Barzanis Eigentor
International Nach dem Unabhängigkeitsreferendum gerät die kurdische Autonomieregion im Irak unter Druck
Von Anselm Schindler
Kurz sah es so aus, als würde der türkische Staat mit seinen Drohungen Ernst machen: Am Nachmittag des 29. September flimmerte durch die prokurdischen und linken Filterblasen der sozialen Netzwerke das Gerücht, dass die türkische Armee über die irakische Grenze in die kurdische Autonomieregion des Nordirak vorgerückt sei. Doch schon wenige Stunden später gab die linke kurdische Nachrichtenagentur ANF Entwarnung: Ein Konvoi der türkischen Armee habe versucht, in die kurdisch-irakische Region Dohuk einzudringen, sei aber von der PKK zurückgeschlagen worden. Über die Anzahl der dabei getöteten türkischen Soldaten und PKK-Mitglieder gab es auf beiden Seiten unterschiedliche Angaben.
Der Vorfall ereignete sich nur wenige Tage, nachdem in der kurdischen Autonomieregion bei einem Referendum über die Loslösung vom irakischen Zentralstaat abgestimmt worden war. Das Votum war eindeutig. Fast drei Viertel der potenziellen Wähler_innen gaben ihre Stimme ab, 93 Prozent von ihnen votierten mit Ja. Der türkische Staat hatte schon vor dem Referendum mehr oder minder unverhohlen mit einem Einmarsch gedroht und Truppen nördlich des Kandil-Gebirges zusammengezogen. Dort bombardieren die türkischen Streitkräfte bereits seit Jahren immer wieder Stellungen der PKK-Guerilla. Auch dieses Mal traf es die PKK - auch wenn der Adressat des Angriffs vermutlich die Machtclique um Masud Barzani, dem Regierungschef der Autonomieregion, war.
Loslösung vom Irak?
Das Referendum sollte ein entscheidender Schritt hin zu einem unabhängigen kurdischen Staat im Nordirak werden - das zumindest versprach Barzanis Regierungspartei KDP (Demokratische Partei Kurdistan) den Wähler_innen. Und auch die mit ihr konkurrierende PUK (Patriotische Union Kurdistan) stand geschlossen hinter der Abstimmung. Doch unter dem Druck aus Ankara ruderte Barzani schnell zurück. Was zu Anfang gewirkt hatte wie der Beginn der endgültigen Loslösung vom Irak, wollte Barzani bereits einige Tage vor dem Referendum nur noch als eine Art Mandat für weitere Verhandlungen mit der Zentralregierung in Bagdad verstanden wissen. Man muss dazu sagen: Weder ist das Votum rechtlich bindend, noch bestand vor oder nach der Wahl ein Fahrplan für konkrete Verhandlungen mit der irakischen Regierung.
Es ist nicht lange her, da wirkte Barzani noch wie der kleine Ziehsohn Erdogans. Zwar gab es auf beiden Seiten immer mal wieder rhetorische Ausfälle, die Geschäfte allerdings liefen wie geschmiert, ein Großteil des in der Autonomieregion geförderten Öls wurde Richtung Türkei gepumpt. Barzani erlaubte Erdogan sogar die Stationierung türkischer Soldaten in der Region (siehe ak 630), und er protestierte nicht, wenn die türkische Armee mal wieder Kandil bombardierte, das zumindest auf dem Papier zum Territorium der Autonomieregion gehört. Die gemeinsamen Feinde waren die PKK und die Selbstverwaltung in Rojava (Nordsyrien), die von Barzani immer wieder mit Embargos belegt wurde.
Es gab vor dem Referendum nicht wenige, die mutmaßten, dass Erdogan einen kurdischen Staat im Nordirak dulden könnte, solange das Öl fließt und er weiterhin gefügig ist. Und man konnte die Hasstiraden aus Ankara für bloßes Geplänkel halten, mit denen Erdogan vor seinen Anhänger_innen das Gesicht zu wahren versuchte. Doch die aktuelle Lage lässt eher den Schluss zu, dass die Spannungen zwischen dem Regime der Autonomieregion und Erdogan echt sind. Hinter dem neuen Selbstbewusstsein Barzanis steht eine kurdische Bourgeoisie, die vom türkischen Staat einfordert, die Geschäfte mit Ankara künftig auf Augenhöhe zu führen.
Wütende Reaktionen auf das Referendum kamen nicht nur aus der Türkei: Auch das iranische Regime und der wieder erstarkte syrische Machthaber Baschar al-Assad drohten Richtung Erbil und sicherten der irakischen Zentralregierung, die das Referendum auf das schärfste ablehnt, ihre Unterstützung zu. Die Spannungen, die die Unabhängigkeitsbestrebungen der Autonomieregion auslösen, scheinen alte Feinde einander näherzubringen. Da beschwören die regionalimperialistischen Mächte Türkei und Iran Einmütigkeit im Kampf gegen die nordirakischen Kurd_innen, obwohl sie andernorts - wenn auch nur indirekt - gegeneinander Krieg führen. Während der türkische Staat mit der Unterstützung sunnitischer jihadistischer Milizen in Syrien versucht, Assad wieder zurückzudrängen, will der Iran das Gegenteil und unterstützt schiitische Milizen wie die Hisbollah, die auf Seiten des Assad-Regimes kämpfen.
