Zerstörung durch Investition
International Nach den Militäroperationen setzt der türkische Staat seinen Krieg gegen die kurdische Bevölkerung mit anderen Mitteln fort
Von Ercan Ayboga
Als sich 2011 in Diyarbakir eine starke Initiative bildete, um die Altstadt, ihre Festung und die anliegenden Hevselgärten besser zu schützen, unterstützte überraschenderweise die türkische Regierung diese Initiative. Nach langer Vorbereitung wurde am 4. Juli 2015 die »Festung von Diyarbakir und Kulturlandschaft Hevselgärten« in die Liste des UNESCO-Welterbes aufgenommen. Die Freude über diesen Erfolg in und um Diyarbakir war sehr groß.
Heute sind im Stadtteil Surici 89 denkmalgeschützte Bauwerke komplett zerstört, weitere 81 sind teilweise zerstört oder ernsthaft beschädigt. Das entspricht 29 Prozent aller Denkmäler von Sur. Seit zwei Jahren führt die türkische Regierung Krieg gegen die Kurd_innen. Auch wenn offiziell die Militäroperationen am 10. März 2016 abgeschlossen wurden, gleicht Diyarbakir seitdem einer belagerten Stadt. Die türkische Regierung plante nie, die Menschen zurückkehren zu lassen, sondern wollte Suriçi ein für alle Mal widerstandsunfähig machen. (ak 620) Daher wurde zunächst die Ausgangssperre über die sechs Stadtteile im Ostteil von Suriçi aufrechterhalten; kurz darauf fiel der Beschluss, die gesamte Altstadt, einschließlich aller Moscheen und Kirchen, zu enteignen. Die Proteste dagegen blieben schwach.
Ziel ist nicht nur die Zerschlagung der bestehenden politischen Strukturen, sondern auch, dafür zu sorgen, dass in Zukunft nie wieder eine breite Masse der Bevölkerung aufständig werden wird. Dafür lässt die Regierung die Altstadt von Diyarbakir (kurdisch: Amed), Sirnak und Nusaybin zerstören und forciert die Neustrukturierung der Lebensverhältnisse. Mittlerweile ist die Enteignung der Bewohner_innen im Ostteil der Altstadt weitgehend abgeschlossen. Die Hausbesitzer_innen wurden mit geringen Beträgen abgespeist, die Mieter_innen gingen ganz leer aus. Im Mai diesen Jahres begann die Vertreibung von 500 Familien aus den südwestlichen Stadtteilen Lalebey und Ali Pasa. Damit wird der Angriff auf den Westen von Surici ausgeweitet.
Suriçi: vom Welterbe zur Zerstörung
Der türkische Staat unterdrückt die Kurd_innen jedoch auch, indem er ihre Kultur- und Naturgüter zerstört. Die Regierung nutzt die gesteigerte Repression, um Energie- und Infrastrukturprojekte zu vollenden, die wegen jahrelanger Proteste stagnierten. Neben Bergbau sowie Wohn- und Geschäftsbauten in Städten betrifft das auch die Talsperren beim Ilisu-Staudamm in Hasankeyf. Zwischen den Entwicklungen in Hasankeyf und der Altstadt von Diyarbakir gibt es dahingehend zahlreiche Parallelen.
Am 24. Juli 2015 beendete die türkische Regierung einseitig nach zweieinhalb Jahren den Waffenstillstand mit der Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) und ging gegen die Guerilla vor. Hunderte kurdische Aktivist_innen wurden sofort festgenommen. Wenige Wochen später errichteten politisch organisierte Jugendliche in mehreren Städten Barrikaden, ab Anfang September 2015 begannen die kämpferischen Auseinandersetzungen auch in Diyarbakir. Mit den Wellen von 24-stündigen Ausgangssperren und anschließenden Polizeioperationen wurden die Angriffe härter, aber auch der Widerstand wuchs. Am 2. Dezember 2015 begann eine bis heute andauernde Ausgangssperre, sie wurde nur am 11. Dezember 2015 für knapp einen Tag unterbrochen, die zu einer Massenflucht aus dem betroffenen Ostteil von Suriçi führte. Dann griff der Staat wie auch in den Städten Cizre und Silopi mit Militärkräften, Panzern, Mörsern und anderen schweren Militärwaffen an.
