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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 632 / 14.11.2017

Sohn seiner Klasse

Diskussion Von »Rückkehr nach Reims« zu »Gesellschaft als Urteil« - Didier Eribons Versuch (und Scheitern), die Figur des Intellektuellen mit der Klasse der Ausgebeuteten zu versöhnen

Von David Doell

Die bisherige Eribon-Rezeption in Deutschland wurde stark von soziologischen Analyseschemata dominiert. Im Diskurs über »Rückkehr nach Reims« schien es zeitweise so, als würde über einen Strategietext der französischen Linken zum Thema Rechtspopulismus gesprochen, nicht über eine autobiografische Auseinandersetzung mit der eigenen Subjektivierungsweise. Didier Eribon, so konnte man glauben, hatte den heiligen Gral zum Verständnis der Wahlerfolge der AfD gefunden.

Nach dem Hype im Sommer und insbesondere nach Eribons Deutschlandbesuch wurde der Tenor verhaltener: Der Autor stellte sich als ein an der Parti Socialiste orientierter Linksliberaler heraus, der überhaupt keinen strategischen Vorschlag für eine »neue Klassenorientierung« vorstellte. Mit »Gesellschaft als Urteil. Klassen, Identitäten, Wege« (2013 in Frankreich erschienen) bietet Eribon nun selbst eine alternative Interpretation zu seiner Rückkehr nach Reims an. Im Kern geht es dabei um die Brüche und das Scheitern im »Projekt der soziologischen Introspektion« eines Klassenflüchtlings. (1) Auch wenn es Didier Eribon noch nicht gelingt, den entscheidenden Ausweg aus der unvollendeten Rückkehr schon zu finden, ergeben sich gerade auf dem Weg, Eribons Einsatz besser zu verstehen, einige spannende Fragen.

Selbsterfindung als Intellektueller

Anders als bei »Rückkehr nach Reims« wird der methodische Einsatz in »Gesellschaft als Urteil« offen benannt: Mit den Worten von Anni Ernaux komme es darauf an, Bücher zu schreiben, die einen selbst in Gefahr bringen und »nach deren Erscheinen man den anderen nicht mehr ins Gesicht zu blicken wagt, weil man weiß, welche Angriffsflächen man geboten hat«. (Gesellschaft als Urteil, 10) Im Hintergrund steht hier das Spätwerk von Michel Foucault, der sich in seinen letzten Vorlesungen am Collège de France (1982-1984) mit Konzeptionen der Parrhesia, des mutigen Wahrsprechens, auseinandergesetzt hat. Eribon erkennt im »mutigen Wahrsprechen« gegenüber dem gesellschaftlichen Macht-Wissen-Komplex Foucaults zentrale Definition eines Intellektuellen, dem es in einem langen Prozess der »Arbeit an sich selbst« gelingt, eine gegenhegemoniale Wahrheit auszudrücken.

Eribon scheint nun seine eigene Auseinandersetzung mit Literatur und Gesellschaftstheorie als diese Arbeit an sich selbst zu begreifen. Intensiv schildert er, wie die Zeit seiner intellektuellen Ausbildung ihn geprägt hat. Die Selbstveränderung, die der späte Foucault unter dem Schlagwort einer »Ästhetik der Existenz« verhandelt, bleibt aber unvollständig, wenn sie keine politische Rückwirkung erzielt, nicht mit den Strukturen der gesellschaftlichen Macht in Konflikt tritt. Das mutige Wahrsprechen zeichnet sich gerade dadurch aus, dass das Subjekt sich dadurch einem Risiko aussetzt.

