Aufbruch und Erinnerung
International Auch Trans-Organisationen sind Teil der Bewegung Ni Una Menos gegen die Straflosigkeit von geschlechtsbezogener Gewalt in Argentinien
Von Diana Demiel
Am 3. Juni 2015 erklang auf den Straßen in Buenos Aires erstmals der Ruf: »Ni Una Menos!« - »Nicht eine weniger!« In jenem Jahr hatte es trotz des geltenden Gesetzes zum Schutz von Frauen über 230 ermordete Frauen bzw. geschlechterbezogene Femizide gegeben. (1) Dass diese Morde verfolgt würden, war von der damals neu ins Amt gesetzten neoliberalen Regierung Mauricio Macris nicht zu erwarten. Eine Lobby für die Opfer machistischer Gewalt gibt es ebenfalls nicht. So blieb nichts anderes übrig, als Selbstschutz in Form von Selbstorganisation und Selbstverteidigung zu organisieren. (2) Ein Kollektiv aus Journalistinnen, Künstlerinnen und Aktivistinnen mit dem Namen #NiUnaMenos wurde gegründet und mobilisierte für besagten 3. Juni 2015 zu einer breiten Demonstration mit Hunderttausenden Teilnehmer_innen. (ak 621)
Die Mobilisierungen ließen auch im folgenden Jahr nicht nach, die Netzwerke wurden breiter: Im Juni 2016 verband sich eine Demonstration von Zehntausenden gegen die Femizide auf den Straßen von Buenos Aires mit einer Demonstration für das Recht auf Abtreibung. Ein großes Bündnis forderte ein Ende der Gewalt gegen Frauen und ein Ende der Straflosigkeit für die Täter. Der Funke sprang über auf Zentralamerika und andere Länder: In Mexiko, Costa Rica, Venezuela, Peru und Chile mobilisierten Frauen mit dem Slogans »Schluss mit der Ermordung unserer Schwestern!« und »Wir wollen uns lebend!«
Innerhalb eines Jahres gab es in insgesamt 80 Städten Argentiniens immer wieder Demonstrationen wie in Rosario am 10. Oktober 2016 mit über 70.000 Menschen. Hier hatte die 31. Nationale Frauenkonferenz stattgefunden. Die Demonstration wurde mit Tränengas, Gummigeschossen und anderer Gewalt angegriffen. Mehrere Personen, auch der Kameramann eines Fernsehsenders, wurden verletzt.
Am 19. Oktober 2016 wurde ein Streik ausgerufen, dem vor allem Frauen und Männer in öffentlichen Einrichtungen, in Bibliotheken und Museen in Chile und Argentinien folgten. Anlass war die brutale Ermordung der 16-jährigen Lucía Pérez. In Buenos Aires demonstrierten 200.000, in Santiago de Chile 150.000 Menschen.
An den Demonstrationen nahmen auch Trans-Organisationen wie die chilenische Organizando Trans Diversidades (OTD ) oder die Asociación de Travestis, Transexuales y Transgéneros de Argentina (ATTTA) teil.
Gewalt und Gesetze
Der jährliche Bericht der UNO-Frauenbeauftragten spricht davon, dass drei von fünf Frauen das Opfer von physischer oder psychischer Gewalt sind. Etwa alle 30 Stunden wird eine Frau ermordet. Eine offizielle Statistik gibt es nicht. Die argentinische feministische Organisation La Casa del Encuentro, die seit 2008 geschlechtsspezifische Gewalt an Frauen erfasst, hat im Jahr 2015 für Argentinien 286 Femizide an Frauen und Mädchen registriert. (3) Bei ihnen heißt es: »Der Begriff Femizid ist politisch zu verstehen, als Anklage gegen die sexistische Gewalt, die von der Gesellschaft als naturgegeben angenommen wird. Der Femizid ist eine der extremsten Formen von Gewalt gegen Frauen, er bezeichnet einen von einem Mann begangenen Mord an einer Frau, die er als sein Eigentum begreift. Der Begriff wurde von der amerikanischen Schriftstellerin Carol Orlock 1974 entwickelt und 1976 von der Feministin Diana Russell vor dem Internationalen Tribunal der Verbrechen gegen Frauen in Brüssel öffentlich gemacht.«
Zwar gab es in Argentinien während der Regierungszeit der sozialpopulistischen Kirchnerist_innen wichtige und positive Gesetzesänderungen wie das Gender-Identitätsgesetz und das Recht auf gleichgeschlechtliche Ehe sowie Gesetze zu HIV und sexueller Aufklärung. (4) Trotzdem bleibt die Realität von Frauen und Trans-Menschen von der machistischen Geschlechtergewalt und von brutalen Tötungen bestimmt.
