorspiel, um die ungarischen Grenzen schließen zu können, damit nicht noch eine weitere Million Leute davonläuft? (5) Wenn alle außerhalb Ungarns so »böse« sind, und die ungarische Bevölkerung, wie behauptet wird, davon ebenfalls vollkommen überzeugt ist, könnte man doch eventuell den Grenzzaun, der im Süden verläuft, nach Norden, Osten, Westen verlängern? Um »das eigene Volk zu schützen«?

Das wäre der Schlussakkord zur Perfektionierung der Diktatur, wie es sie in Ungarn schon längst gibt. Man will im Westen nicht sehen, dass hier schon alles gelaufen ist. Es gibt nationalistische, katholisch-fundamentalistische, rassistische Schulbücher, die verpflichtend verwendet werden müssen. Es gibt einzuführende Wehrsportübungen in den Schulen sowie den immer lauter werdenden Gedanken, die Roma »zu ihrem eigenen Vorteil« schulisch zu segregieren.

Die orbánsche Indoktrination greift, sieben Jahre sind eine lange Zeit: 20-jährige lesen am liebsten die Bibel und haben das Ziel »eine gute Ehefrau« zu werden, der Mann muss Geld verdienen und die Entscheidungen treffen - so vernommen mit eigenen Ohren. Und diese Student_innen leben noch mindestens 60 Jahre.

Hass, Straflosigkeit, Absurditäten

Wer noch immer Zweifel hat, dass es sich bei Ungarn um eine Diktatur handelt, sollte sich folgende Punkte vor Augen führen: Es gibt erstens in Ungarn keine unabhängigen Instanzen mehr. Staatspräsident Áder hat das Gesetz gegen die CEU ohne mit der Wimper zu zucken, unterschrieben, auch jenes gegen die NGOs. (6) Der Oberstaatsanwalt Péter Polt ist ebenfalls ein Orbán-Mann. Selbst bei den anrüchigsten Geschäften Fidesz-naher Personen werden niemals Ermittlungen eingeleitet, die Opposition wird hingegen für ein weggeworfenes Kaugummipapier festgesetzt.

Zweitens schürt man seitens der Regierung den Hass in einem fort. Letztes Jahr waren die »Migranten« an allem schuld, nun sind es die NGOs und George Soros. Die landesweite Verbreitung der Hasspolitik erfolgt über die eigenen Presseorgane. Wer diese nicht konsumiert, kriegt die Hetze auf Riesenplakaten vor den Latz geknallt. Selbst in den kleinsten Dörfern hängen diese Schilder - zum Beispiel im letzten Sommer jene mit der Botschaft, dass »Migranten« europäische Frauen vergewaltigen würden. Später kolportierten die regierungsnahen Medien, dass die EU mehrere hunderttausend Flüchtlinge in Ungarn zwangsansiedeln wolle. (7) Der stellvertretende Fidesz-Vorsitzende Szilárd Németh ist das Gesicht dieser Hasspolitik, er spricht die Verschwörungstheorien offen und hetzerisch in die Kamera. (8) Manchmal improvisiert er auch und sagt Dinge wie: »Die einzige Aufgabe der Frau ist es, Kinder zu gebären«. Und bei aller Hetze gegen Flüchtlinge werden gleichzeitig Aufenthaltsberechtigungen an jeden verkauft, der oder die genügend Geld hat.

Drittens sind bereits fast alle Presseorgane in der Hand der Fidesz oder eines ihrer Oligarchen, die mithilfe staatlicher Gelder beziehungsweise vermittels von Bauaufträgen und Agrarland protektioniert werden. Die wenigen oppositionellen Medien, die es noch gibt, werden schikaniert. Stammlokale der Budapester Oppositionellenszene und Treffpunkte regierungskritischer Medienleute werden kurzerhand zugesperrt, wie vor kurzem das Aurora. Es war nicht das erste dieser Art.

