Hospital der Geister
Deutschland Die Maxime Kostensenkung hat vor allem den Pflegenotstand in den meisten Krankenhäusern maximiert
Von Dietmar Lange
»Es geht einfach nicht mehr weiter so«, sagt Ulrike. Sie steht an einem kühlen Septembermorgen um 7 Uhr im Foyer des Westflügels vom Benjamin-Franklin-Campus der Universitätsklinik Charité in Berlin, trägt eine gelbe Weste mit der Aufschrift Tarifberater. Seit 30 Jahren arbeitet sie hier am Standort im Stadtteil Steglitz. Mit ihr im Foyer stehen weitere Kolleg_innen um einen mitgebrachten Kaffeebottich und Kisten mit Croissants. Am Eingang vom Gebäude verkünden Plakate mit großen Buchstaben auf schwarzrotem Hintergrund: Streik. An der Vortreppe sind ver.di-Fahnen aufgepflanzt. Die Gewerkschaft ruft seit heute an allen drei Standorten der Charité die Pflegekräfte zum Streik auf. Wieder geht es um mehr Personal. 2015 hatte ver.di einen Tarifvertrag bei der Charité erkämpft, der eine Personalbemessung, also ein festes Verhältnis von Patient_innenanzahl und Pflegekräften, vorsieht. Da es an der Umsetzung fehlt, werden jetzt einklagbare Regelungen und konkrete Möglichkeiten für Sanktionen gefordert. Vor Ort ist die Situation vor allem eines: sehr frustriert. Die Beschäftigten leiden weiterhin unter der akuten Personalnot.
Entscheidung an der Basis
Mehrere der Streikenden tragen wie Ulrike die gelben Tarifberater-Westen. Sie werden von den Teams der einzelnen Stationen aufgestellt und sollen der Tarifkommission bei ihren Entscheidungen zur Seite stehen. Mit dem Konzept versucht ver.di die Beschäftigten im schwierigen Kampffeld Krankenhaus direkt am Arbeitsplatz zu organisieren und stärker einzubeziehen. So wurde die Entscheidung für diesen Arbeitskampf auch an der Basis entschieden: Ein gut besuchtes Tarifberatertreffen hatte eine Fortführung des alten Tarifvertrages unter unveränderten Bedingungen abgelehnt und für Streik votiert.
Die Streikenden bilden kleine Gruppen, die über die Stationen ziehen, um die Beschäftigten über den Streik zu informieren. Die Gruppe, mit der wir unterwegs sind, besteht aus fünf Frauen und zwei Männern. Vorneweg läuft Ulrike. Auf jeder Station wird mit den anwesenden Pflegekräften gesprochen. Aufrufe werden verteilt und Plakate aufgehängt. Die Kolleg_innen grüßen sich freundlich. Der Umgang ist meist herzlich, auch wenn viele noch arbeiten. Es wird Verständnis füreinander signalisiert. Viele hält das Pflichtgefühl gegenüber den Teamkolleg_innen, die man nicht alleine lassen will, auf Station. Einige weichen auch aus oder wollen von Streik nichts wissen. Wieder andere erzählen vom Druck, der von der Stationsleitung ausgeübt wird. Besonders häufig sind jedoch Klagen über die mangelnde Personalbesetzung zu hören. Auf einer Station ist die gesamte Stationsleitung mit der Diagnose Burn Out krankgeschrieben. Die einzige anwesende Schwester ist sichtbar bewegt, als sie von der Unterbesetzung erzählt, die hier seit Monaten anhält. Sie berichtet von Pflegekräften, die aufgrund der Arbeitsbelastung in den Aufenthaltsräumen in Tränen ausbrechen.
Es sei eine Mischung aus Überarbeitung, Frustration und Gewissensbissen den Patient_innen gegenüber, die viele verzweifeln lässt. Es ist auch die stille Wut, nicht gehört zu werden. Die Kollegin ringt um Fassung, als sie von den Reaktionen der Personaldirektion auf die Beschwerden erzählt: »Sehen Sie zu, wie sie damit klarkommen«, sagte man ihr dort, dann wurde der Hörer aufgelegt. »Ihr müsst berichten, wie es hier zugeht«, sagt sie und ist dabei selbst den Tränen nahe.
