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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 632 / 14.11.2017

Das Erinnern selbst erkämpfen

Deutschland Ibrahim Arslan über Ignoranz und den fehlenden Mut, Opfer rechter Gewalt nach ihrer Geschichte zu fragen

Interview: Maike Zimmermann

Wir haben uns vor fünf Jahren kennengelernt, in einem Kino in Lübeck. Ich war auf Recherchereise zum 20. Jahrestag der Brandanschläge von Mölln, Ibrahim Arslan hat den Film »Nach dem Brand« vorgestellt. (ak 577) Er hat den rassistischen Anschlag in der Nacht zum 23. November 1992 als Siebenjähriger schwer verletzt überlebt. Seine Schwester Yeliz (10), seine Großmutter Bahide (51) und seine Cousine Ayse Yilmaz (14) starben.

Du bist häufig in Schulen und hältst Vorträge. Hast du das, als wir uns vor fünf Jahren kennengelernt haben, auch schon gemacht?

Ibrahim Arslan: Nicht in der Form. Die Schulveranstaltungen mache ich jetzt bald zwei Jahre. Nachdem der Film erschienen ist, habe ich versucht, eigeninitiativ an Schulen zu gehen und gesagt: Ich habe einen Flim, er heißt »Nach dem Brand«, ich bin Zeitzeuge, ich habe den Anschlag überlebt. Kann ich das bei Ihnen machen? Aber: Kein Lehrer und keine Lehrerin wollte das mit mir machen. Sie wollten wissen: Wer steckt denn hinter dir?

Du warst also nicht seriös genug?

Genau. Also habe ich im Internet recherchiert. Die Amadeu Antonio Stiftung hatte uns schon in einigen Projekten unterstützt, die wollte ich nicht noch mehr belasten. Ich habe dann den Verein Gegen Vergessen, für Demokratie gefunden. Ich bin da wie zu einem Bewerbungsgespräch hingegangen, mit Anzug und Krawatte. Die wussten erstmal nicht, was sie mit mir machen sollen. Ich habe ihnen die komplette Geschichte erzählt, was damals passiert ist und dass ich einen Film habe, mit dem ich sehr gerne in die Schulen gehen möchte, dass ich es als Betroffener nicht mehr mit ansehen kann, wenn an Schulen immer nur die Täterperspektive gezeigt wird. Wahrscheinlich ist das ganz gut angekommen - mittlerweile war ich schon an über 50 Schulen und habe meine Geschichte über 10.000 Schülern erzählt.

Kommt das denn bei den Schülerinnen und Schülern ganz gut an, wenn du da bist und mit ihnen sprichst?

Ich bekomme immer sehr positives Feedback. Was mich aber erschüttert, ist dass die Schüler immer wieder sagen: Wir haben uns nie mit den Opfern beschäftigt. Wir haben uns nie die Opferperspektive angeschaut. Wir kennen nur die Täter und ihre Geschichten. Dieses Projekt ist ja sozusagen die reine Opferperspektive, in den Schulveranstaltungen rede ich kaum über die Täter. Natürlich kommen meistens Fragen wie: Ist es für Sie gerecht, dass die Täter eine Strafe von 15 Jahren bekommen haben? Das versuche ich dann so schnell wie möglich zu beantworten, um dann wieder zur Opferperspektive zurückzukehren. Ich finde es wichtig, viel über die Opfer zu sprechen, weil ich will, dass die Menschen sich mit den Betroffenen identifizieren und auch sympathisieren.

Hat deine Schultätigkeit Nachahmer gefunden?

Ja, es gibt einige Betroffene, die nie gesprochen haben, die jetzt Filme machen wollen. Ich war mit einem Betroffenen der 1980er Jahre - dem Sohn von Ramazan Avci, der 1985 in Hamburg von vier Neonazis ermordet wurde - in einer Schule, und wir haben vor 600 Schülern gesprochen. Das war sein erstes Schulgespräch, und er hat gesagt, er würde gerne weitermachen, weil er merkt, dass er dadurch einen ganzen Bezug zu seinem Vater bekommt.

Das Sprechen ist ja durchaus auch für die Betroffenen wichtig, um das Erlebte zu verarbeiten.

Ja, einige Betroffene verlieren ihre Symptome, während sie über die Geschehnisse sprechen. Ich habe seit dem Anschlag einen chronischen Husten. Aber wenn ich in Schulen über die Geschehnisse spreche, huste ich gar nicht. Die Schüler wundern sich dann: In dem Film hustet er die ganze Zeit und jetzt nicht. Macht er Show? Ich sage dann: Habt ihr gemerkt? Ich hab nicht einmal gehustet. Das habe ich nicht abgeschaltet, das habt ihr abgeschaltet mit eurer Solidarität. Das ist unsere Medizin.

Du hast vor fünf Jahren in einem Interview in ak gesagt, dass Opfer keine Statisten sein sollen, weil sie die Hauptzeugen des Geschehenen sind. Hat sich in dieser Hinsicht etwas getan?

