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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 629 / 15.8.2017

Zur Gewaltdebatte

Diskussion Warum uns der Riot öfter begegnen wird und wieso der Insurrektionalismus nicht das Problem ist

Von Jan Ole Arps

Seit den G20-Tagen in Hamburg wird ausdauernd und mit ungewohnter Leidenschaft über Gewalt diskutiert. Nicht nur in der bürgerlichen Öffentlichkeit lässt vor allem die Randale im Schanzenviertel vom Freitagabend das Empörungsbarometer nach oben ausschlagen, auch die Linke streitet darüber, was der Riot zu bedeuten hat. Neben Stimmen, die den Krawall als inhärent politisch würdigten und vor Distanzierung warnten, gab es auch harsche Kritik. Exemplarisch hierfür sind die Texte von Michael Brie (Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Olaf Bernau (Afrique Europe Interact).

Michael Brie wandte sich im neuen deutschland (»Die Ideologie der Namenlosen«, 31.7.17) vornehmlich an die Linkspartei, von der er zunächst forderte, die Entpolitisierung der organisierten Straßenmilitanz als »kriminellen Krawall« zu beenden und die Riot-orientierten autonomen Akteure ernst zu nehmen (sie nicht aus der Linken zu exkommunizieren, sondern als »Fleisch vom eigenen Fleische« zu begreifen). Brie fällte dann aber ein umso vernichtenderes Urteil. Die linke Aufstandsfraktion wolle alle bürgerlichen Vergesellschaftungsformen (Arbeit, Familie, politische Organisationen) zerstören und orientiere auf den Bürgerkrieg. So sei es im wichtigsten theoretischen Grundlagentext dieser Fraktion, der inzwischen zehn Jahre alten Schrift »Der kommende Aufstand« des Unsichtbaren Komitees, beschrieben. Mit ihrem eskalativen Politikstil zwinge sie allen anderen Teilen der »Mosaiklinken« ihr Programm auf. Mittels Rauchzeichen dominiere sie Ereignisse wie 2015 Blockupy in Frankfurt und nun die Proteste in Hamburg. Damit werde »diese eine Gruppe unvermeidlich zum aktuellen Haupthindernis«.

Was sagt die Riotforschung?

Ähnlich Olaf Bernau in der taz (»Ein Bruch tut not«, 15.7.17). Er schreibt, die Anliegen einer gesellschaftlichen Linken würden durch das »militanzfetischistische Spektakel« (im Pingpong mit der Polizei) »in keinster Weise nach vorn gebracht«, und beklagt den leichtfertig in Kauf genommenen »Sympathie- und Vertrauensverlust in benachbarten politischen Milieus«. Das Vorgehen der »militanzfetischistischen Aufstandsfraktion« habe vor allem im Interesse der Polizei gelegen, sei »politisch falsch, ethisch fragwürdig und demokratisch unterirdisch«. Fazit: »Fakt ist, dass hier einige Hundert die Proteste vieler Tausend buchstäblich gekapert haben.« Der Beitrag schließt mit der Aufforderung an die gesellschaftliche Linke, nicht das Bündnis mit »betrunkenen Partydeppen« und »jugendlichen Desperados« zu suchen, sondern den Bruch mit der »wortlos daherkommenden Randale« zu vollziehen.

Nicht nur, dass derartige Bewertungen eines schon im europäischen Vergleich eher harmlosen Krawalls nur durch einen sehr deutschen Wahrnehmungsfilter zustande kommen können - in Frankreich wurden nur eine Woche später, in der Nacht zum Nationalfeiertag am 14. Juli, etwa 900 Autos angezündet, ohne dass es einen großen Aufschrei gegeben hätte. Mit ihrer Reduktion der Gewalt auf Aktionen des »insurrektionalistischen« Spektrums verpassen die Autoren zudem das eigentliche Politikum des Krawalls: dass sich am Freitagabend in Hamburg das Handeln organisierter militanter Gruppen mit dem proletarischer, oft migrantischer Jugendlicher und angetrunkener Partygänger_innen überschnitten hat. Gar nicht in den Sinn kommt ihnen die Frage, inwiefern Riots etwas mit dem ökonomischen Strukturwandel und insofern auch mit der Globalisierung zu tun haben könnte.

Der Marxist und Literaturwissenschaftler Joshua Clover beschreibt Riots in seinem Buch »Riot. Strike. Riot. The New Era of Uprisings« (Verso Books 2016) als Begleiterscheinung der ökonomischen Krise und der wirtschaftlichen Transformation der westlichen Industriegesellschaften. Clover analysiert aktuelle Aufstände in den USA, Frankreich oder Großbritannien nicht als Effekte des Mangels (wie klassische Brotrevolten), sondern als Reaktionen der »Surplus-Bevölkerung« auf ihr Überflüssigwerden im Zuge der Deindustrialisierung. Der Riot findet, anders als der Streik, nicht in der Sphäre der Produktion statt, dort kommen seine Akteure gar nicht zusammen, sondern in der öffentlichen Sphäre, der Sphäre des Konsums bzw. der Zirkulation. Er ist nicht Konfrontation mit den Chefs oder Meistern (oder der Herrschaft des Fließbands), sondern mit der Polizei, die die Surplus-Bevölkerung kontrolliert und drangsaliert, und geht mit Plünderungen, Unordnung und Attacken auf Symbole der Konsumgesellschaft einher: brennende Autos und Geschäfte.