Allein auf Station
In der Rauch- und Kaffeepause auf einem Balkon erzählen die Streikgänger_innen, dass es auf vielen Stationen ähnlich aussehe. Bei Nachtdiensten sei man mit 20 bis 30 Patient_innen allein, mitunter auch während der Frühschichten. »Das ist unverantwortlich«, sagt Ulrike, »wenn ich gerade einen Gehbehinderten versorge, kann ich den ja schlecht stehen lassen, falls woanders was passiert«. Das es noch keine größeren Zwischenfälle gegeben habe, liege vor allem daran, dass die Kolleg_innen »200 Prozent« geben und dabei in Kauf nehmen würden, selbst »auszubrennen«. Wie fürsorglich der Umgang trotz des Streiks mit den Patient_innen ist, zeigt sich auf der Heimatstation der Gruppe. Es gibt herzliche Umarmungen mit einer Langzeitpatientin. Ihre Operation wurde verschoben, sie ist trotzdem solidarisch: »Ich habe in meinem Beruf früher schließlich auch gestreikt und die Bedingungen, unter denen die Pflegekräfte arbeiten müssen, erlebe ich hier jeden Tag mit.«
In Gesprächen mit den Streikenden geht es oft um die sogenannten Fallpauschalen. Diese sind fester Bestandteil im System der Krankenhausfinanzierung, wie es 2005 eingeführt wurde. Sie beinhalten eine einheitliche Vergütung pro Krankheitsfall und keine Deckung des realen Bedarfs. Kritiker_innen sehen hier den Hauptgrund für Kostendruck und Personalabbau. Das Bündnis »Krankenhaus statt Fabrik« legt dar, wie mit den Fallpauschalen die Krankenhäuser angeregt werden sollen, die Kosten für jeden einzelnen Krankheitsfall zu senken.
Um Gewinn machen zu können und zugleich die chronische Unterfinanzierung durch die Länder auszugleichen, würden daher vor allem Stellen beim Pflegepersonal abgebaut und die Liegedauer der Patient_innen verkürzt. Überbelastung der verbleibenden Beschäftigten und eine Verschlechterung der Versorgung, bis hin zu »blutigen«, also verfrühten Entlassungen, sind die Folgen. In Steglitz hat sich das zahlenmäßige Verhältnis von Ärzt_innen und Pflegekräften stark verändert. Gab es vor 2005 pro Ärzt_in noch zwei Pflegekräfte, ist das Verhältnis heute eins zu eins oder noch schlechter. Das spiegelt sich auch in den offiziellen Zahlen: Bei der Charité sind aktuell 3.979 Ärzt_innen und 4.293 Pflegekräfte beschäftigt.
Überversorgung trifft Engpass
Die Einführung der Fallpauschalen 2005 war aber nur der letzte größere Schritt bei der Ökonomisierung des Gesundheitswesens. Bis in die 1990er Jahre hinein galt das Prinzip der Bedarfsdeckung. Die Krankenhäuser bekamen ihre Kosten erstattet, durften dafür aber keinen Gewinn machen. Dies wurde schrittweise abgeschafft, das Privatisierungsdogma durchgesetzt. Dieses sieht bekanntermaßen vor, private Unternehmen, die nach marktwirtschaftlichen Kriterien geführt werden, immer wirtschaftlicher und effizienter zu machen. Dabei wird oft mit »Sachzwängen« argumentiert. Auch beim Umbau des Gesundheitswesens diente eine angeblich drohende Kostenexplosion als Rechtfertigung. Daran bemessen ist das Vorhaben allerdings gescheitert: Seit 2005 haben sich die Kosten im Gesundheitswesen nämlich um mehr als ein Drittel erhöht. Ein Grund: Da pro Fall abgerechnet wird, steigt die Anzahl von Operationen und von höher bewerteten Spezialeingriffen. Das Fallpauschalensystem führt somit zu Überversorgung in einigen Bereichen. Patient_innen werden kränker gemacht als sie sind und häufiger teuren und komplizierten Operationen unterzogen, während zugleich die Qualität der Grundversorgung schlechter wird. In einem war die Reform jedoch erfolgreich: Die Gewinne privater Klinikbetreiber_innen sind gestiegen. Das Gesundheitswesen ist für Investor_innen ein attraktiver Markt geworden.
