»Unsere Aktion hat zum Militarismus beigetragen«
1977 Lutz Taufer über seinen Weg in die RAF, die Besetzung der Deutschen Botschaft in Stockholm und den Kampf gegen Isolationshaft
Interview: Jan Ole Arps
Lutz Taufer, politisiert in der 1968er Bewegung und aktiv im Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg, schloss sich nach dem Tod von Holger Meins der RAF an. Er gehörte zu dem Kommando, das im April 1975 die Deutsche Botschaft in Stockholm besetzte und zwei Geiseln erschoss. Lutz Taufer wurde 1977 zu lebenslanger Haft verurteilt. Nach dem Deutschen Herbst kritisierten er und andere aus der Gruppe der späteren »Celler Häftlinge« die Militarisierung der RAF. Auf den Tag genau 20 Jahre nach seiner Festnahme wurde Lutz Taufer 1995 aus der Haft entlassen. Später übersiedelte er nach Rio de Janeiro, wo er für eine Partnerorganisation des Weltfriedensdienstes im Bereich Berufsbildung und Gemeinwesenentwicklung in mehreren Favelas arbeitete. Heute ist er im Vorstand des Weltfriedensdienstes und lebt in Berlin. In seinem Buch »Über Grenzen« (siehe Kasten) blickt er auf seinen Lebensweg zurück.
Du hast Ende der 1960er Jahre Medizin in Freiburg studiert, bist dann zum Sozialistischen Patientenkollektiv in Heidelberg gegangen. Was war das SPK für dich?
Lutz Taufer: Ich bin aufgewachsen in einer Gesellschaft, die von ehemaligen Nazis geprägt war. Ihr »autoritärer Charakter«, wie ihn Erich Fromm oder Theodor Adorno beschrieben hatten, war ungebrochen. Im Psychiatrischen Landeskrankenhaus, wo ich 1965 ein Praktikum machte, waren zum Beispiel noch zwei Pfleger im Dienst, die bei der Euthanasie mitgemacht hatten. Dazu kamen der Kalte Krieg und das atomare Wettrüsten. Es war eine Gesellschaft, die uns die Luft zum Atmen nahm. Daher der antiautoritäre Impuls. Wir wollten eine andere Gesellschaft aufbauen. Das führte zu Konflikten, nicht nur äußeren, sondern auch inneren, mit unserer eigenen Subjektivität. Im SPK hatten wir die Möglichkeit, diese zu bearbeiten und zwar als politisch denkende Menschen.
Wie ist das SPK entstanden?
Damals entstanden in vielen Ländern antipsychiatrische Bewegungen. Der Ursprung des SPK war ein Konflikt in der Psychiatrischen Polyklinik in Heidelberg. Da gab es Therapiegruppen, in denen Studenten ihre Erfahrungen mit Polizeibrutalität, Konflikte mit dem Elternhaus, ihre Diskriminierung als Lesben und Schwule, den Hass, der ihnen auf den Demonstrationen gegen den Vietnamkrieg entgegenschlug, oder Drogenprobleme bearbeiten wollten. Daraus entstand ein Konflikt, der zur Kündigung eines Arztes, Wolfgang Huber, führte. Seine Patienten solidarisierten sich, so entstand die erste Patientenselbstorganisation in Westdeutschland.
Was waren die Ziele des SPK?
Wir wollten das hierarchische Arzt-Patient-Verhältnis ändern. Außerdem haben wir Krankheit nicht als individuelles Schicksal, sondern als gesellschaftliches Problem begriffen. Ein Symptom, sagten wir, ist ein Protest des Organismus gegen unzumutbare Lebens- und Arbeitsbedingungen, aber ein Protest, der sich gegen den eigenen Organismus richtet. Es kommt darauf an, diesen Widerstand gegen die krankmachenden kapitalistischen Verhältnisse zu richten.
Was hat dich daran begeistert?
Das SPK war eine Gruppe ohne Eintrittshürde, ohne den Nachweis von Marx- und Lenin-Kenntnissen wie bei den damaligen ML-Parteigründungen. Jeder konnte mitmachen: Studenten, Lehrer, Hausfrauen, Arbeiter, Schüler, Trebegänger. Es gab Arbeitskreise, auch theoretische, Marx wurde gelesen, Hegel, Spinoza, Wilhelm Reich, alles, was damals üblich war. Für mich war ausschlaggebend, dass ich nie daran geglaubt habe, dass jemand nach der Lektüre von Marx usw. einen Doppelpunkt macht und danach handelt. In allem Handeln, auch dem scheinbar durch und durch rationalen, schwingen irrationale Momente mit, die nicht bewusst sind oder in denen innere Konflikte verborgen sind - das bearbeiten zu können, war für mich wichtig.