Neustrukturierung der Lebensverhältnisse
Im Ostteil von Suriçi bombte sich der türkische Staat im wahrsten Sinne des Wortes seinen Weg durch die engen Gassen frei. Proteste außerhalb der Altstadt wurden brutal unterdrückt und elf Jugendliche gezielt ermordet - außerdem ist der Staat für den Tod von 25 Zivilist_innen in der Altstadt verantwortlich.
Ein Satellitenphoto, das die Senatsverwaltung in Auftrag gab, zeigte im Mai 2016 das Ausmaß der systematischen Zerstörung: Zehn Hektar wurden komplett dem Erdboden gleichgemacht. Auf an das UNESCO-Welterbekomittee gesendete Berichte über das Ausmaß der Zerstörung folgte keine Reaktion. Die Mitglieder wollten offensichtlich einen Konflikt mit der türkischen Regierung vermeiden. Im August 2016 bewies ein zweites Satellitenphoto, dass die Zerstörung weiterging. Da waren bereits zwanzig Hektar betroffen. Doch nun war der Ausnahmezustand in Kraft, was der Staat zur gewaltvollen Übernahme der Senatsverwaltung von Diyarbakir ausnutzte. Die Co-Bürgermeister_innen waren in Haft und in klassischer Kolonialmanier herrschte ein Zwangsverwalter über die Stadt. (1)
Dass die eigentliche Zerstörung von Suriçi nach dem Ende der Kämpfe durchgeführt wurde, zeigten auch Aufnahmen aus Flugzeugen vom Mai 2017. Etwa 40 bis 45 Hektar waren da bereits dem Erdboden gleichgemacht, was etwa einem Drittel der Altstadt mit mehr als 2.500 Gebäuden entsprach. Durch die Militäroperationen waren schätzungsweise dagegen nur 300 bis 400 Gebäude zerstört und unbewohnbar geworden.
Beim Abtragen von Schutt kam es außerdem zu weiteren Schädigungen an denkmalgeschützten Gebäuden. Die vom Kultusministerium neu eingerichtete Sur-Wissenschaftskommission gab bekannt, dass die PKK Bombenfallen in den Denkmälern systematisch installiert habe, was zur Zerstörung der Denkmäler geführt habe. Beweise dafür ist sie schuldig geblieben.
Mit der Zerstörung von Surici ist das charakteristische Handwerk und die Händlerstruktur verloren gegangen. Die Lebensform und Kultur, die an diesem Ort ununterbrochen für mindestens 4.000 Jahre geherrscht hat, fand ein jähes Ende. Das Interesse der AKP-Regierung begrenzt sich aber nicht auf Surici. Sie hat auch einen alten Plan für das Tigristal im Stadtbereich belebt, dessen Umsetzung zuvor von der Zivilgesellschaft verhindert wurde. Dort sollen große Freizeitanlagen, Geschäfte und Häuser für Reiche gebaut werden. Im März 2017 begannen die Bauarbeiten. Die Bevölkerung wehrt sich dagegen, die Plattform »Nein zur Zerstörung von Sur« unterstützt sie dabei. Der Staat musste daraufhin zwar einen Schritt zurücktreten, aber nach dem Ramadan wurde Mitte Juli 2017 damit begonnen, angrenzende halb zerstörte Gebäude abzureißen.
Hasankeyf: Widerstand gegen einen Mega-Staudamm
Am 12. Mai 2017 wurde in der mindestens 10.000 Jahre alten Siedlung Hasankeyf das Zeynel Bey Mausoleum in ein Gebiet außerhalb des Dorfes versetzt - Grund ist der geplante Ilisu-Stausee. Durch die Versetzung nach zwei Jahren Vorbereitung, Diskussion und Widerstand wird das kontrovers diskutierte Staudamm- und Wasserkraftwerksprojekt wieder in der Öffentlichkeit wahrgenommen.
