Eine vermeidbare Tragödie
International Der Brand des Grenfell Tower in London zeigt das tödliche Desinteresse an den Rechten der Armen
Von Irene Schrieder
In den frühen Morgenstunden des 14. Juni 2017 brannte das 24-stöckige Wohnhaus Grenfell Tower in Nordwest-London aus. Selbst wenn man die - von Überlebenden und Augenzeug_inen bezweifelte - Opferzahl von »mindestens 80« zugrunde legt, handelt es sich um die größte Brandkatastrophe in Friedenszeiten in Großbritannien seit dem Großen Feuer in London 1666.
In einem Bericht der Londoner Aktionsgruppe Architects for Social Housing wird erklärt, wieso ein Feuer, das kurz vor ein Uhr morgens in einer Küche des 4. Stockwerks ausbrach, sich zu einem flammenden Inferno entwickelte: Die erst im Jahr zuvor im Rahmen umfangreicher Renovierungsarbeiten als Regenschutz angebrachte Fassadenverkleidung brannte. Diese Verkleidung bestand aus zwei dünnen Aluminiumfolien, mit einer Füllung aus Polyethylen dazwischen. Polyethylen schmilzt bei wenig über 100 Grad Celsius und brennt. »Es ist im Wesentlichen eine Kerze zwischen zwei Metallfolien«, sagte der Brandsicherheitsexperte Arnold Tarling in einem CBSnews-Interview.
Vergebliche Warnungen
Diese Verkleidung war an Wärmedämmplatten befestigt, wobei zwischen Dämmung und Verkleidung ein fünf Zentimeter breiter Belüftungsspalt blieb, in dem sich Flammen und Rauch ausbreiteten. Um die insgesamt zehn vertikalen Betonsäulen, welche die gesamte Höhe des Hauses entlang ragen, war der Spalt noch deutlich breiter. So entstand ein Schlot, in dem der Brand nach oben gezogen wurde: Es dauerte nur 15 Minuten, bis das Feuer vom 4. Stock bis ganz nach oben, über 60 Meter hoch, gelangte - unerreichbar für die 32 Meter langen Leitern der Londoner Feuerwehr.
Die neue Fassade überbrückte auch die baulichen Schranken, die ein Ausbreiten des Feuers hätten verhindern sollen. Grenfell Tower besaß neben zwei im Brandfall abgeschalteten Fahrstühlen nur eine einzige, lediglich etwa einen Meter breite Fluchttreppe im Inneren des Hauses. Zu einer schnellen Evakuierung war die Treppe völlig ungeeignet, zumal sie auch einziger Weg für die Feuerwehr war. Das Sicherheitskonzept für den Brandfall sah vor, dass durch die Konstruktion des Hauses ein Feuer mindestens eine halbe Stunde auf die jeweilige Wohnung beschränkt bliebe - hinreichend Zeit für die Feuerwehr, es zu löschen. Deshalb galt die sogenannte »Stay Put«-Anweisung: im Brandfall in der Wohnung zu bleiben und das Haus nur zu verlassen, wenn es in der eigenen Wohnung brannte.
»Diese Tragödie war völlig vermeidbar«, meint der Sicherheitsexperte Tarling: »Die Leute, die verantwortlich sind, sind entweder die Politiker oder ihre Berater.« Er nennt zwei Bereiche, in denen Feuerschutzexpert_innen seit Jahren vergeblich mahnten, die Gesetze zu ändern: für den Einbau von Sprinkleranlagen - Grenfell Tower hatte keine - sowie gegen die Verwendung leicht entflamm- und brennbaren Materials im Außenbereich von Hochhäusern.