Mein Satz »Opfer sind keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen« hat immer noch Bestand, das ist klar. Aber es hat sich extrem viel entwickelt in den letzten fünf Jahren. Ich bin in mehreren Städten gewesen und habe versucht, Betroffene zu finden. Ich habe versucht, diese Menschen zu motivieren, etwas gegen Rassismus zu tun, indem sie ihre Perspektive erzählen. Denn die Betroffenen haben ein großes Bedürfnis, ihre Geschichte zu erzählen. Das kann man nur erfahren, wenn man den Mut findet zu fragen, einfach nur mal zu fragen, dann wird man ganz viele Antworten bekommen. Wir haben im Mai dieses Jahres ein Tribunal in Köln gemacht mit über 3.000 Menschen. Dort waren nicht nur Betroffene vom NSU, sondern die Betroffenen von rechter Gewalt in Deutschland. Mittlerweile ist es so, dass ganz viele Betroffene mit diesem Satz »Wir sind keine Statisten, sondern die Hauptzeugen des Geschehenen« arbeiten und an die Öffentlichkeit gehen. Das war mein größter Wunsch.

Wann ist diese Vernetzung denn entstanden?

Als sich der NSU selbst enttarnt hat - also vor genau sechs Jahren - habe ich gedacht: Die 1990er wiederholen sich. Ich dachte, es ändert sich nichts in der Gesellschaft, obwohl wir jahrelang versuchen, etwas gegen Rassismus zu tun. Ich habe dann einen Brief geschrieben und ihn an alle Betroffenen von rechter Gewalt geschickt, explizit an die NSU-Betroffenen.

Was war das für ein Brief?

Sinngemäß stand drin, dass wir als Opfer rechter Gewalt der 1990er Jahre viel Erfahrung haben mit Opferentschädigungen und selbst erkämpften Gedenkveranstaltungen und solchen Dingen und dass wir dieses Wissen gerne vermitteln möchten. Bei dem Berlikte Festival in Köln - also drei Jahre nach der Enttarnung - habe ich durch Anwälte erfahren, dass die meisten meinen Brief nicht bekommen haben. Ich glaube, ein einziger Betroffener hat meinen Brief bekommen.

Und was war mit den anderen?

Ich weiß es nicht. Sie haben gesagt, wir müssen uns auf den Prozess konzentrieren, da steht alles andere erstmal hinten an. Ich habe gesagt, das könnt ihr nicht machen. Wenn man zum Beispiel eine Opferentschädigung beantragt, dann dauert das Jahre. Und wenn man das später beantragt, dann dauert es noch länger. Ich habe das ja am eigenen Leibe erfahren: Elf Jahre hat es bei uns gedauert. Das wollte ich einfach vermeiden. Das sind eigentlich banale Sachen, die seitens der Politik selbstverständlich sein müssten: schnelle unbürokratische Hilfe für die Betroffenen.

Wie haben die Betroffenen reagiert, als du sie angesprochen hast?

Naja, erstmal dachten die, ich bin Journalist oder so. Dann habe ich gesagt: Nein, ich bin Betroffener von Rassismus. Dann haben sie miteinander geflüstert - wer ist das überhaupt? Heute kämpfe ich mit einigen von ihnen zusammen, mit einigen bin ich auch auf Gedenkveranstaltungen und bei Podiumsdiskussionen - und das, obwohl diese Menschen nie sprechen wollten.

Aber es ist ja nicht für alle so einfach möglich, sich auf ein Podium zu setzen und die eigene Geschichte zu erzählen. Da gibt es doch große Unterschiede, oder?

Auf alle Fälle. Ich habe sehr positive Sachen erlebt, aber auch extrem negative. Auch solche, bei denen man denkt: Das muss eigentlich eine Gruppe von linksorientierten Menschen in den Griff bekommen. Auch dort habe ich eingegriffen und gesagt, das geht nicht so, das ist falsch. Ich war zum Beispiel bei einer Gedenkveranstaltung von der betroffenen Familie. Die Familie wurde eingeladen als Gast zu ihrer eigenen Diskussionsrunde, und sie saßen in Jacken im Publikum. Ich war als Podiumsgast eingeladen. Ich guck ins Publikum und frage: Wer ist denn hier die Familie? Dann wurde sie mir gezeigt: Das dort sind die beiden. Ich bin zu ihnen hingegangen, habe mich zu ihnen gesetzt und gesagt: Das kann doch nicht angehen, dass Sie hier mit Jacken sitzen. Sie: Ja, warum? Ich dann: Ihr seid hier die Gastgeber - nicht die Gäste. Und sie haben gesagt: Wie? Wir sind doch als Gäste eingeladen worden. Wir gucken hier zu, was ihr redet. Ich habe dann gesagt: Nein, wir sind hier wegen euch, nicht ihr wegen uns. Und die Mutter hat gesagt: Okay, dann zieh ich meine Jacke aus. Und sie hat ihre Jacke ausgezogen. Dann habe ich gesagt: Das reicht mir leider nicht, ich möchte gerne, dass du mit auf das Podium kommst - wenn du es möchtest. Sie meinte: Natürlich möchte ich das. Und schon war sie auf der Bühne. So einfach ist das!

