Massiver Ungehorsam ist nötiger denn je
Diskussion Emily Laquer und Christoph Kleine von der Interventionistischen Linken über die Bilanz der G20-Proteste
Interview: Jan Ole Arps
Seit dem G20-Gipfel in Hamburg diskutieren die beteiligten Spektren der Linken über die Ereignisse. Wie militant ist okay? Wer profitiert vom Protest? Wo waren die Inhalte? ak hat über einige Fragen, die in der Debatte nach G20 aufgekommen sind, mit Emily Laquer und Christoph Kleine von der Interventionistischen Linken gesprochen.
Die IL gehörte zu den Hauptorganisatoren der G20-Proteste. Was ist eure Bilanz?
Christoph Kleine: Wir haben wenige Tage nach den Ereignissen eine vorläufige Stellungnahme »Die rebellische Hoffnung von Hamburg« veröffentlicht. Trotz der Kürze der Zeit war dieser Text das Ergebnis einer bemerkenswert breiten Diskussion. Seine Grundaussagen sind immer noch gültig: Der G20-Gipfel war für Scholz und Merkel ein Desaster. Sie haben kein inhaltliches Ergebnis und offensichtlich trotz massivem Polizeieinsatz die Kontrolle verloren. Die Proteste zeichneten sich durch einen wachsenden Mut der Aktivistinnen aus, dem Ausnahmezustand mit seinen Versammlungs- und Campverboten zu widerstehen. Es war ein großartiges Ereignis, das Mut macht. Wir werden uns nicht von Leuten distanzieren, denen der Kragen geplatzt ist und die sich gewehrt haben. Darüber hinaus werfen die Riots jedoch die Frage auf, wie Rebellion mit Hoffnung und Solidarität verbunden werden kann, anstatt dass falsche Konfrontationen etwa mit Anwohnern entstehen. Hierzu haben wir eine grundsätzlichere Auseinandersetzung mit dem Insurrektionalismus und eine Erneuerung unseres Konzepts massenhaften Ungehorsams angekündigt. Das steht noch aus.
Auf eurem Debattenblog sind teils konträre Einschätzungen zu Erfolg oder Misserfolg der Proteste aufgetaucht. Berliner IL-Mitglieder kritisieren, Chancen zur inhaltlichen Positionierung seien nicht genutzt worden, stattdessen habe sich die IL in leeren Worthülsen ergangen.
Emily Laquer: Die Aufmerksamkeit der profitorientierten Medien wird sich immer den inhaltsleeren Skandalnachrichten zuwenden und ist kein alleiniger Gradmesser für den Erfolg unserer Aktionen. Natürlich haben wir Inhalte gesetzt: radikalen Klimaschutz, offene Grenzen ohne Abschiebungen. Auch die Auseinandersetzung um den militarisierten öffentlichen Raum und die rebellische Demokratie ist zum Politikum geworden.
Die Autoren des Blogbeitrags monierten, der Riot habe die Verankerung im Alltag, gerade in Hamburg, beschädigt und stehe der langfristigen politischen Arbeit in anderen Bereichen entgegen.
C.K.: Das stimmt einfach nicht. Das Bündnis in Hamburg ist während der Protesttage breiter und nicht enger geworden. Es sind politische Freundschaften in verschiedene Spektren für die IL gewachsen. Alle, die gegen den G20 auf der Straße waren, haben sich in St. Pauli in einer solidarischen Homezone gefühlt. Und die Stadtteilversammlung am 20. Juli mit über 1.000 Teilnehmern (ak 629) ist nicht nur Beleg für eine eindrucksvolle Basisverankerung, sondern vor allem ein herausragendes Beispiel, wie eine solidarische, offene Diskussion auch problematischer Ereignisse gelingen kann. Das lief alles differenziert, respektvoll gegenüber anderen Wahrnehmungen und an zwei Positionen sehr einig: Der G20 war falsch, und die Rote Flora bleibt. Auch für die Wahrnehmung außerhalb Hamburgs scheint mir der Blogbeitrag mehr die mediale Mainstreamstimmung widerzuspiegeln als die tatsächlichen Diskussionen in Initiativen überall in der Republik. Natürlich gibt es da schwierige Diskussionen, aber wozu bräuchte es eine radikale Linke, wenn sie nicht überall das Recht und die Möglichkeit zum Aufstand vertreten würde?
In der öffentlichen Debatte ist die Kritik an der radikalen Linken lauter geworden, die Law-and-Order-Schlachtrufe bestimmen die Agenda. Wurde die politische Verschiebung nach rechts, die in den letzten Jahren stattgefunden hat, im Vorfeld unterschätzt?