Welche Rolle spielte damals die RAF für euch?
Die frühen RAF-Schriften von 1970 lagen im SPK aus. Damals sagten viele: Endlich wird mal was gemacht. Es gab eine indirekte Parteinahme. Ich habe in den letzten Jahren so viele Leute getroffen die sagten: Ja, ich wäre auch fast zur RAF gegangen. Aber ich glaube, vor der SPK-Zerschlagung gab es niemanden aus dem SPK, der bei der RAF war.
Die »Zukunftsgewissheit«, von der du im Buch sprichst, erhielt nach dem Auseinanderfallen der 1968er Bewegung einen Rückschlag. Mir kommt es so vor, als hätten alle Strömungen, die maoistischen mit ihren Avantgardeparteien ebenso wie die, die den bewaffneten Kampf wählten, ein Instrument gesucht, an das sie die Hoffnung, den Aufbruch weiter aufrechtzuerhalten, knüpfen konnten.
An der Suche, wie der Kampf weitergeführt werden kann, kann ich im Grundsatz nichts Negatives erkennen. Die Frage war wie. Der Punkt war: Wir müssen zum Handeln kommen, das war das starke Bedürfnis. Was außerdem auffällt: Die stärksten bewaffnet kämpfenden Gruppen in den Industrieländern waren die RAF in Deutschland, die Roten Brigaden in Italien und die Japanische Rote Armee. Alles Länder, die faschistisch gewesen waren. Viele, die 1968 erlebt hatten, konnten sich nur schwer vorstellen, in dieser postfaschistischen Gesellschaft zu funktionieren.
Hätte man erkennen können, dass die Revolution nicht vor der Tür steht und man sich auf eine längere Zeit der politischen Auseinandersetzung einstellen muss?
Wir hatten damals eine leninistische Vorstellung im Kopf. Ganz verkürzt: Man besetzt das Postamt, dann hat man die Macht. Aus meiner heutigen Erfahrung, auch der mit der Entwicklungszusammenarbeit in Brasilien, meine ich, dass der Kapitalismus nicht an einem Ort zu finden ist, wo man ihn zerschlagen kann. Man muss ihn überwinden, indem man ökonomische, kulturelle, politische Dynamiken schafft, die attraktiver sind. Auch wenn gravierende Veränderungen sicher nicht ausschließlich friedlich ablaufen, denke ich nicht, dass man sie auf diese Weise herbeizwingen kann.
Auch bei leninistischen Vorstellungen bleibt doch die Frage, aus welcher Position heraus man eine bewaffnete Initiative startet.
Es gab die frische Erfahrung, dass David gegen Goliath siegen kann. In Vietnam zwang eine Bauernarmee die stärkste Militärmaschine der Welt in die Knie. Und in Kuba dauerte es nach der Landung von 21 Guerilleros noch zwei Jahre, bis das Land befreit war. Es gab das Signal, das Undenkbare ist möglich. Das hat auch zu unserer Selbstüberschätzung beigetragen. Das ist einer der Aspekte, die heute kaum zu vermitteln sind.
Zurück zu deinem Weg in die RAF: Nach dem Ende des SPK hast du Gefangenenunterstützung gemacht und warst im Heidelberger Antifolterkomitee aktiv.
Im Juni 1971 wurde das SPK zerschlagen. Ab Mitte 1971 gab es Gefangene aus dem SPK, Mitte 1972 wurde dann die sogenannte Erste Generation der RAF verhaftet. Die Gefangenen kamen in Isolationshaft. Die Anwälte haben erst gar nicht verstanden, was mit denen los ist, denn man kannte die Auswirkungen der Isolationshaft noch nicht. Dann haben die Gefangenen einen ersten Hungerstreik gemacht für gleiche Rechte mit anderen Gefangenen, nichts Revolutionäres. Es gab einen zweiten Hungerstreik, und 1974 musste eine RAF-Gefangene, Astrid Proll, als haft- und verhandlungsunfähig entlassen werden, nachdem sie monatelang in der Justizvollzugsanstalt Köln-Ossendorf im Toten Trakt eingesperrt war. Das war ein Flügel nur für sie, völlig geräuschisoliert, ohne Kontakt zu anderen Menschen. Der menschliche Organismus braucht immer eine bestimmte Bandbreite von Umweltreizen. Wenn es zu viel ist, wird der Mensch krank. Wenn es zu wenig ist, auch.