Druck und Gegendruck
Besonders betroffen sind von dieser Entwicklung immer die gleichen Stationen: Geburtsmedizin, Allgemein- und Unfallchirurgie, sowie die Kinder- und Jugendabteilungen. Die Grundversorgung, die im System der Fallpauschalen besonders benachteiligt ist, muss mehr Kapazitäten bereitstellen, als im Normalfall benötigt wird, während lange planbare Spezialeingriffe lukrativ werden. Diese übernehmen verstärkt kleine Privatkliniken. Krankenhäuser in öffentlicher Hand, wie die Charité, die zugleich für die Ausbildung in Medizin und Pflege zuständig sind, geraten hingegen in finanzielle Engpässe.
Am Ende des Rundgang schildert Ulrike noch einmal aus ihrer Perspektive, wie sich die Situation verändert hat. Sei es in den 1990er Jahren noch darum gegangen, die individuelle Versorgung der Patient_innen zu verbessern, habe sich dies mit der Einführung der Fallpauschalen komplett geändert. Kostensenkung laute nun die Maxime. Diese spiegele sich auch in einem Wandel der Unternehmenskultur wider, vor allem nach dem Wechsel zu einer neuen Pflegedirektion. Ihr Gesicht verdüstert sich: »Aber wir Pflegekräfte haben ein hohes Berufsethos«, sagt sie. Sie verwehre sich dagegen, dies als »Helfersyndrom« zu verunglimpfen. Vielen liege ihr Beruf sehr am Herzen und sie litten nicht nur unter der steigenden Arbeitsdichte, sondern auch unter der Belastung, sich nicht mehr angemessen um die Patient_innen kümmern zu können.
An der Wand im Foyer hängen Plakate, auf denen der Stand des Streiks notiert wird: Von 96 angekündigten Bettensperrungen wurden nur 43 umgesetzt. Die Charité weigert sich, die Betten auf Stationen zu sperren, auf denen Beschäftigte streiken wollen. So stehen diese vor dem Dilemma, Betten zu bestreiken, die weiterhin mit Patient_innen belegt werden. Das führt zu großer Verunsicherung. Die Pflegedirektion übt Druck aus, die Stationen nicht zu verlassen. Streikende müssen wieder auf die Station zurück, auch Mitglieder der Streikleitung. Auf einigen Stationen wird die Bettensperrung aufrecht erhalten, da die Beschäftigten auch einen Teil der Stationsärzt_innen auf ihre Seite ziehen können, die weitere Operationen absagen.
Der Streik wird so in den ersten Tagen zu einem Kampf um die Betten und um das Streikrecht im Krankenhaus überhaupt. Nach zähem Ringen und öffentlichem Druck auf die rot-rot-grüne Berliner Regierung, die auch im Aufsichtsrat der Charité vertreten ist, wird zunächst eine Notdienstvereinbarung unterzeichnet. Darin wird geregelt, dass Noteingriffe weiter stattfinden, und das Unternehmen im Gegenzug dort Betten und auch ganze Stationen sperrt, wo die Beschäftigten in den Streik treten wollen. Nach einer Woche wird der Streik kurz vor der Bundestagswahl unterbrochen. Einen Erfolg hat er bereits errungen: Es wird wieder verstärkt über den Pflegenotstand berichtet. Weitere Krankenhäuser haben sich im gesamten Bundesgebiet im Rahmen einer ver.di-Kampagne dem Kampf um mehr Personal angeschlossen.