E.L.: Kann schon sein, dass wir den Rechtstrend unterschätzt haben und deswegen viele von der Heftigkeit der Hetze überrascht wurden. Aber wer den G20-Protesten die Verschärfung des autoritären Sicherheitsstaates vorwirft, kann auch die Gezi-Proteste für die Diktatur in der Türkei verantwortlich machen. Hat sich G20 gelohnt? Würden wir es wieder tun? Zweifellos. Hamburg zeigt, dass Widerstand selbst im Ausnahmezustand möglich ist.
Gut, aber was heißt das für den Umgang mit der Repression oder der Rechtsverschiebung: Was können Gegenstrategien gegen die Anti-Linksextremismus-Welle sein?
C.K.: Der globale Trend zum autoritären Sicherheitstaat ist kein Resultat von G20, sondern hat viel mit einem Kapitalismus zu tun, der keinerlei positives Projekt mehr hat, kein Versprechen einer besseren oder auch nur stabilen Zukunft. Deswegen wird auf innere und äußere Aufrüstung gesetzt, auf den Abbau demokratischer Rechte, auf rassistische Spaltungen, auf Kontrolle und Überwachung. Diese Entwicklung wird sich nicht mit irgendeinem taktischen Kniff oder einer genialen Strategie aufhalten lassen, sondern ist auf absehbare Zeit unsere Kampfbedingung. Dies vorausgeschickt gilt natürlich das Bekannte gegen Rechtsruck und Repression: Eigene linke Perspektiven entwickeln, sich gesellschaftlich verankern, Solidarität praktizieren.
E.L.: Eins noch: Wir vergessen die Gefangenen nicht. Sie gehören zu uns. Ich bin ihnen dankbar, dass sie nach Hamburg gekommen sind. Wir haben nichts zu bereuen.
Zahlreiche Bündnispartner haben sich abgewendet, das NGO-Spektrum und Organisationen wie Campact haben ihre eigenen Proteste organisiert.
E.L.: Das trifft so nur zur Hälfte zu. In den Bündnissen gab es eine gelungene Zusammenarbeit, die gerade durch die Angriffe durch Senat und Polizeiführung noch enger geworden ist. Das Schauspielhaus, die Kirchen, der FC St. Pauli haben überwältigende Gastfreundschaft gezeigt. Die Linkspartei liegt, auch wenn es von Bartsch und Wagenknecht einen voreiligen Kniefall vor dem Polizeieinsatz gab, in Hamburg laut Hochrechnungen bei außergewöhnlichen zwölf Prozent. Die einzigen Spaltungslinien, die kalkuliert gezogen wurden, sind die der Grünen und von Campact & Co., die beide früh das Großdemobündnis verlassen haben. Die Grünen mussten das tun, sie sind als Koalitionspartner im Senat ja verantwortlich dafür, den Gipfel gegen die Bevölkerung durchzuprügeln. Campact ist eine pseudodemokratische Bewegungssimulation, ein gut geführtes neoliberales Unternehmen. Beide Veranstaltungen, die der Grünen (Hamburg zeigt Haltung) und Campact & Co. (Protestwelle) wurden mit peinlich geringen Teilnehmerzahlen gestraft. Ihre Inhalte sind untergegangen, weil sie für nichts stehen und sich dem realen Konflikt auf der Straße verweigert haben.
Trotzdem: Hat sich in den Protesten eine Verschiebung im linken Spektrum gezeigt?
E.L.: Das Spannungsfeld zwischen dem nihilistischen Insurrektionalismus, bündnisorientierten Postautonomen und moderaten Linken ist nicht neu. Auch wenn die Presse eine andere Geschichte erzählt: Die 76.000 waren auf der größten Demo Hamburgs seit den 1980er Jahren, und nicht auf dem Schanzenriot. In der Gesamtheit der Proteste hat sich mir nochmal gezeigt: Gäbe es die Praxis des massenhaften Ungehorsams nicht, mit Aktionstrainings, Bezugsgruppen, die aufeinander aufpassen, offensiver Pressearbeit und offenem Bündnisprozess - wir müssten heute damit beginnen.
Denkt ihr nicht, dass das Konzept des massenhaften Ungehorsams in Hamburg an eine Grenze gestoßen ist?
C.K.: Die Herausforderung, die zum Konzept des massenhaften Ungehorsams geführt hat, besteht unverändert fort: Menschen zu Aktionen und Regelübertritten zu ermutigen, kollektiven Widerstand organisieren, der wenig Heldenmut einzelner braucht, Aktionsformen wählen, die nicht unnötig militarisiert sind oder zum Mackertum einladen. Im Konkreten ergeben sich natürlich Fragen: Wie gehen wir mit der Dichte von Aktionen um, die in Hamburg bestanden? Vor allem aber: Wie können wir auch in spontanen Situationen wie am Freitagnachmittag Aktionen Orientierung und Richtung geben? Damit werden wir uns beschäftigen, aber das Konzept des Ungehorsams ist mit Sicherheit nicht am Ende.