Da sich die Protestoptionen der Deklassierten in den alten Industrienationen stark verschlechtert haben, breitet sich laut Clover der Riot aus. Und weil sich sowohl ökonomische Deklassierung als auch Polizeiarbeit innerhalb einer rassistischen Matrix vollziehen, richtet sich der Riot oft gegen genau diese rassistische Kontrolle und Unterdrückung durch die Polizei oder wird, wie in Baltimore, Tottenham oder Clichy-sous-Bois, von krassen Fällen rassistischer Polizeigewalt ausgelöst. Den »Aufstand« oder überhaupt unkontrollierte Ausbrüche dieser Art beschreibt Clover als eine zeitgenössische Widerstandsform der prekarisierten Bevölkerungsgruppen. Sie als bloße »Gewalt« abzutun, ist ein Manöver, um sich ihrer politischen Implikationen zu entledigen.

Ausgerechnet im Schanzenviertel?

Nun war der Freitagabend in Hamburg kein spontaner Riot, wie ihn Clover vor Augen hat. Initiiert wurden die Barrikaden und die Gegenangriffe auf die Polizei (zu dem Zeitpunkt waren es Gegenangriffe) in der Tat durch organisierte militante Gruppen. Dass aber die Akzeptanz von Militanz gegen die Polizei auch bei Anwohner_innen und Partypublikum groß war und sich zudem zahlreiche oft migrantische Jugendliche in die Randale einschalteten, ist nicht ausschließlich Folge der hemmunglosen Polizeistaatsinszenierung der Vortage. »Ganz Hamburg hasst die Polizei«, die konsensfähigste Parole der Gipfeltage, ist in weit verbreiteten polizeifeindichen Einstellungen verankert.

Für die aus den etwas weniger wohlhabenden Stadtteilen angereisten Beteiligten ist das Schanzenviertel auch nicht »unser Viertel«, wie Andreas Beuth, Versammlungsleiter der Welcome-to-Hell-Demonstration, gegenüber dem NDR formulierte (»aber doch nicht in unserem Viertel!«), sondern der Ort, wo sie sich schon lange keine Wohnung mehr leisten können, an den sie am Wochenende zum Ausgehen fahren. Auch wenn die Steinwürfe nicht dezidiert politisch motiviert waren, ein unpolitisches Spektakel waren sie auch nicht. Viel ist etwa über jene Jungsgruppen gespottet worden, die sich gegenseitig beim Steinewerfen auf die Polizei filmten und die Videos anschließend auf dem Gehweg diskutierten. Doch auch diese Bildproduktion ist politisch. Hier geht es darum, sich als potente Angreifer auf jene symbolische Ordnung in Szene zu setzen, in der man nicht vorgesehen ist. Oder wie Christian Werthschulte in ak 564 mit Blick auf die Riots in England 2011 schrieb: »In einem BBC-Interview ... beschrieben ein paar junge Männer aus Manchester, dass es nicht nur die Aussicht auf Diebesgut war, die sie an den Riots teilnehmen ließ, sondern auch die Chance, ihren Kindern und Enkelkindern davon zu erzählen, wie sie Fensterscheiben und Geschäfte zerstört haben - eine primitive Negation einer Innenstadt, in der sie nur als KonsumentInnen geduldet sind.«

Überlegungen hierzu sucht man in beiden eingangs zitierten Beiträgen vergebens. Sicher räumen Michael Brie und Olaf Bernau ein, dass die Polizeigewalt in den Tagen zuvor die Situation angeheizt hat. Dennoch machen sich beide Autoren einen bürgerlichen Gewaltbegriff zu eigen, der vor allem dann von Gewalt spricht, wenn sie sichtbar und unkontrolliert ausgeübt wird. Die strukturelle Gewalt der kapitalistischen Eigentumsverhältnisse, wie sie sich im mörderischen europäischen Grenzregime oder der Brandruine des Londoner Grenfell Towers materialisiert, lassen sie außen vor. Eine Ahnung davon, dass die Möglichkeit, sich vor Gewalt abzuschotten und sie zu verdrängen, ein Privileg der Mittelklassen ist, schimmert auch nicht durch. Insofern möchte man beiden Autoren ein fröhliches »Check your Privilege« zurufen: Es kann zum Verständnis beitragen, sich Ereignisse wie die Randale in Hamburg einen Augenblick lang als temporäre Umverteilung von Gewalt vorzustellen.