Beim dritten Hungerstreik, bei dem die RAF-Gefangenen ihre Zusammenlegung forderten, starb im November 1974 Holger Meins.
Holger Meins ist als Hungerstreikender am Beharren der Entscheidungsträger auf einem unmenschlichen Haftregime gestorben. Der Hungerstreik wurde ein paar Wochen später ohne Erfolg abgebrochen. Für uns war das ein klares Zeichen: Die Gefangenen haben alles gegeben, jetzt müssen wir ran.
Was habt ihr unternommen?
Wir hatten vorher schon zu einer Gruppe um Margrit Schiller, Helmut Pohle und einigen anderen Kontakt gehabt, die wurden am 4. Februar 1974 verhaftet. Für die hatten wir - einige Leute, mit denen ich damals aktiv war - Papiere besorgt und Fahrzeuge gemietet. Es war damals überhaupt kein Problem, zu Leuten zu gehen und zu sagen, die brauchen deine Papiere. Die haben viele sofort gegeben, da gab es keine Überredung. Weil diese Gruppe sich offenbar in aufwändige Vorbereitungen vertieft hatte, aber aufflog, bevor sie in Aktion treten konnte, haben wir uns gesagt, wir müssen jetzt schnell handeln. Unsere Überlegung war auch, dass es, sobald der Prozess läuft, noch schwieriger werden würde, die Gefangenen frei zu kriegen. Also haben wir rechts und links alles liegenlassen und sehr zügig auf die Aktion hingearbeitet, mit der wir die Gefangenen befreien wollten.
Hattet ihr überlegt, wie es danach weitergehen könnte?
Nein. Wir haben uns gesagt, das diskutieren wir dann mit den Gefangenen, die wir befreit haben. Wir sind dann als Kommando Holger Meins nach Stockholm und haben dort die Aktion gemacht.
Ihr wart sechs Leute: du, Karl-Heinz-Dellwo, Hanna Krabbe, Bernd Rössner, Ulrlich Wessel und Siegfried Hausner. Ihr habt das Gebäude der deutschen Botschaft gestürmt, zwölf Mitarbeiter als Geiseln genommen und euch im dritten Stock verbarrikadiert. Als die schwedische Polizei in die Botschaft vorrückte, erschosst ihr eine Geisel, den Militärattaché Andreas von Mirbach. Daraufhin zog sich die Polizei aus dem Gebäude zurück. Ihr hattet in eurer Kommandoerklärung die Freilassung von 26 Gefangenen gefordert und damit gedroht, jede Stunde eine Geisel zu erschießen, wenn eure Forderung nicht erfüllt würde. Am Abend kam dann recht schnell die Entscheidung der Bundesregierung, dass sie nicht auf eure Forderungen eingehen würde. Ihr hieltet euer Ultimatum aufrecht. Hattet ihr einkalkuliert, was ihr dann tun könntet?
Also, das ist jetzt 42 Jahre her. Natürlich vergisst man da vieles. Oder man verdrängt auch vieles. Aber ich würde sagen, dass wir schlecht vorbereitet waren, dass wir die Sache nicht bis zum Ende durchdacht haben. Man sollte eigentlich meinen, wenn es um Menschenleben geht, dass das bis ins Letzte durchdacht ist. Aber es ist in der Guerilla nicht so. Wir hatten uns selbst unter Zugzwang gesetzt mit der Drohung, Geiseln zu erschießen. Und dann musst du das machen, oder es ist eine Niederlage. Wir hatten zwei Optionen: Entweder kommen die Gefangenen raus, oder wir sprengen uns in die Luft.
Die schwedische Regierung hat euch noch ein Angebot gemacht, über euren Abzug zu verhandeln. War das für euch keine Option?
Nein.
Nach Ablauf des Ultimatums erschosst ihr eine zweite Geisel, den Wirtschaftsattaché Heinz Hillegaart. Dann habt ihr entschieden, so schreibst du, keine weitere Geisel zu erschießen. Ihr hattet auch telefonisch angekündigt, drei Mitarbeiterinnen freizulassen.
Ja, die kamen auch raus.
Dann ist der Sprengsatz hochgegangen?
Ja, das ist die Frage, was dann passiert ist. Bis vor kurzem habe ich geglaubt, dass die Sprengung ein Versehen von Siegfried Hausner war. Aber ich glaube das nicht mehr. Die schwedische Polizei hatte den Plan, Gas in die Lüftungsanlage zu leiten. Ich glaube, dass sie das tatsächlich gemacht haben.