Das hat ja vor allem etwas mit Bewusstsein zu tun. Tatsächlich kommt es ja häufiger vor - nicht nur bei Leuten, bei denen man es von vornherein erwartet, irgendwelche hohen Politiker, sondern auch bei Linken. Obwohl ich den Eindruck habe, dass sich das Bewusstsein schon ein bisschen verändert hat.

Ja, weil wir die ganze Zeit schreien. Weil wir, die Betroffenen, darum kämpfen. Das meine ich: Wir kriegen das nur hin, wenn wir die Betroffenen mit einbeziehen. Wie du gerade gesagt hast: Von Institutionen brauchen wir nicht viel erwarten. Ich bin schon bei solchen Gedenkveranstaltungen gewesen, da wurden Schweinehäppchen verteilt, obwohl das eine muslimische Gedenkveranstaltung war. Bei der Familie Tasköprü zum Beispiel im Hamburger Rathaus. Ich dachte, ich fall vom Pferd. Wer soll denn diese Häppchen essen? Wen habt ihr hier eingeladen? Wer sind die Gäste? Wer sind die Gastgeber? Das hat mich ein bisschen aufgeregt.

Gibt es nicht auch Menschen, die über ihre Erlebnisse nicht reden wollen?

Meistens fragt diese Menschen keiner, deswegen denkt man, dass sie nicht wollen. Ich gehe immer auf die Betroffenen zu und frag sie einfach. Ich habe einen ganz engen Kontakt zu dem Bruder von Süleyman Tasköprü, der ja auch vom NSU ermordet wurde. Wir möchten ein ganz großes Projekt nächstes Jahr in Hamburg machen - obwohl die Familie bisher keine Gedenkveranstaltung wollte.

Und mittlerweile will die Familie das?

Einige von der Familie wollen das.

Aber es gibt Diskussionen?

Ja, natürlich! In unserer Familie gibt es auch Diskussionen. Es ist ja nicht immer alles total harmonisch bei den Familien. In einer Familie gibt es meistens einen, der extrem aktiv ist. Dann gibt es einige, die auch aktiv sind, aber eher im Hintergrund, die Briefe schreiben und sowas. Und dann gibt es einige, die gerne damit abschließen wollen, weil sie einfach dieses Trauma nicht immer wiederholen möchten. Auch das muss man respektieren. Dann gibt es einige, die sagen: Nein, ich möchte mich gerne an die institutionellen Stellen wenden. Jedem ist sein Gedenken selbst überlassen. Aber wenn es Betroffene gibt, die sagen: Wir wissen nicht, dass für uns diese Möglichkeit besteht, dann werd ich sauer. Denn dann gab es keinen, der sie informiert hat. Und dann komm ich wieder ins Spiel oder meine Freunde und auch solidarische Menschen, die ich dann auffordere: Ihr müsst mit diesem Menschen reden. Er möchte sprechen. Das ist wichtig für die Wertschätzung eines Betroffenen, weil ihm diese Wertschätzung durch die Politik, durch dieses Land, durch die Nazis genommen worden ist.

Was sind denn deine Pläne für die nächsten fünf Jahre?

Wir haben natürlich sehr viele Pläne, sehr schöne und positive - aber wahrscheinlich auch ein bisschen negative Pläne in den Augen von Institutionen und Politikern. Wir möchten gerne mit unserer Vernetzung voranschreiten. Ein Projekt von mir ist, ein Buch zu schreiben. Außerdem wollen wir ein Fotoprojekt starten, bei dem wir Porträts von Betroffenen machen und die Lücke des Menschen zeigen, die dieser Betroffene verloren hat. Aber mein größtes Projekt ist eine Opferberatungsstelle, geleitet von Betroffenen. Es ist vielleicht unrealistisch, aber ich werde es trotzdem überall fordern. Das soll ein institutionelles Projekt werden, das von Politikern unterstützt werden muss. Wenn es klappt, wäre ich extrem stolz, auch darauf, dass explizit Betroffene diese Idee hatten. Und es ist ein Zeichen dafür, dass die Politik sehr wenig gemacht hat, um den Betroffenen eine Stimme zu geben. Ein Zeichen dafür, dass sich die Betroffenen das selbst erkämpft haben. Das ist genau das, was wir immer wieder sagen: Reclaim and remember. Das Erinnern selbst erkämpfen.

Möllner Rede im Exil:

19. November 2017, 16 Uhr, Hebbel am Ufer (HAU1) Stresemannstraße 29, Berlin

Offenes Gedenken an Bahide und Yeliz Arslan und Ayse Yilmaz:

23. November 2017, 15-19 Uhr, vor dem Bahide-Arslan-Haus, Mühlenstraße 9, Mölln

gedenkenmoelln1992.wordpress.com