Eine weitere Woche später dann die überraschende Nachricht: Die Charité bietet Verhandlungen über eine Anlage zum bestehenden Tarifvertrag an, in der die von ver.di geforderten Sanktionsmöglichkeiten enthalten sein sollen. Allein die Ankündigung der Wiederaufnahme des Streiks im Oktober mit einer Sperrung von bis zu 11 Stationen und 600 Betten scheint die bis dahin starre Position des Unternehmens in Bewegung gebracht zu haben. Auf einem vollen Tarifberatertreffen wird nun beschlossen, den Streik zumindest für die nächsten sechs Wochen bis Ende November, in denen Verhandlungen geführt werden sollen, auszusetzen. Die Beschäftigten bleiben misstrauisch. Sollte sich das Ganze nur als Manöver des Unternehmens herausstellen, um Zeit zu gewinnen, erklären sie, werden sie auf jeden Fall wieder streiken.
Dietmar Lange ist aktiv im Bündnis Berlinerinnen und Berliner für mehr Personal im Krankenhaus und hat »blutige Entlassungen« schon als Patient erlebt.
Streik ohne CFM und VSG
Als an der Berliner Charité die Pfleger_innen streikten, wären auch andere gern in den Ausstand getreten: das Servicepersonal der Charité, das bei der Tochterfirma Charité Facility Management (CFM) beschäftigt ist. Dort gibt es keinen Tarifvertrag, aber Arbeit zu Niedriglöhnen. Im Mai dieses Jahres hatten CFM-Beschäftigte mit einem zehntägigen Warnstreik große Aufmerksamkeit erregt. Im Sommer legten sie nach, die Motivation, erneut in den Streik zu treten, war hoch. Ähnlich bei der Vivantes Service Gesellschaft (VSG), einer Tochterfirma der zweiten großen Berliner Krankenhausgesellschaft Vivantes. Deren Beschäftigte hatten im Sommer ebenfalls für Angleichung an die Bedingungen im Mutterkonzern gestreikt und zusammen mit den CFM-Kolleg_innen durch Berlin demonstriert. Pläne für einen gemeinsamen Streik wurden jedoch schon im Juli zunichte gemacht: Ver.di lehnte die Streikanträge der Beschäftigten für einen einwöchigen gemeinsamen Streik ab, ohne Begründung. Auch ein Arbeitskampf parallel zum Charité-Streik war offenbar nicht gewünscht. Beschäftigte beider Unternehmen kritisierten Ende September auf einer Veranstaltung von labournet.tv, dass die zum Streik motivierten Beschäftigten auf diese Weise ausgebremst und die Gelegenheit, durch einen gemeinsamen Kampf in allen Unternehmen den Druck zu erhöhen und Solidarität zu erreichen, nicht genutzt worden seien.
Krankenhausstreiks in anderen Bundesländern
Außer an der Berliner Charité streikten Beschäftigte noch in anderen Bundesländern. Am Universitätsklinikum Gießen und Marburg legten die Beschäftigten Anfang Oktober die Arbeit nieder, um für mehr Personal zu kämpfen. In Augsburg streikten Krankenhausarbeiter_innen für einen Tarifvertrag und Mindeststandards für die Besetzung einer Station mit Pfleger_innen. Außerdem fordern die Beschäftigten im Klinikum Augsburg ein Bleiberecht für ihren afghanischen Kollegen Anwar Khan Safi, dem die Abschiebung droht. Ein aus noch anderen Gründen interessanter Arbeitskampf findet derzeit an der Marienhausklinik in der saarländischen Kleinstadt Ottweiler statt. Das Krankenhaus gehört einem katholischen Träger, hier gilt das reguläre Streikrecht nicht. Bei kirchlichen Arbeitgebern gelten Sonderbedingungen - der sogenannte Dritte Weg -, die Beschäftigten haben weder Tarifverträge noch Streikreicht. Deutsche Gerichte haben dies mehrmals für rechtens erklärt. Damit sind die etwa 1,5 Millionen Menschen, die in kirchlichen Einrichtungen (auch bei der Diakonie zum Beispiel) arbeiten, von grundlegenden Rechten ausgeschlossen. Beim Arbeitskampf an der Marienhausklinik geht es also nicht nur um bessere Arbeitsbedingungen, sondern auch gegen das Lohndumping in christlichen Einrichtungen insgesamt und ganz allgemein: für das Streikrecht. Davon abgesehen ähneln sich die Forderungen. Auch in Ottweiler strebt ver.di einen Entlastungstarifvertrag an, der verbindliche Vorgaben für die Personalausstattung macht.