Was hattet ihr vor der Detonation gedacht, wie es weitergehen sollte?
Wir bereiteten uns auf die Stürmung vor. Siegfried hatte die Zündung für die Sprengsätze, Ulrich Wessel hatte eine Handgranate, aus der er den Sicherungssplint rausgezogen hatte. Er wusste, wenn sie ihm aus der Hand fällt, geht sie los. Es war schon eine ziemliche Endzeitstimmung. Nach der Explosion trugen Siegfried und ich den verletzten Bernd Rössner aus dem Gebäude. Ich erinnere mich, als wäre es gestern gewesen, dass Siegfried hinten in seinen Klamotten ein handtellergroßes Loch hatte, die Ränder glimmten noch. Aber mehr eigentlich nicht. Hanna Krabbe, Bernd Rösner, Karl-Heinz Dellwo und ich wurden kurz nach Mitternacht festgenommen. Siegfried Hausner wurde später festgenommen, wo und in welchem Zustand, ist nicht klar. Er ist dann nach dem Transport nach Stuttgart-Stammheim auf der dortigen Krankenstation gestorben, angeblich an seinen Verbrennungen.
Im Buch beschreibst du, wie du die Nachricht von der Lorenz-Entführung (1) ein paar Wochen zuvor hörtest und dich fragtest: Werden die so einem Austausch wohl nochmal zustimmen? Trotzdem gingt ihr davon aus, dass die Bundesregierung auf eure Forderungen eingehen würde?
Wir waren natürlich nicht sicher, aber wenn wir dafür keine guten Chance gesehen hätten, hätten wir es nicht gemacht. Aber schon die Geiselerschießungen waren auch ein Stückweit Verzweiflungstaten.
Mir fällt es schwer, diese Aktion zu verstehen. Als Anschlagsziel eine Botschaft irgendwo zu wählen und das Botschaftspersonal, das man dort antrifft, als Geiseln zu nehmen und sie mit dem Tod zu bedrohen, wirkt sehr wahllos. Näher an der Landshut- als an der Schleyer-Entführung. Wie kam es überhaupt zu der Idee, eine solche Aktion zu machen?
In dieser Aktion steckt ein gehöriges Maß an Nebulosität, Irrationalität, von heute betrachtet. Es kam dazu, weil - nicht nur, aber auch - die Jahre davor, nach der Verhaftung der Gründungsgeneration, nichts gelaufen ist. Wir wollten schnell handeln. Ein Kidnapping wie das von Schleyer braucht endlos viel Vorbereitung, eine Riesenlogistik. Heute würde ich sagen, wir haben uns überschätzt. 26 Gefangene standen auf unserer Liste, viel zu viele. In der Bundesregierung gab es zwar unterschiedliche Auffassungen, wie man reagieren soll. Genscher, der damals Außenminister war, sagte, Menschenleben gehen vor. Aber diese Bedenken wurden beiseite geschoben. Und es gab damals solche Aktionen auch in anderen Ländern. Entführungen, Botschaftsbesetzungen, Palästinenser haben das mehrfach gemacht. (2) Auf diesen Weg haben wir uns auch begeben.
Du schreibst anlässlich der Landshut-Entführung, die Ermordung der Geisel beschädigte irreparabel die Hoffnung auf eine bessere Welt. Dieser Gedanke hätte doch auch im Vorfeld von Stockholm da sein können.
Ja, richtig.
Aber es gab keine Diskussion darüber?
Soweit ich mich erinnere nicht. Das waren für uns Vertreter des Systems: Diplomaten, Auslandsvertreter. Unser Ziel waren nicht die Botschaftsangehörigen, unser Ziel war die Bundesregierung. Viel mehr kann ich dazu nicht sagen.
Wie denkst du heute darüber?
Man kann dieses Irrationale mit Worten nicht fassen. Damals gab es ein hierarchisches Bild, wo die Genossen im Untergrund ganz oben standen. Das heißt, mit unserer Aktion in Stockholm haben wir Maßstäbe gesetzt. Und ich denke, das waren Maßstäbe, die zum Militarismus der kommenden Jahre beigetragen haben. Im Gefängnis - Karl-Heinz und ich waren ja von 1982 an im Hochsicherheitstrakt in Celle zusammen - haben wir nie über Stockholm gesprochen. Karl-Heinz meinte, nach der Entlassung hätte er das mal angesprochen, da hätte ich abgewehrt: Lass uns in die Zukunft blicken und so weiter. Das kann durchaus sein.