Wie ein Report der BBC berichtete, kommen zahlreiche Untersuchungen nach Bränden mit Todesfolge im United Kingdom (UK) zu dem Schluss, dass Sprinkler Leben retten; sie raten, den Einbau von Sprinkleranlagen nicht nur in Neubauten, sondern auch ihre Nachrüstung in alten Hochhäusern verpflichtend zu machen. Darauf angesprochen, sagte der damalige Wohnungsbauminister Brandon Lewis am 6. Februar 2014 im Parlament: »Wir glauben, dass die Feuerindustrie dafür verantwortlich ist, eher als die Regierung, ihre Sprinklersysteme effektiv an ihre Kunden zu vermarkten und eine weitere Verbreitung zu fördern.«
Vier Jahre nach einem Hochhausbrand im Lakanal House in London im Jahre 2009, bei dem sich der Brand über die Fassade in mehrere Stockwerke hin ausgebreitet hatte und sechs Menschen gestorben waren, stellte der eingesetzte Untersuchungsausschuss fest, dass es praktisch keine Einschränkungen für die Entflammbarkeit und Brennbarkeit von Fassadenmaterialien gibt. Der zuständige Ministerialrat Brian Martin rechtfertigte dies mit der Begründung, eine Vorschrift, dass die Fassade eines Hauses nicht brennbar sein dürfe, »würde die Wahl der Materialien stark einschränken«, und verstieg sich zu Unsinn wie: »Wenn man es komplett verhindern wollte, dass Feuer sich zurück in einem Gebäude ausbreitet, dann müsste die gesamte Außenhülle feuerresistent sein. Dann wäre es nicht mehr möglich, Fenster in einem Wohnblock zu haben.«
Der Report zum Brand im Lakanal House empfahl dringend, die baulichen Vorschriften zur Feuersicherheit zu überarbeiten. Im März 2017 kritisierte die Website Fire Risk Management, dass immer noch nichts geschehen sei, dass 4.000 Hochhäuser immer noch denselben unzureichenden Regulierungen unterlägen wie die, die den Brand im Lakanal Haus ermöglicht hätten, und dass die Regierung sich weigere, ein Datum für die geforderte Überarbeitung zu nennen.
Im United Kingdom ist es erklärtes Ziel der Regierungen, Unternehmen vor Kosten durch »überflüssige« Regulierung zu bewahren. 2010 wurde als offizielle Regierungspolitik das sogenannte »1 in, 1 out«-Prinzip eingeführt, das 2013 durch »1 in, 2 out« ersetzt wurde: Für jedes Pfund, das eine neue Vorschrift Unternehmen kosten würde, sollten zwei Pfund durch Streichen anderer Regulierungen gespart werden. Wie der Guardian berichtet, trafen sich am Tag des Brandes von Grenfell Tower Mitglieder einer Gruppierung namens Red Tape Initiative, bestehend aus vorwiegend rechten Politiker_innen und Wirtschaftvertreter_innen, um zu diskutieren, wo es Potenzial zur Lockerung von Sicherheitsvorschriften im Wohnungsbau gebe, sobald das Vereinigte Königreich aus der EU ausgetreten sei.
Geiz im reichsten Bezirk
Doch nicht nur dem Gesetzgeber waren die Interessen der Wirtschaft wichtiger als Menschenleben, sondern auch der lokalen Gemeindevertretung des Royal Borough of Kensington and Chelsea (RBKC), sowie des für die Verwaltung der 10.000 Wohnhäuser des Sozialen Wohnungsbaus im RBKC zuständigen Unternehmens, der Kensington and Chelsea Tenant Management Organization (KCTMO).
Wie die Medien berichteten, wurde von der beauftragten Firma Arconic eine feuerresistentere Version der Fassadenverkleidung angeboten, die pro Quadratmeter gerade mal zwei Pfund mehr gekostet hätte, etwa 5.000 Pfund insgesamt, ein halbes Promille der Zehn-Millionen-Renovierung. Der Einbau von Sprinklern hätte ganze 200.000 Pfund extra gekostet.
Die Knauserigkeit im reichsten Regierungsbezirk des UK hat Methode. Grenfell Tower und Umgebung sind ein Reststück sozialen Wohnungsbaus in einer Gegend, die, gerade einmal sechs Kilometer von Buckingham Palace entfernt, zur teuersten im Lande geworden ist und »Monaco of Britain« genannt wird. Hier leben die millionenschweren Executives von Banken und Versicherungen, hier haben saudische Prinzen ihre Drittresidenzen und milliardenschwere ukrainische Oligarchen ihr Anlageobjekt gefunden. An die 2.000 Luxusresidenzen in Kensington und Chelsea stehen leer, weil sie lediglich als Anlage-, Spekulations- und Geldwäscheobjekt dienen.
