Das bisschen Alltag. Geschlechter am Limit
Doxing
Immer wieder ziehen sich Feministinnen und Publizistinnen temporär aus sozialen Netzwerken wie Twitter und Facebook zurück - manche, nachdem sie die Telefonnummer oder den Wohnort wechseln mussten. In letzteren Fällen ist der Grund »Doxing«: die Recherche und Veröffentlichung von persönlichen Daten Einzelner wie Telefonnummer, Klarname, Adresse, Arbeitgeber oder Namen von Familienmitgliedern. Die Methode tauchte zuerst in den 1990er Jahren in der Hackerszene auf, in der Anonymität Grundbedingung ist: Hacker enthüllten die Identität anderer Hacker. Heute trifft es verstärkt Menschen, die öffentlich unter ihrem Namen auftreten. Eine Reihe von Studien zeigen, dass Frauen überproportional von »Hass im Netz« betroffen sind - es trifft sie »in einer anderen Quantität, Qualität und Intensität«, wie eine Wissenschaftlerin meint.
Einige Journalistinnen mit Expertise im Bereich Gender und Technologie haben nun weitere Opfer von Doxing ausgemacht: Neonazis. Nach dem Anschlag von Charlottesville verbreiteten Twitter-Accounts die Fotos, die die größtenteils männlichen Faschisten beim Fackelmarsch zeigten - und riefen dazu auf, sie zu identifizieren. Mit Erfolg: Einige Neonazis verloren ihre Jobs, manche wurden öffentlich durch Freunde und Familie geächtet, einer enterbt. Vier Tage nach dem Anschlag kam eine Journalistin auf motherboard.vice.com dennoch zu dem Schluss, die Nazi-Outings seien »gut für die faschistische Sache«. Eine andere zitierte in einem Artikel einen Professor, der in der Nutzung der Methode gar eine »Lynch-Mob-Mentalität« - auf beiden Seiten - erkennen wollte. Nazi-Outings seien eine »gefährliche Form der Gerechtigkeit«, warnte eine Autorin auf wired.com. Ihr Fazit: »Wenn man die Ziele weglässt, bewegen sich beide Seiten auf demselben morastigen Boden«. Mal abgesehen von den Zielen sollen der Einsatz gegen Faschismus und der gegen Feminismus und Antirassismus nun doch etwas gemeinsam haben: Doxing.
Es waren insbesondere liberale Feministinnen, die von »Doxing« sprachen, um die Methoden von Rechten zu skandalisieren. Aber aus dem Kampf gegen Sexisten wurde einer gegen »Hass im Netz«. Dabei sind die Belästigungen am Telefon, Arbeitsplatz oder Zuhause, die auf die Veröffentlichung persönlicher Daten folgen, für Frauen nichts Neues. Auch im Offline-Zeitalter konnte die Entscheidung, öffentlich zu sein, folgenreich sein: Ein Eintrag im Telefonbuch bedeutete für so manche Alleinlebende, anonyme nächtliche Belästigungsanrufe zu erhalten.
Der Kontext einer patriarchalen Gesellschaft und die politische Motivation der Angriffe sind bei der Diskussion über »Doxing« mehr und mehr in den Hintergrund geraten, denn die Praxis galt unabhängig von den dahinterstehenden politischen Ziele als moralisch verurteilenswert. Ausgerechnet linksliberale und feministische Journalistinnen - potenziell betroffen von Rechten, die sie aus der Öffentlichkeit verdrängen wollen - sprechen sich nun dagegen aus, öffentlich agierende Faschisten namentlich zu benennen. Für sie ist das Outing von Nazis »Doxing« und damit ein ethisches Dilemma. So schützt die Rede von »Doxing« absurderweise die Männer, die für Misogynie und Antifeminismus, Rassismus, Homophobie und Transfeindlichkeit - online und offline - stehen. Wer stattdessen von Sexismus, Rassismus oder Nazi-Outings spricht, kann die Praxis politisch statt moralisch bewerten.
Hannah Schultes