Seit zwölf Jahren behauptet die türkische Regierung, dass mit der Versetzung von Monumenten und Errichtung eines Archäologie-Parks Hasankeyf gerettet werden würde. (2) Das Projekt gehört zu den weltweit am kontroversesten diskutierten Talsperrenprojekten. Jahrelange Proteste führten 2009 zum Stopp der Finanzierung aus Europa - und das bereits zum zweiten Mal. Die türkische Regierung gab nicht auf und sprang selbst für die Kreditbürgschaften ein, sodass der Bau 2010 beginnen konnte. Doch ab 2013 kam es immer wieder zu Unterbrechungen: Erst stoppte das Verwaltungsgericht das Projekt, weil die Umweltverträglichkeitsprüfung (UVP) fehlte. Drei Monate später änderte sich jedoch die Gesetzeslage. 2014 griff die PKK ein, und alle Arbeiter aus der Umgebung hörten auf, für das Projekt zu arbeiten. Nach fünf Monaten übernahmen andere Firmen mit Arbeiter_innen aus entfernteren Provinzen - dennoch kam es im Juni 2015 zu einem fünf Monate andauernden Streik. Seit Beginn des Jahres 2016 bauen mehrere hundert Arbeiter_innen rund um die Uhr, 300 Milizen und 500 Soldaten sollen die Arbeiten vor Angriffen der PKK schützen.
Das 550 Jahre alte Zeynel Bey Mausoleum gehört zum bekannten Bild von Hasankeyf. Laut Plan der türkischen Regierung sollen mit ihm acht weitere Monumente in Hasankeyf versetzt werden. Weichen soll auch die El-Rizk-Moschee, das zweite hervorstechende Monument von Hasankeyf. Weil türkischen Firmen die Expertise fehlte, konnte die Versetzung nur mit technischer Unterstützung durch das holländische Unternehmen Bresser realisiert werden. Bressers Beteiligung wurde aus Angst vor Protesten lange geheim gehalten - als sie bekannt wurde, richtete die Initiative zur Rettung von Hasankeyf zunächst gemeinsam mit weiteren Gruppen öffentliche Briefe an das Unternehmen. Ende Juni dieses Jahres protestierten ein Dutzend Organisationen bei Rotterdam vor dem Büro. Die Planung der Versetzung und die Beteiligung Bressers an einem Verbrechen gegen das kulturelle Erbe der Menschheit ging trotzdem weiter.
Inzwischen hat die Regierung verkündet, dass zu Beginn des kommenden Jahres endlich gestaut werden solle und der Dammkörper fertig sei. Die Flutung wird seit mehreren Jahren angekündigt. Ohne den Krieg und Staatsterror wäre es weniger einfach gewesen, den lokalen Protest zu unterdrücken: 2015 war der Widerstand noch stärker, seit Sommer 2016 sind Demonstrationen nicht mehr möglich. Auch wenn die Zahl der Aktivist_innen weniger geworden ist, sucht die Kampagne weiterhin Wege, den Bau zu verlangsamen beziehungsweise zu stoppen.
Ercan Ayboga arbeitet in der Stadtverwaltung von Diyarbakir und ist dort für den Denkmalschutz zuständig.
Anmerkungen:
1) Das System der Co-Bürgermeister_innenschaft sah vor, dass jeder Bürgermeisterposten doppelt besetzt wird: von einem Mann und einer Frau. Trotz rechtlicher Hürden wurde dieses Prinzip vor der Zwangsverwaltung in den Kommunen de facto umgesetzt.
2) In ak 349 hieß es 1992 über das Projekt: »Hasankeyf, eine kleine Ortschaft in Türkisch-Kurdistan, wird, sollte der geplante Staudamm im Rahmen des monströsen türkischen GAP-Projekts gebaut werden, in einem Jahrzehnt nur noch eine Stadt am Grunde eines Stausees sein.«