An diesem Punkt kann in etwa die »Rückkehr nach Reims« angesiedelt werden, in der Eribon nach seiner »Selbsterfindung« als Intellektueller wieder mit den Normen und Urteilen in Konflikt tritt, die ihn in seiner Kindheit geprägt haben. Die zentrale Frage, die »Rückkehr nach Reims« durchzieht, lautet: »Warum kehrt man zu etwas zurück, dem man um jeden Preis entkommen wollte?« (23) Eine Antwort, die das Projekt motiviert haben könnte, wäre, dass es kein einfaches Entkommen aus der Vergangenheit gibt: »Auf die Frage, was ich von meinem Vater habe, könnte ich gewissermaßen antworten: alles. (Obwohl ich jahrelang daran gearbeitet habe, mich selbst zu bilden, ein self-fashioning zu betreiben, wie es Foucault und Oscar Wilde teuer war, auf dass die Antwort lauten würde: nichts, ganz und gar nichts.)« (37) Die Fragen, die »Gesellschaft als Urteil« deshalb stellt, sind: Wie ist eine Emanzipation gegenüber der Vergangenheit möglich? Warum scheitert die Rückkehr nach Reims? Und wie sind andere Auswege aus der eigenen Gewordenheit denkbar?

Theorie der Scham als Genealogie der Klasse

Auf der theoretisch-inhaltlichen Ebene liegt der zentrale Schritt von »Rückkehr nach Reims« zu »Gesellschaft als Urteil« in der Vertiefung einer Klassenanalyse, die beim subjektiven Faktor (der Scham) ansetzt. Konkret setzt sich Eribon mit den Lebensweisen seiner Großmütter auseinander, wobei sein Urteil (vielleicht ähnlich wie das über seine Mutter) lautet: »Sie waren, wurden, wurden nichts - oder jedenfalls nichts anderes als das, was der enge Rahmen ihrer Arbeiterinnenexistenz ihnen vorgab.« (133)

Die Rückkehr nach Reims bleibt, so scheint die Antwort zu lauten, deswegen unvollendet, weil eine Auseinandersetzung mit der eigenen Gewordenheit tiefer gehen muss als die mit den lebendigen Familienmitgliedern. Eribon sieht sich dabei mit dem Problem konfrontiert, dass Arbeiterfamilien kein individuelles Familiengedächtnis haben und die Geschichte seiner Vorfahren notwendig abstrakt bleibt. »Ich hingegen weiß nicht, was meine Vorfahren während der Französischen Revolution oder zu Zeiten Napoleons gemacht haben. Waren sie Bauern? Waren sie Arbeiter in jenen Manufakturen, aus denen die industrielle Revolution hervorgegangen ist? Waren sie Bedienstete in Adelshäusern oder im Bürgertum, das sich damals spektakulär entwickelte? Ich kann nur versuchen, mir ihren Alltag vorzustellen: harte Arbeit, tagein, tagaus, und eine miserable Bezahlung, von der sie kaum überleben konnten.« (167)

Auch hier scheint Eribon Foucault zu folgen, wenn er befindet: »Deswegen brauche ich Geschichtsbücher, brauche ich die Literatur, um auf die Welt meiner Vorfahren zugreifen und erfahren zu können, woher ich komme und von wem ich abstamme.« (168) Und: »Meine Genealogie ist die Genealogie der Unterdrückten.« (167) An dieser Stelle seiner Geschichte formuliert Eribon den zentralen Vorschlag, der aus den Möglichkeiten einer intellektuellen Selbstveränderung erwächst, nämlich Gegengeschichten zu erzählen. Mit Blick auf Marcel Prousts »Auf der Suche nach der verlorenen Zeit« fragt sich Eribon, ob eine mögliche Gegengeschichte aus der Perspektive der Haushälterin Françoise erzählt werden könnte. Diese Passagen zählen meines Erachtens zu den schönsten des Buches: »Es gibt nicht viele Bücher, die vom Standpunkt der Bediensteten aus geschrieben wurden. Meistens hat das Dienstpersonal nur eine Nebenrolle, es huscht vorbei, hat vielleicht eine Silhouette, aber keine Persönlichkeit und kein Gesicht.« (169) Hier wird deutlich, dass es Eribon wesentlich um kollektive Perspektiven der Selbstsubjektivierung geht, um »Klassen, Identitäten, Wege« der Unterdrückten.