Warum?
Es war uns nicht in die Wiege gelegt, andere Menschen umzubringen. Wenn darüber bis heute nicht gesprochen wird, dann auch, weil das sehr weh tut. Wir haben dann zwar die Landshut-Entführung kritisiert und später die Erschießung des US-Soldaten Edward Pimental 1985, aber die Stockholm-Aktion, die am Beginn dieser militaristischen Entwicklung stand, haben wir nicht kritisiert. Ich habe noch einige Jahre später in einem Brief geschrieben, Stockholm sei »militärisch eine Niederlage, aber politisch ein Sieg« gewesen.
Ab 1972 stand die Frage der Gefangenenbefreiung im Vordergrund. Ab dem Moment wurde die Auseinandersetzung zu einem Zweikampf zwischen RAF und Staat, der Kontakt zu anderen sozialen Kämpfen trat in den Hintergrund. Hätte es Anfang der 1970er Jahre eine andere Entwicklung der RAF geben können?
Dass es keinen Anknüpfungspunkt für Außenstehende mehr gab, würde ich so nicht sagen. Als Holger Meins starb, demonstrierten in Berlin Zehntausend. Auch nach dem Tod der Gefangenen in Stammheim bestand ein wichtiges Interesse über die Linke hinaus, ob die umgebracht worden sind oder nicht. Gleichzeitig wurde diese Frage in unserem Umfeld zur entscheidenden Frage, zum Lackmustest.
Der AK hat damals auch so getitelt: Wir glauben nicht an Selbstmord.
Ich denke, nach dem Tod der Führungsriege hätte man diskutieren müssen, wie es weitergeht. Das ist nicht gemacht worden. Gefangenenbefreiung gehörte schon immer zur Praxis revolutionärer Gruppen dazu. Aber man hat sich zehn Jahre nur darauf konzentriert und auch keine Texte mehr produziert - Text produzieren heißt ja diskutieren, analysieren. Natürlich wäre es nicht einfach gewesen, etwas zu diskutieren, aber wir hätten uns das vornehmen müssen. Aber dass wir gesagt haben, der Staat hat die Stammheimer Gefangenen ermordet, hat uns gereicht als Legitimation. Das war ein Fehler. Wir hätten uns mit den neuen Bewegungen, die entstanden waren, mit der Anti-AKW-Bewegung, der Frauenbewegung etc., auseinandersetzen müssen.
Wie hast du die Zeit des Deutschen Herbstes erlebt?
Es gab damals die Zusammenlegung in Kleingruppen. Die Justiz wollte nicht nochmal das Risiko eingehen, jemanden als haftunfähig entlassen zu müssen, schon gar nicht Andreas Baader oder Ulrike Meinhof. Deshalb haben sie diese Kleingruppenisolation zugelassen. Auch bei uns Stockholmern. Hanna, Bernd, Karl-Heinz und ich waren in Köln-Ossendorf nebeneinander auf den Zellen. Wir konnten uns in den verhandlungsfreien Tagen treffen. Wenige Stunden nach der Schleyer-Entführung wurde die Kontaktsperre verhängt. Da waren wir komplett isoliert. Keine Zeitung mehr, keine Briefe, keine Anwaltsbesuche, nichts. Sechs Wochen waren wir abgeschnitten von der Welt. Auch von Seiten der Schließer war die Atmosphäre sehr aggressiv. Ich habe mit allem Möglichen gerechnet.
Der Deutsche Herbst war nicht nur für die RAF ein Einschnitt, sondern für die Linke in Westdeutschland insgesamt, ein Trauma. Was habt ihr davon mitbekommen?
Wahrscheinlich haben wir das nicht so ernst genommen, weil es da nicht um Leben und Tod ging. Ich habe die Dimension, die das 1977/78 für die Linke hatte, erst viel später begriffen. Auch wenn wir nach der Landshut-Entführung diskutiert haben, auch in Briefen mit Leuten draußen.
Wäre nicht nach 1977 der Zeitpunkt gewesen, den Versuch für gescheitert zu erklären?
Es hätte grundsätzlich auf den Prüfstand gemusst. Auch ich war da viel zu sachte. Ich habe kritisiert, aber viel zu sachte.