Trans-Menschen sind besonders gefährdet
Die meisten Trans-Menschen in Südamerika sind junge Frauen, die aufgrund ihrer prekären sozialen Lage ihr Überleben durch Sexarbeit bestreiten müssen. In Argentinien sind ungefähr 85 Prozent der Trans-Frauen in der Sexarbeit tätig, bei den Trans-Männern sind es 63 Prozent. Im Durchschnitt werden Trans-Frauen nur zwischen 35 bis 40 Jahre alt. Eine Studie der International Labor Organisation (ILO), die deren primäre Todesursachen untersucht, nennt hier an erster Stelle Aids. Es folgen Missbrauch durch Polizeigewalt sowie transphobe Femizide: Viele Trans-Frauen werden durch ihre Partner ermordet, durch Zuhälter, die sie sexuell ausbeuten oder durch Kunden.
Die Polizeigewalt ist in diesem Ausmaß auch deshalb möglich, weil sich an den Erlassen, die vorgeben, die öffentliche Sicherheit zu regeln, seit der Militärdiktatur nur unwesentlich etwas verändert hat. Vor allem in den Provinzen werden sie noch immer gegen Trans-Sexarbeiter_innen angewandt. Diese können zwischen 24 Stunden und drei bis vier Wochen festgehalten werden und müssen Strafen zahlen, wenn sie nicht ohnehin gleich ihr gesamtes Geld abgeben müssen. Häufig werden sie während und nach den Verhaftungen geschlagen, belästigt und misshandelt.
Während der Militärdiktatur wurden zahllose Trans-Menschen verhaftet, gefoltert und schließlich ermordet und zum »Verschwinden« gebracht. Die mitunter von der Regierung Kirchner unterstützte Aufklärungsarbeit von Menschenrechtsorganisationen zur Militärdiktatur, hat auch Trans-Organisationen ermutigt, nicht nur Aufklärung und Förderung von politischer und anderer Bildungsarbeit durchzusetzen, sondern auch eine geringfügige Entschädigung für die wenigen Überlebenden und die Community insgesamt als Rentenanspruch zu erkämpfen. Nun hat die Macri-Regierung jedoch damit begonnen, die finanziellen Zuwendungen für die bisher geförderten Menschenrechtsprojekte zu kürzen. Die wenigen selbstorganisierten Schulen, die es Trans-Menschen ermöglichten, einen Bildungsabschluss nachzuholen, um einen anderen Beruf ergreifen zu können, sind existenziell bedroht.
Die in ATTTA oder anderen Vereinen organisierten Trans-Menschen sprechen in Bezug auf die Kontrollen in den Straßen und die ihnen dabei abverlangten Schmiergelder von »Zuhälterei des Staates«. In der Hauptstadt gibt es mittlerweile ein offiziell anerkanntes Rotlichtviertel, und in den Reiseführern wird Buenos Aires als das Paradies für Schwule und Lesben in Lateinamerika angepriesen. Tatsächlich gibt es über ein Dutzend schwule Bars, Clubs, Saunas sowie einige lesbische und queer-gemischte Orte.
Doch im Alltag vieler sozial marginalisierter Trans-Menschen hat das bisher wenig geändert: Auch in der sich liberal gebenden Hauptstadt gelten gesetzliche Verordnungen, die Sexarbeiter_innen durch viele nicht einhaltbare Bestimmungen das Leben schwer machen. (5) Ausweiskontrollen treffen insbesondere Migrant_innen aus Zentralamerika, Bolivien, Peru und Kolumbien, die sich in Buenos Aires bessere Verdienstchancen erhofft haben. Sie können häufig keine gültigen Dokumente oder Aufenthaltsberechtigungen vorweisen, oder ihnen wird vorgeworfen, wiederholt gegen bereits gegen sie ausgestellte Platzverweise verstoßen zu haben. Auch von Nachbarn werden Trans-Menschen bisweilen bedroht, belästigt oder geschlagen, ohne dass dies relevante rechtliche oder andere Konsequenzen zur Folge hat.