Sein Ansatzpunkt bleibt dabei die Scham, die im Anschluss an eine Briefpassage des jungen Marx als eine Art in sich gekehrte Form des Zorns verstanden wird, die einen politischen Sprung vorbereiten kann. Die Genealogie der Scham könne, so die Hoffnung, neue mögliche Auswege aus der geschichtlichen Gewordenheit von Klassen und Identitäten hervorbringen. Im Gestus des späten Foucault beurteilt Eribon sein eigenes Projekt als »eine Ethik und Politik der Großzügigkeit«. (130)

Eribons Scheitern an der Auseinandersetzung

Der Soziologe Oliver Nachtwey zeigte sich in seiner Besprechung von »Gesellschaft als Urteil« in der Süddeutschen Zeitung (10.10.2017) darüber pikiert, dass Eribon »Rückkehr nach Reims« als »Nachfolgebuch« von Pierre Bourdieus Hauptwerk »Die feinen Unterschiede« versteht. In der Verehrung von Bourdieu als Zentralfigur einer postmarxistischen Soziologie steht Eribon Nachtwey allerdings in nichts nach. Das Problem scheint allerdings eher, dass Eribon »Nachfolgebücher« schreibt, die noch nicht aus dem Bannkreis der Autor_innen treten, die er als Student bewundert hat. Nachtwey bemängelt zusätzlich den »dickflüssigen Honig des poststrukturalistischen Jargons«, ohne allerdings eine wirkliche Kritik an dem im Inhalt an Bourdieu und in der Form an Foucault angelehnten Ansatz zu entwickeln. Meines Erachtens können die Gründe für das Scheitern der Rückkehr nach Reims inhärent am Ansatz eines so gelagerten »Projekts einer soziologischen Introspektion« gezeigt werden.

Auf der persönlichen Ebene liegt das Scheitern in der mangelnden konfliktiven Auseinandersetzung mit den Anderen. Während Eribon sehr harte Urteile über seine Großmütter trifft, sich selbst dank seiner Bildung aber in der Lage glaubt, eine »Ethik und Politik der Großzügigkeit« zu vertreten, bleibt die Auseinandersetzung mit dem Vater vollständig abstrakt. Bisweilen wirkt es sogar so, als würde Eribon seine theoretischen Fähigkeiten immer noch als Schutzschild benutzen, um sich mit den konkreten Anderen, die ihn verletzt und beschämt haben, gerade nicht auseinanderzusetzen. Jede_r Leser_in wird mittlerweile verstanden haben, dass Eribon Proust kennt, seine Eltern aber nicht; dennoch scheint es eine gewisse Notwendigkeit zu geben, immer wieder darauf hinzuweisen: »Würde meine Mutter sich mit Françoise identifizieren, wenn sie einen der Bände der Recherche aufschlüge? Wie könnte ich das wissen? Sie hat Proust, den sie nicht mal vom Namen her kennt, nie gelesen. Man Vater natürlich auch nicht.« (173) Was bleibt in solchen Passagen von einer »Ethik der Großzügigkeit«? Und warum kann ein Intellektueller von Eribons Format seiner Mutter das Setting von Prousts Roman nicht erklären und sie nach ihrer Perspektive fragen?