Zurück zum Sinn oder Unsinn von Randale als Aktionsform bestimmter Teile der radikalen Linken. Man muss kein Fan aller militanten Aktionen sein, die in Hamburg passiert sind, um zu erkennen: Die Bilder von den Rauchsäulen, die über der Stadt aufsteigen, haben eine politische und kommunikative Funktion erfüllt, die ganz im Sinne der Gipfelproteste liegt. Der G20-Gipfel sollte die globale kapitalistische Herrschaft zelebrieren, er sollte ein Bild der Unangreifbarkeit und der Macht senden. Diese Inszenierung durch andere Bilder zu durchkreuzen, ist eigentlich das Ziel von Gipfelprotesten. Solange Nachrichten und Bilder Waren sind, kann man einem solchen Gipfel nicht effektiver die Show stehlen als durch Bilder brennender Barrikaden. Wen das stört, der sollte seine Kritik nicht an die Barrikadenbauer richten, sondern an den kapitalistischen Medienmarkt. Insofern ist es komplett verkehrt, wenn Michael Brie schreibt: »Der Gegengipfel und die große bunte und friedliche Demonstration der grenzenlosen Solidarität am 8. Juli wurde durch die Aktionen, die als Krawalle bezeichnet werden, weitgehend um ihre öffentliche Wirkung gebracht. Das Aktionsbündnis der Autonomen hat alle anderen enteignet und beherrscht.«

Rauch und Feuer, Licht und Schatten

Die Rauchsäulen haben die Proteste keinesfalls gekapert, eher im Gegenteil: Im Zusammenspiel mit den Bildern vom Gipfel (meisterhaft der Zusammenschnitt von Rauch- und Randaleszenen mit den G20-Staatschefs, die in der Elbphilharmonie der »Ode an die Freude« lauschten, wie ihn unter anderem n24 präsentierte) haben sie eine bildliche Wahrheit über die Gewalt im Kapitalismus gesendet, die global verstanden wird. Ohne die Rauchsäulen hätte kaum jemand über die Proteste gesprochen, und ganz sicher auch nicht über Gegengipfel und Großdemonstratun. Sie hätten, zumindest in punkto medialer Repräsentation - und damit in Bezug auf ihre globale bildliche Vermittlung - nicht stattgefunden. Zum Warencharakter der Nachrichten gehört auch, dass das Ausmaß der Gewalt auf der Straße wie jedes Mal maßlos übertrieben wurde. Dass die Polizeistatistiken über verletzte Beamte wild zusammengelogen sind, hat sich mittlerweile herumgesprochen - die meisten Medien haben sie zunächst unkommentiert übernommen.

Eine Frage, die bleibt, lautet, welche Schlüsse die hiesige Linke aus dem Hamburger Riot zieht und wie sie ihr Verhältnis zu Gewalt und Militanz bestimmt. Wenn es Rauchsäulen braucht, um mit der Außenwelt zu kommunizieren, wie stellt sie sicher, dass die Feuer nicht auf Wohnhäuser übergreifen? Wenn der Riot eine Aktionsform ist, die uns häufiger begegnen wird, wie hält sie Männerbünde im Zaum, die in unkontrollierbaren Situationen zur Gefahr werden? Was kann sie tun, damit trotz Plünderungen nicht massenhaft Alkohol zirkuliert, der die Dynamik einer solchen Situation massiv zum Schlechteren verändert? Das Chaotische und auch das Bedrohliche wird aus einer Randale nie ganz verschwinden. In Hamburg haben ihr organisierte militante Gruppen aber von Anfang an eine klare Richtung gegeben und teilweise eingegriffen, als sich die Zerstörungswut verselbstständigte.

Zur Auseinandersetzung, die auf Hamburg folgen könnte, gehört auch, aber nicht zentral, die mit insurrektionalistischen Fantasien und den offensichtlichen Grenzen solcher Politikkonzepte, wenn es darum geht, Solidarität zu organisieren oder jenseits spektakulärer Ereignisse handlungsfähig zu werden. Größer als die Gefahr, die vom Insurrektionalismus ausgeht, schien aber in den Tagen nach den Protesten die Gefahr zu sein, dass auch Teile der Linken sich nicht auf eigene Beobachtungen verlassen, sondern den krassen medialen Übertreibungen des Randalegeschehens verfallen und darüber den wirklichen Skandal aus den Augen verlieren: die Bürgerkriegsübungen des Staates und den Einsatz hochgerüsteter Spezialeinheiten in einem Wohnviertel.

Selbst wenn also man zu der Einschätzung kommt, dass der Freitagabend mehr Militanzspektakel als Rache der Erniedrigten war, sollte man sich auch an die schönen und fröhlichen Bilder und Momente erinnern, die mit einer Situation einhergehen, in der die Polizei ein Stadtviertel für eine Weile verlässt: stundenlang autofreie Straßen, ausgelassene Leute, unerwartete Begegnungen, interessante Gespräche. Ein Strohfeuer vielleicht, aber eines, das kurz ein Licht auf jene Bereiche der sozialen Fantasie wirft, die sonst eher im Dunkeln liegen.