Viertens: Die »Volksvertreter« haben offensichtlich große Angst vor den Wähler_innen. Auf Fragen der Presse antworten Fidesz-Parlamentarier grundsätzlich nicht, hohe Funktionäre werden von der ungarischen Antiterroreinheit TEK geschützt, ihre Häuser stehen unter Dauerüberwachung. Auch hat gerade ein Gesetz das Parlament passiert, das die Grundlage zu einer massiv verstärkten Überwachung aller ungarischen Staatsbürger_innen bereitstellt.

Gesetze, als fünftes Beispiel, gelten in der Regel übrigens nur für andere, für Orbán und seine »Freunderlpartie« hingegen nicht. Es wurden Gesetze zur politischen Werbung oder zu NGOs beschlossen, die sich nur auf die Opposition beziehen. Rückwirkend wurden Gesetze erlassen, mit denen alle privaten Pensionsgelder »gerettet« wurden. (9)

Und neben all dem gießt man den eigenen schlechten Geschmack, die eigene Megalomanie, in Beton und will um jeden Preis eine Welthauptstadt Budapest errichten. Selbst, wenn dafür das berühmte Stadtwäldchen abgeholzt werden muss. Darüber hinaus wird ein Weltraummuseum an der ukrainischen Grenze gebaut, im Nordosten Ungarns soll die längste gläserne Brücke der Welt errichtet werden und an der Autobahn eine Husarenstatue mit zwölf Metern Höhe. (10) An jedem Misthaufen baut man ein Stadion mit beheiztem Rasen, weil Viktor Orbán doch so gerne Profifußballer geworden wäre. Kirchenrenovierungen in der Slowakei und im Libanon werden gesponsort, kroatische Fußballvereine erhalten ungarisches Steuergeld. Ins Gesundheitssystem wird hingegen kein Fillér investiert, in die Bildung ebensowenig.

Was auch immer es noch zu berichten gäbe: Das meiste klingt unglaublich, wenn man es im Westen hört. Nur hoffentlich wird diese Ignoranz gegenüber Orbán, der ja inzwischen seine Nachahmer gefunden hat, und dieser Kuschelkurs gegenüber den Genies des Karpatenbeckens all jenen, die ihn fahren, nicht irgendwann mit einem ordentlichen Rumms auf den Kopf fallen.

Clemens Prinz schreibt für Pusztastranger.

Anmerkungen

1) Mit Gerrymandering bezeichnet man die absichtliche, dem Stimmgewinn dienende Manipulation der Grenzen von Wahlkreisen bei einem Mehrheitswahlsystem.

2) siehe Die Presse vom 24. Oktober 2016.

3) Der Streit zwischen »Urbanen« und »Volkstümlern« währt etwa seit dem ersten Weltkrieg.

4) siehe hvg.hu vom 5. Juli 2017.

5) Zwischen 2010 und 2015 sollen bis zu 800.000 Ungar_innen das Land verlassen haben.

6) Nichtregierungsorganisationen in Ungarn, die nicht mit der Fidesz in Verbindung stehen und aus dem Ausland Geld erhalten, stehen unter scharfer Beobachtung. Das Gesetz ähnelt sehr dem Erlass von Wladimir Putin aus dem Jahr 2012 gegen »ausländische Agenten«, mit dem seitdem in Russland reihenweise NGOs schikaniert und angegriffen wurden.

7) Auf einem Plakat der Kampagne stand: »Brüssel will eine Stadt voller Migranten in Ungarn ansiedeln.«

8) »Diese Organisationen müssen mit allen uns zur Verfügung stehenden Mitteln zurückgedrängt und hinausgefegt werden.«

9) Kurz nach Orbáns Machtantritt wurden die privaten Pensionsersparnisse von drei Millionen Ungar_innen mit der Begründung zwangsverstaatlicht, die privaten Rentenkassen würden das Geld der Bürger eh nur verspekulieren.

10) Der Husar symbolisiert in Ungarn so etwas wie das Männlichkeitsideal. Außerdem taucht er ständig in der Volkskunst auf, bzw. singt Viktor Orbán mit Vorliebe das Volkslied von den Fehérvári Huszárok (Stuhlweißenburger Husaren).


* In der Printausgabe steht fälscherlicherweise, dass Kaczynski das Regierungsoberhaupt Polens sei.