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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 630 / 19.9.2017

Meinung

Katalonien: Referendum über demokratische Selbstbestimmung

Der katalanische Anarcho-Witz der Stunde: »Gehst du wählen am 1. Oktober?« - »Klar, aus Prinzip.« - »Du sagst doch immer, Wahlen wären verboten, wenn sie was ändern würden?« - »Eben.« Tatsächlich wird das vom katalanischen Parlament anberaumte, aber von Madrid verbotene Unabhängigkeitsreferendum am 1. Oktober von der Mehrheit der radikalen Linken in der Region aktiv unterstützt. Die antikapitalistische CUP, die die sozialliberale Autonomieregierung von Ministerpräsident Puigdemont toleriert, hatte das Referendum vor einigen Monaten durchgesetzt. Aber auch Podem, die (trotzkistisch dominierte) katalanische Sektion von Podemos, und (mit Ausnahme von Ada Colaus Bündnis in Barcelona) auch die meisten linken kommunalen Listen, die seit 2015 die Bürgermeister_innen in den meisten Städten um Barcelona stellen, organisieren das Referendum mit.

Um diese Position zu begreifen, muss man drei Dinge wissen. Erstens: Die Forderung nach Unabhängigkeit ist im spanischen Staat eher republikanisch und antifaschistisch besetzt. Verantwortlich dafür war der Franquismus, der die bürgerlichen Parteien im Baskenland und Katalonien schon im Bürgerkrieg auf die Seite der Linken drängte. Nicht unbedeutend ist auch die Tatsache, dass der katalanische Ministerpräsident Lluís Companys von der linksliberalen ERC 1940 von den Faschisten hingerichtet und bis heute nicht rehabilitiert wurde. Zweitens: Die Demokratisierung nach 1975 beruhte auf einem Pakt zwischen Franquisten, Sozialdemokratie und KP in Madrid, der den alten Eliten nicht nur Straffreiheit, sondern auch zentrale Machtpositionen in Wirtschaft, Polizei und Justiz garantierte. Diese Machtpositionen sowie die Verfassung von 1978 dienen der Rechten heute als Bollwerk gegen jede republikanische und föderale Reform. Die gemäßigte katalanische Linke musste dies in den 2000er Jahren schmerzlich feststellen, als sie eine Autonomiereform erarbeitete, die zunächst von der PSOE-Mehrheit in Madrid beschnitten und dann vom Verfassungsgericht kassiert wurde. Erst diese Erfahrung führte zu einem Umdenken in der katalanischen Gesellschaft. Seitdem demonstrieren jährlich mehr als eine Million Menschen unter der Forderung »Wir wollen entscheiden« gegen den Zentralstaat, und in Hunderten von Gemeinden haben Bürgerinitiativen lokale Abstimmungen organisiert.

Drittens schließlich gilt das Referendum als Möglichkeit der Demokratisierung. Den katalanischen Organisationen zufolge geht es nämlich nicht um nationale Selbstbestimmung, sondern um demokratische Selbstbestimmung - ein kleiner, aber wichtiger Unterschied. So sollen alle in Katalonien lebenden Menschen darüber entscheiden, in was für einem Staat sie leben wollen. Das umfasst nicht nur die Frage nach der Unabhängigkeit: Versprochen wird auch ein verfassunggebender Prozess, ähnlich wie er in Staaten Lateinamerikas um die Jahrtausendwende stattfand. Die Grundlagen der katalanischen Republik sollen - und diese Haltung wird sowohl von Linken als auch von der linksliberalen ERC und der rechtsliberalen Demokratischen Partei von Ministerpräsident Puigdemont geteilt - auf Bürgerversammlungen entwickelt werden. Viele Linke setzen darauf, dass in Anbetracht der Kräfteverhältnisse - laut Umfragen liegen die Parteien links der PSOE bei etwa 50 Prozent - die demokratischen und sozialen Rechte gestärkt werden.

Die Einwände liegen freilich auf der Hand: Die Solidarität mit dem armen Süden des spanischen Staats wird sicher nicht größer werden, der erhoffte soziale Kurswechsel innerhalb der EU kaum möglich sein. Zudem wird die spanische Rechte den Konflikt zur nationalistischen Mobilisierung nutzen (Podemos und Izquierda Unida unterstützen das Referendum deshalb aus wahltaktischen Gründen nicht).

Doch die Chancen der Bewegung sind ungleich größer. Schon jetzt ist klar, dass der 1. Oktober zu einem Plebiszit über die Monarchie und die Verfassung von 1978 werden wird. Tausende haben sich in den letzten Tagen über die spanische Polizei lustig gemacht, die in Druckereien Wahlzettel zu beschlagnahmen versuchte. Und nachdem die Staatsanwaltschaft gegen mehr als 700 (von insgesamt 950) katalanischen Bürgermeister_innen Strafverfahren eingeleitet hat, verwandelt sich der zivile Ungehorsam in eine echte Massenbewegung.

Der Wahlkampf der linksradikalen CUP, einer echten Anti-Partei, steht unter dem Motto »Jetzt beginnt der Mambo«. Schon in den letzten fünf Jahren haben soziale Kämpfe und Unabhängigkeitsforderungen die katalanische Gesellschaft ordentlich nach links verschoben. Die Regierungspartei CIU ist zerbrochen, die neu gegründete liberale PdeCat in die Mitte gerückt, und soziale und antirassistische Forderungen sind nicht schwächer, sondern stärker geworden. Im Frühjahr demonstrierten 300.000 Menschen für die Aufnahme von Refugees - viele von ihnen mit katalanischen Fahnen. Ein ursprünglich antikatalanisch gemeinter Tweet wurde ebenfalls zum Witz: »Die Katalanen wieder: Wollen eigene Grenzen, nur um sie zu öffnen.« - »Ja, stimmt. Ganz genau.«

Raul Zelik