Iran, Syrien und die Türkei drohen der Autonomieregion
In den Tagen vor und nach dem Referendum führten türkische Streitkräfte erst mit der irakischen, dann mit der iranischen Armee Manöver in Grenznähe durch. Da der Urnengang trotz der Proteste aus Bagdad stattfand, forderte der irakische Staat die Übergabe der Flughäfen der Autonomieregion an die Verwaltung in Bagdad. Nachdem Barzani das verweigerte, ließ die Regierung in Bagdad kurzerhand den Luftraum über der kurdischen Region sperren. Seither rührt sich nichts mehr auf den Start- und Landebahnen der kurdischen Metropolen Erbil und Sulaimaniya.* Obendrein verhängten der Irak und die Türkei wirtschaftliche Sanktionen über das Gebiet, der Iran stoppte seinen Export von raffiniertem Öl in die Region - es wird für die Treibstoffproduktion gebraucht. Die Türkei zog nach und machte die Pipelines dicht, in denen das Erdöl fließt, auf dessen Export man in der Autonomieregion so dringend angewiesen ist.
Auch von internationaler Seite blieb Unterstützung für die Barzani-Regierung aus: Aus Russland und den USA hieß es nur, auch hier in ungewohnter Einmütigkeit, dass das Referendum den Mittleren Osten weiter destabilisiere und nach irakischer Gesetzgebung ohnehin illegal sei. Es scheint, als hätte sich die ganze Welt gegen die Unabhängigkeitsbestrebungen der kurdischen Autonomieregion verschworen. Doch Barzani kann das Referendum trotzdem als Erfolg verbuchen - als Erfolg für sich. Denn die Region steckt schon seit Jahren in einer wirtschaftlichen Krise; der Unmut über die KDP-Regierung ist mit den ökonomischen Verwerfungen gewachsen. Das Referendum und die Reaktionen darauf haben die Bevölkerung wieder ein Stück weit zusammengeschweißt. In den Tagen nach der Wahl wurde das Ergebnis trotz der Kriegsdrohungen aus den Nachbarländern auf den Straßen ausgiebig gefeiert.
Die weitgehende ökonomische und politische Autonomie, die KDP und PUK gegen die Zentralregierung in Bagdad durchsetzen konnten, sind Ergebnis der Zusammenarbeit mit der US-Besatzung nach dem letzten Irakkrieg. Als die USA 2003 im Irak einmarschierten, wurden sie dabei von der kurdischen Machtelite im Norden des Landes unterstützt. Autonom war die Region vorher schon, doch nach dem Irakkrieg wurden die Autonomierechte deutlich ausgeweitet. Seither teilen die Barzani- und die mit ihr konkurrierende Talabani-Familie die Region unter sich auf. Sie dominieren mit ihren Parteien das Parlament, es herrscht ein ausgeprägtes System der Vetternwirtschaft. Sowohl Barzani als auch PUK-Chef Talabani schanzten wichtige Stellen in Staatswesen und Ökonomie ihren eigenen Verwandten zu. (1)
Letztlich setzen sich hier alte patriarchal-feudale Familienklanstrukturen unter bürgerlichen Vorzeichen fort. Das Referendum hat große Teile der Bevölkerung kurzfristig wieder hinter den Vertretern dieses Systems vereint - auch wenn weiterhin Unmut über die wirtschaftliche und politische Lage besteht. Nun, nachdem mindestens fraglich ist, ob in Sachen Unabhängigkeit weitere Schritte gegangen werden können, ohne dass sich die Autonomieregion damit noch weiter in die Isolation manövriert, ist aber fraglich, wie lange der Burgfrieden hält.
Anselm Schindler hält sich zur Zeit zur Recherche in der kurdischen Autonomieregion auf. In ak 630 schrieb er über die Kritik linker kurdischer Kräfte am Unabhängigkeitsrefendum.
* Der Artikel wurde Anfang Oktober verfasst, inzwischen wurde der Luftraum über der Autonomieregion wieder freigegeben. Bei Redaktionsschluss gab es zudem widersprüchliche Meldungen über mögliche Gefechte zwischen der irakischen Armee und kurdischen Peschmerga im Umland von Kirkuk sowie Berichte über massive Truppenbewegungen der irakischen Armee und schiitischer Milizen in Richtung der Stadt.
Anmerkung:
1) Jalal Talabani, der von 2005 bis 2014 Präsident des Irak war (der bisher einzige kurdische Politiker an der Spitze des Irak), verstarb am 3. Oktober. Talabani war 1975 Gründer der ehemals leninistischen, heute eher sozialdemokratischen PUK und seitdem einer der wichtigsten Konkurrenten der Barzani-Familie und der von ihr kontrollierten KDP. Als Staatspräsident befürwortete er zwar weitgehende Autonomierechte, wandte sich aber gegen eine Loslösung der kurdischen Gebiete vom Irak.