Wo der Quadratmeter Wohnraum im Durchschnitt 12.000 Pfund kostet und die Miete für eine Zweizimmerwohnung auf dem freien Markt bei 2.400 Pfund im Monat anfängt, da stellt sich der unternehmerisch denkende Lokalpolitiker die Frage, ob das Grundstück nicht lukrativer verwendet werden kann als durch sozialen Wohnungbau. »A home for everybody?« fragt Councillor (Gemeinderat) Rock Feilding-Mellen, Sohn einer Adelsfamilie mit fürstlichen Gütern, in der Council-Zeitschrift im Herbst 2013 angesichts der Tatsache, dass immer mehr Menschen im Borough (Gemeinde, Bezirk) keinen festen Wohnsitz mehr haben. »Weiter weg ziehen zu müssen von Freunden, Verwandten und guten Schulen kann sicherlich hart für Familien sein; aber das Gegenargument ist, dass die Mehrheit der Leute im Land nur dort leben können, wo sie es sich leisten können. Es gibt keinen Grund, weshalb das anders sein sollte für Menschen, die von staatlichen Zuwendungen abhängen. Wir versuchen, Menschen von der Erwartung abzubringen, in erstklassiger Lage in London untergebracht zu werden.«
Dass viele derjenigen im Borough, die in Zeitunterkünften leben, das infolge eines »Decanting« genannten Prozesses tun, verschweigt der stellvertretende Gemeinderatsvorsitzende dabei. Dekantieren, abgießen bedeutet: Menschen wird gekündigt, oder man zwingt sie, ihre Eigentumswohnungen zu verkaufen, damit ein Gebäude renoviert werden kann. Nach Abschluss der Renovierungsarbeiten sind Kaufpreis oder Mieten dann so hoch, dass die bisherigen Bewohner_innen es sich nicht mehr leisten können, dort zu leben. Er verschweigt auch, dass viele die staatlichen Zuschüsse nur brauchen, weil die Mieten unerschwinglich geworden sind.
»Ein Land, das seine Armen ermordet«
Entsprechend lassen Council und Tenant Management Organization (Mieterverwaltungsorganisation) ihre Mieter_innen spüren, dass sie eigentlich unerwünscht sind. Etwa indem man eine öffentliche Leihbücherei schließt und das Gebäude der angrenzenden teuren Privatschule zur Verfügung stellt. Oder indem man, wie bei Grenfell Tower, entgegen Londoner Richtlinien, die Grünanlagen mit Baumbestand unter Schutz stellen, den zu dem Hochhaus gehörenden Park planiert und darauf eine Schule baut. Und indem man bei Baumaßnahmen spart aus Prinzip - wer in Sozialwohnungen des RBKC wohnt, für den ist das Billigste gut genug.
Die aus Protest gegen die Vernichtung ihres Parks 2010 gegründete Grenfell Action Group hatte in zahlreichen Schreiben an Verantwortliche und in Blogbeiträgen auf katastrophale Zustände beim Brandschutz hingewiesen: mangelhafte Isolierung der Stromleitungen, unzureichend gesicherte Gasleitungen in Treppenhaus und Fluren, zugeparkte Feuerwege, abgelaufene Feuerlöscher, nicht funktionierender Feueralarm, nicht funktionierende Notbeleuchtung im Treppenhaus, der Ersatz von urspünglich geplanten Materialien beim Umbau durch minderwertige - allgemeiner Pfusch bei der Renovierung.
Die Übereinstimmung dieser Warnungen mit den Beschreibungen von Überlebenden, Augenzeug_innen und Feuerwehr über die Zustände in der Brandnacht machen gruseln: Menschen, die im »Stay put«-Prinzip vergeblich auf Rettung warten; andere, die den Eingang in das Treppenhaus nicht erreichen können, weil das Feuer den Zugang versperrt; brennende Gase, die die Decke des Flurs entlang wabern; innerhalb kurzer Zeit beißender Qualm im Treppenhaus ab dem 4. Stock aufwärts; Qualm, der durch die geschlossenen neuen Fenster in die Wohnungen dringt; Feuerwehrautos, die die andere Seite des Gebäudes erst mit erheblicher Verspätung erreichen, weil parkende Autos den Weg versperren - und dass nach offizieller Auskunft der Feuerwehr der Brand erst in den frühen Morgendstunden des Folgetages gelöscht werden konnte, nachdem man eine gebrochene Gasleitung isoliert und abgeklemmt hatte.
Die Zustände ähneln denen, die Friedrich Engels in seinem 1845 veröffentlichten Werk »Die Lage der arbeitenden Klasse in England« schilderte: »Wenn die Gesellschaft Hunderte von Proletariern in eine solche Lage versetzt, dass sie notwendig einem vorzeitigen, unnatürlichen Tode verfallen, einem Tode, der ebenso gewaltsam ist wie der Tod durchs Schwert oder die Kugel, ... so ist das ebensogut Mord wie die Tat des einzelnen.« Die 2010 gegründete Grenfell Action Group zitierte am 21. Juni 2017 diesen Satz in ihrem Blog und fügte hinzu: »Über 170 Jahre später ist Britannien immer noch ein Land, das seine Armen ermordet.«
Irene Schrieder wohnt in Aschaffenburg. Sie beschäftigt sich u.a. mit englischer Sozialpolitik.