Gesichter und Geschichten
Viele Übergriffe der Polizei treffen auch andere junge Menschen in ärmeren Stadtteilen und Provinzen. Oft sind Fotokopien mit Gesichtern von Opfern der Polizeigewalt an Mauern und Hauswände geklebt. Gelegentlich werden sie von Graffiti begleitet, die ein Ende der Polizeibrutalität fordern.
Im Herbst 2015 wurden zwei bekannte Trans-Aktivist_innen, Diana Sacayan und Lohana Berkins, erstochen. Am ersten Jahrestag der Ermordung von Diana Sacayan wurde die 26-jährige Evelyn Rojas in der Provinz Misiones, an der Grenze zu Paraguy und Brasilien, ermordet.
Eine Presseerklärung des argentinischen Bundesnetzwerkes der Diversität erklärte dazu: »Das Verbrechen an Evelyn zeigt in brutaler Offenheit die Gewalt, der Trans-Frauen und Trans-Männer ausgesetzt sind. Dieses Hassverbrechen ist ein extremer Ausdruck der Diskriminierung und der Verletzung der elementarsten Menschenrechte.«
Die Liste der Ermordeten ist lang. Nach den Daten des Transgender Monitoring Projektes (TMM) von Transgender Europe (TGEU) wurden in den letzten acht Jahren über 2.000 Trans-Personen, überwiegend Trans-Frauen, weltweit ermordet. Der Bericht macht eine Zunahme der ermordeten Trans-Personen deutlich. Mehr als 1.500 Trans-Personen wurden in Süd-und Zentralamerika ermordet. Die Daten des TMM zeigen auch, dass 65 Prozent aller ermordeten Trans-Menschen Sex-Arbeiter_innen waren.
Diese Daten werden jeweils am Transgender Day of Remembrance (TDoR) am 20. November veröffentlicht. Der weltweit begangene Tag ist all den Menschen gewidmet, die als Opfer von Transphobie und Hass auf Trans-Menschen ermordet wurden. Das Ziel, ihnen ein Gesicht und den Lebenden eine Stimme gegen die Transphobie zu geben, bedeutet auch, den Forderungen nach Gewaltfreiheit und bürgerlichen Rechten einen Ausdruck zu verleihen. Im vergangenen Jahr gab es weltweit in über 180 Städten und über 20 Ländern Veranstaltungen. In Berlin führten Trans-Sexarbeiterinnen an ihrem Arbeitsplatz in der Frobenstraße eine kleine Kundgebung durch, an der sich etwa 60 Frauen mit internationalem Hintergrund beteiligten.
Diana Demiel ist ein_e queere transnationalistische Sozialaktivist_in. Er/sie arbeitet an und mit Selbstorganisationen gegen soziale Marginalisierungen und Diskriminierungen von Queers, Erwerbslosen, Menschen mit besonderen Fähigkeiten und Menschen verschiedener Herkunft.
Im und rund um das Aquarium in Berlin wird es am 20. November 2017 um 18 Uhr Veranstaltungen zum Transgender Day of Remembrance geben.
Anmerkungen:
1) Als Femizid, auch Feminizid, wird in Anlehnung an femina (lateinisch: Frau) und caedere (lateinisch: töten) die Tötung von Mädchen und Frauen wegen ihrer Zugehörigkeit zum weiblichen Geschlecht bezeichnet (Geschlechtermord).
2) Selbstbezeichnung als Desfensorias de Generos, Verteidigerinnen des Geschlechts.
3) lacasadelencuentro.org/femicidios.
4) Am 10. Mai 2012 wurde im argentinischen Senat nach jahrzehntelangem Kampf von Trans-Aktivist_innen ein weltweit vorbildliches Gesetz zur Anerkennung der Geschlechtsidentität verabschiedet. Es erfordert keine Diagnose, um eine rechtliche Personenstandsänderung oder Zugang zu medizinischer Behandlung zu erlangen. Dies war weltweit das erste Gesetz, das das Menschenrecht auf Selbstbestimmung der Identität ernst nimmt. Ähnliche Änderungen werden auch in Deutschland von Trans-Organisationen seit Jahren gefordert, bisher aber nur mit wenig Erfolg.
5) Das Gesetz zum städtischen Zusammenleben schreibt ihnen beispielsweise einen Mindestabstand von 200 Metern zu Kirchen und anderen Gebäuden vor.