Im Buch beschreibst du das Schreiben und Nachdenken als Teil eures Überlebenskampfes, wofür ein politischer Austausch extrem wichtig ist. Wie ist der möglich, wenn man die Situation außerhalb der Gefängnismauern nur noch aus Erinnerungen über die Zeit vor der Verhaftung kennt?
Das ist ein Problem. Deshalb bin ich auch durch die Isolationshafterfahrung so ein großer Anhänger von Kommunikation geworden. Auch dort, wo ich später gearbeitet habe, in der Favela. Kommunikation ist Konfliktprävention. Der Mensch hat das Bedürfnis, sich von Erlebtem ein Bild zu machen. Auch im Gefängnis, wo die Informationen sehr lückenhaft waren, hast du das versucht. Wir haben uns einiges zurecht gelegt, und diese Bilder haben dann nicht immer gestimmt. Ohne Kommunikation und äußere Reize verlierst du einen Teil deiner Orientierung. Ich habe irgendwann Gedichte auswendig gelernt, um mein Gehirn anzuwerfen. Du kennst sicher das Gefühl, wenn man morgens aufwacht, nachdem man sehr viel getrunken hat. So fühlt man sich in der Isolationshaft jeden Morgen.
Wenn diese notwendigen Reize fehlen, wo bezieht man dann überhaupt positive Resonanz her, um ein gewisses Selbstbewusstsein aufrechtzuerhalten?
Das Briefeschreiben war sehr wichtig. Es gab Briefe, die waren zehn, 15 Seiten lang. So konnte ich mich als selbstbestimmtes Subjekt spüren. Selbstgewissheit haben wir auch dadurch bekommen, dass wir dem Ziel der Isolationshaft, uns umzudrehen, widerstanden haben. Ich habe Kräfte entfaltet, die ich mir früher nie zugetraut hätte. Neun Wochen Hungerstreik, ich wog noch 43 Kilo. Das war aber auch ein Anreiz, nicht kritisch über die RAF nachzudenken. Das ist mir erst spät klargeworden. Dadurch haben wir Sachen beibehalten, die wir vielleicht, wenn wir draußen gewesen wären, infrage gestellt hätten. Wir hätten viel Kreativität gebraucht, konnten aber Sicherheit nur aus dem Bekannten ziehen. Ich denke, es war eine der dümmsten Sachen, die die politischen Entscheidungsträger nach 1949 gemacht haben: dieses Sonderbehandlungsprogramm für die RAF-Gefangenen. Ohne die Haftbedingungen, ohne die Isolationshaft hätte es den Deutschen Herbst nicht gegeben.
Anmerkungen:
1) Mitglieder der Bewegung 2. Juni entführten 1975 den Berliner CDU-Bürgermeisterkandidaten Peter Lorenz und forderten die Freilassung von sechs inhaftierten Mitgliedern der Bewegung 2. Juni und der RAF: Verena Becker, Gabriele Kröcher-Tiedemann, Ingrid Siepmann, Rolf Heißler, Rolf Pohle und Horst Mahler. Die Bundesregierung ging auf die Forderung ein. Wenige Tage später wurden fünf der Gefangenen nach Aden (Südjemen) ausgeflogen (Horst Mahler hatte abgelehnt). Peter Lorenz wurde freigelassen. Es war das einzige Mal, dass eine bewaffnete Gruppe in der Bundesrepublik Gefangene mit einer Entführungsaktion befreien konnte.
2) Im Januar 1974 besetzte ein Kommando der PFLP (Volksfront zur Befreiung Palästinas) die japanische Botschaft in Kuwait und nahm mehrere Geiseln. Die japanische Regierung erfüllte die Forderungen der Besetzer nach freiem Geleit für ein anderes Kommando von PFLP und Japanischer Roter Armee (JRA). Im September 1974 stürmten Mitglieder der Japanischen Roten Armee die französische Botschaft in Den Haag und nahmen den Botschafter und zehn weitere Menschen als Geiseln. Die französische Regierung akzeptierte die Freilassung eines anderen JRA-Mitglieds und zahlte ein Lösegeld, das Kommando wurde nach Syrien ausgeflogen. Die Geiseln kamen frei.
Über Grenzen
In seiner Autobiografie schildert Lutz Taufer seinen Weg in die RAF, den Kampf gegen die Isolationshaft und das Leben nach dem Gefängnis, das ihn nach Brasilien und zum Weltfriedensdienst führte. Das Buch »Über Grenzen. Vom Untergrund in die Favela« erschien vor kurzem im Verlag Assoziation A. Es steht auf der Hotlist der zehn besten Bücher 2017 der unabhängigen Verlage.