Der Riot am Freitag, aber auch andere Formen von Straßenmilitanz haben heftige Diskussionen über Insurrektionalismus ausgelöst. Was bedeutet diese Diskussion für die IL?
E.L.: Das beliebige Abfackeln von Kleinwagen stillt zwar den Hunger nach Revolte, bietet aber weder Hoffnung noch Solidarität an. Mit politischen Konzepten, die das für Strategie halten, müssen wir in die Debatte gehen - aber ohne sie zum neuen Hauptproblem zu erklären. Wir dürfen dabei nicht vergessen, auf welcher Seite wir stehen. Die radikale Linke muss kommende Aufstände nicht nur suchen und vorhersehen, sondern in ihnen handeln können. Wir brauchen die Fähigkeit, in der Spontaneität der Masse als Kraft zu wirken, die Revolte vorm Umkippen ins Regressive zu Bewahren.
Damit findet ihr die Differenz in der Militanzfrage schon ausreichend beschrieben?
C.K.: Es bestreitet doch niemand, dass es tiefgreifende Widersprüche und Spaltungen zwischen verschiedenen Teilen »unserer Seite« gegeben hat. Das lösen wir aber nicht durch Distanzierungen, sondern nur durch eine bessere linke Militanz, die dafür sorgt, dass nicht die Anwohner Angst bekommen, sondern die G20.
In der Nachbereitung kam auch die Einschätzung auf, dass die IL und andere größere linksradikale Gruppen die Auseinandersetzung mit antisemitischen Bildern der Kapitalismuskritik vermieden hätten.
C.K.: Es gibt keinen Platz für Antisemitismus in der Linken oder als Teil von Gipfelprotesten. Das ist die unbestreitbare Grundlage jeder Zusammenarbeit. Eine andere Frage ist, wie mit den sorgfältig gepflegten Feindschaften unter den verschiedenen linken Strömungen umgegangen werden sollte, die von einigen mit viel Lust an der Provokation und Gegenprovokation inszeniert werden. Dabei geht es mehr um Zuschreibungen als um eine ernsthafte Diskussion, wie Antisemitismus bekämpft werden kann. Tatsächlich haben diese Fragen bei den G20-Protesten gar keine Rolle gespielt. Deswegen war es richtig, dass nicht nur die IL, sondern ebenso ...ums Ganze! oder die Flora nicht auf Versuche eingestiegen sind, an dieser Stelle einen Konflikt innerhalb des Protestspekttums hochzuspielen.
Was sind aus eurer Sicht die zentralen Unterschiede zum G8-Gipfel 2007 in Heiligendamm?
C.K.: Der Unterschied zwischen einem ländliche Aktionsterrain wie den Feldern um Heiligendamm und dem urbanen Raum in Hamburg mit einer lebendigen linken Szene ist offensichtlich. Ein weiterer Unterschied ist der Entwicklungsstand der linksradikalen Akteure. Bei Heiligendamm hat sich die IL volle zwei Jahre vorbereitet und in dieser Zeit außer Grundsatzdebatten wenig anderes getan. 2017 reiht sich Hamburg in einen Aktionskalender von Blockaden des AfD-Parteitags über die We'll come United Demo bis zu Ende Gelände ein, um nur die wichtigsten bundesweiten Mobilisierungen zu nennen. Daneben findet an vielen Orten noch die Basisarbeit in Miet-Inis, Arbeitskämpfen oder in der Geflüchtetensolidarität statt. Die große Gemeinsamkeit von Hamburg und Heiligendamm ist, dass es bei beiden Ereignissen gelungen ist, eine Situation der Einschüchterung und der Ohnmacht gegenüber dem massiven staatlichen Gewaltapparat in Trotz, Mut und Handlungsfähigkeit zu wenden.
Christoph Kleine und Emily Laquer
sind beide in der Interventionistischen Linken (IL) organisiert. Emily Laquer war IL-Pressesprecherin für die G20-Proteste und kennt inzwischen jede Variante, nach einer Distanzierung von Militanz zu fragen. Christoph Kleine hatte den gleichen Job vor zehn Jahren in Heiligendamm. Weitere Beiträge aus der IL zur G20-Auswertung gibt es auf dem IL-Debattenblog: blog.interventionistische-linke.org