Auch auf der gesellschaftlichen Ebene bleibt der Konflikt im praktisch-politischen Sinn unausgetragen. Im Anschluss an Bourdieu kritisiert Eribon das klassenreproduzierende Bildungssystem, insbesondere das Schulsystem. Die Analyse der Universitäten im Komplex der gesamtgesellschaftlichen Reproduktion bleibt allerdings schemenhaft, was sich unter anderem darin zeigt, dass Eribon fast in vollständig liberale Register zurückfällt, wenn er sagt, dass die Massenuniversität keine »Demokratisierung« hervorgebracht hätte (196), oder sich fragt, wieso Fördermittel für die unteren Klassen einfach so gestrichen wurden. (197)

Dass sich die Reproduktionsweise im Postfordismus grundlegend gewandelt hat und es ein verändertes Anforderungsprofil an Arbeitskräfte und deren Ausbildungen in den Zentren des globalen Nordens gibt, scheint keine Rolle zu spielen. Stattdessen bezieht sich Eribon zustimmend auf Forderungen nach einem besseren Zugang zu Bildung und den Künsten. Manchmal scheint es sogar, als ob kulturelles Kapital heute der zentrale Widerspruch wäre, der die unterdrückten von den herrschenden Klassen unterscheidet.

Eribon ist sich sicher, »dass einzig eine immer erneuerte theoretische Analyse der Herrschaftsmechanismen mit ihren unzähligen Funktionen, Registern und Dimensionen in Verbindung mit dem unverwüstlichen Willen, die Welt im Sinne einer größeren sozialen Gerechtigkeit zu verändern, uns in die Lage versetzt, den vielgestaltigen Kräften der Unterdrückung zu widerstehen. Nur so werden wir eine Politik schaffen können, die das Prädikat demokratisch tatsächlich verdient.« (264)

Hier vermischen sich zwei liberale Prämissen zu einem Primat der Bildung und Theorie gegenüber der politischen Praxis. Einerseits bleibt bei Eribon der und die Einzelne der Ausgangspunkt jeder emanzipativen Arbeit. Andererseits bleibt »demokratischer« Politik das letzte Wort bei der emanzipatorischen Praxis vorbehalten. In der einfachsten Form würde das bedeuten, die Bildung zu »demokratisieren« und über die Arbeit an uns selbst andere Diskurse hervorzubringen, die uns schließlich eine Emanzipation gegenüber unserer Vergangenheit erlauben. Aus der Perspektive des politischen Aktivismus lässt sich daran zweifeln, ob der Realität von Kapitalismus, Patriarchat und Rassismus mit einer so ausbuchstabierten Politik der Großzügigkeit begegnet werden kann.

Die Größe Eribons liegt darin, sich des Spannungsfelds zwischen den unterdrückten und herrschenden Klassen, denen er sich beiden zugehörig zu fühlen scheint, bewusst zu sein: »Was bedeutet es, in der Sprache des Feindes zu schreiben? Was heißt es, in der herrschenden Sprache oder der Sprache der Herrschenden über die Herrschaft zu schreiben? (...) Welche Fehlwahrnehmungen zieht es womöglich nach sich zwischen den Schreibenden, den Beschriebenen und dem, was sie beschreiben? Und gäbe es andere Mittel? Gäbe es einen anderen Weg?« (257) Dass er aus dieser Fragerichtung die Konzepte der militanten Untersuchung noch nicht einmal theoretisch verarbeitet, kann eigentlich nur verwundern.

Eribons Versuch, eine Versöhnung zwischen der Figur des Intellektuellen und der Klasse der Ausgebeuteten zu erreichen, scheint damit ebenso unabgeschlossen wie seine persönliche Rückkehr nach Reims. »Gesellschaft als Urteil« macht damit die Brüche und das Scheitern eines »freischwebenden Intellektuellen« sichtbar, dem es noch nicht gelingt, sich hinreichend von seinem Ankunftsmilieu, der Pariser Intellektuellenszene, zu lösen.

David Doell schrieb in ak 627 über Perspektiven der G20-Proteste in Hamburg.

Didier Eribon: Gesellschaft als Urteil - Klassen, Identitäten, Wege. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017, 320 Seiten, 18 EUR.

Anmerkung:

1) Introspektion beschreibt die analytische Beobachtung des eigenen Erlebens, Fühlens und Handelns.