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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 632 / 14.11.2017

Absolution statt Revolution

Diskussion Die #metoo-Debatte hat den Diskurs um sexualisierte Gewalt verändert - doch das reicht nicht aus

Von Hannah Schultes und Bahar Sheikh

Worum geht es bei dem Hashtag metoo? Die Antwort auf diese Frage lautete in der medialen Debatte oft: Sichtbarkeit und Empathie. Empathie, weil es Betroffenen von sexualisierter Gewalt gegenüber an Verständnis und Einfühlungsvermögen mangele. Und Sichtbarkeit, weil diese - Belästigung, Übergriffe, Vergewaltigung - eben sonst kaum wahrgenommen würden.

Feministinnen wandten dagegen ein, für Frauen sei die Gewalt sehr wohl sichtbar, da sie diese selbst erlebten und untereinander darüber redeten. Männer seien hingegen »überrascht«, das Ausmaß der Erfahrungen von Frauen mit sexueller Belästigung und Übergriffen wäre ihnen bisher also verborgen geblieben. Aber zu einer bestimmten Anzahl an Erfahrungen von Frauen mit sexueller Belästigung, Übergriffen und Vergewaltigung durch Männer gehört auch eine entsprechende Anzahl von Männern, die diese ausüben.

Fast scheint es wieder so, als ginge es bei sexualisierten Übergriffen und sexualisierter Gewalt um eine kleine, überschaubare Gruppe »schlechter Männer«. Denn wie sonst könnten so viele von ihnen in erster Linie überrascht statt beschämt sein?

Die millionenfachen #metoo-Postings haben den Diskurs verändert und das Tabu rund um sexualisierte Übergriffe und Gewalt - zumindest für ein paar Wochen und in der medialen Öffentlichkeit - gebrochen. Wenn klar wird, dass diese Erfahrungen alltäglich sind, heißt das aber noch lange nicht, dass es »normal« ist, dass Frauen belästigt, missbraucht, vergewaltigt werden. Die Veränderung des Diskurses bleibt folgenlos, wenn die Sichtbarkeit von sexualisierter Gewalt nicht mit der Ansage verbunden wird, diese in Zukunft nicht mehr zu akzeptieren.

Neben Überraschung war in den Medien von einer weiteren Reaktion von Männern viel die Rede: der »Verunsicherung«. Die unterstellte Verunsicherung scheint mit dem sexistischen Männerbild in Bezug auf Sexualität und Rollenverteilung zusammenzuhängen. Es besagt, dass Männer triebgesteuert, unfreiwillig unempathisch und unsensibel und daher auch bemitleidenswert und hilfsbedürftig seien. Aus dieser Annahme heraus wird häufig weiblichen Betroffenen von Gewalttaten die Schuld an diesen gegeben. Männer sind von der Debatte weder überrascht noch verunsichert - die meisten treibt die Angst um, Privilegien zu verlieren. Frauen sollten jedoch weder für männliche Gewalttaten noch für männliches Wohlbefinden verantwortlich sein.

Den Hashtag nutzten vor allem weiße, relativ privilegierte Frauen, die meist auf die Unterstützung eines halbwegs feministischen Umfelds in den Kommentaren unter ihren Facebook-Postings hoffen konnten - der Großteil drehte sich um Episoden, die von anzüglichen Sprüchen oder einmaligen körperlichen Bedrängungssituationen berichteten und damit unterhalb einer bestimmten Schwelle von sexualisierter Gewalt verblieben.

Obwohl der Hashtag sich auf sexualisierte Gewalt bezog, wurde in der Debatte dann recht schnell nur noch über Alltagssexismus gesprochen. Eine Folge dessen war, dass sich die Diskussion mittlerweile auf ganz andere Fragen wie der nach der Grenze zwischen Flirt und Belästigung oder nach internalisiertem Sexismus von Frauen konzentriert.

Es geht fast nur noch um Alltagssexismus

Mit dem Begriff Rape Culture, dem kulturellen Überbau, der Vergewaltigungen ermöglicht und entschuldigt, haben viele, vor allem liberale Feministinnen, Berichte von Alltagssexismus im Kontinuum von Vergewaltigung, Mord und körperlicher Gewalt kontextualisiert. Wenn privilegierte Frauen über ihre Erfahrungen mit Rape Culture schreiben, um klarzumachen, dass wir alle in einer patriarchalen Gesellschaft leben, geht oft der entscheidende Unterschied zwischen einem sexistischen Kommentar vom Vorgesetzten und systematischer, massiver Gewalt verloren. Ob die Autorinnen der Postings Rape Culture und Alltagssexismus tatsächlich als ein und dasselbe betrachten oder einfach eine Differenzierung der Begriffe fehlt, bleibt unklar. Fest steht jedoch, dass eine Diskussion über sexualisierte Gewalt gegen Frauen vor allem mit Berichten von weißen Frauen über sexistische Kommentare im Büro gefüllt wurde. Das Problem daran ist nicht, dass Alltagssexismus diskutiert wird, das Problem ist, dass die Erfahrungen damit fast die einzigen Erfahrungen sind, die sichtbar sind.

Viele empfanden #metoo als Empowerment, als Möglichkeit der Solidarisierung und Empathie. Aber nicht für jede Frau ist der Weg der Öffentlichkeit eine echte Option. Nicht jede von uns kann #metoo posten, ohne dem damit verbundenen Stigma ausgesetzt zu sein.

Die Stigmatisierung von Vergewaltigungsopfern ist vielerorts immer noch real. Frauen, die in Partnerschaften leben, die von häuslicher Gewalt geprägt sind oder anderen prekären Situationen ausgesetzt sind, ist der Weg nicht nur zu Hilfe, sondern auch zu Öffentlichkeit versperrt. Die ökonomische Abhängigkeit von Partnern, der Familie oder vom Arbeitgeber kann Frauen davon abhalten, ihre Gewalterfahrungen öffentlich zu machen. Je nach Umfeld, Freundes- und Bekanntenkreis konnten Frauen also auch nicht mit Selbstermächtigung als Folge rechnen, wenn sie #metoo gepostet hätten.

Frauen, die in besonders hohem Maße von körperlicher, sexueller und psychischer Gewalt sowie von sexueller Belästigung betroffen sind, kamen in der Debatte kaum zu Wort. Dazu zählen Frauen mit Behinderungen, Frauen in Haft, Sexarbeiterinnen, teilweise migrantische Frauen, aber auch geflüchtete Frauen. (1) Studien wie »Living in Refugee Camps in Berlin« und die Studie der Women's Refugee Commission stellten fest, dass Frauen nach ihrer Ankunft in Deutschland immer noch gefährdet sind. Die Lebensbedingungen von geflüchteten Frauen in Sammelunterkünften aber auch die gesellschaftliche Isolation ermöglichen erst sexualisierte Gewalt. Durch die Stigmatisierung und Kriminalisierung ihrer Arbeit haben Sexarbeiterinnen oft keine Möglichkeit, sich zu wehren. Nicht alle Frauen können also den Rechtsweg gehen und Anzeige erstatten.

Nicht zuletzt war die Ähnlichkeit der Berichte wahrscheinlich Ausdruck der fehlenden Diversität und die Folge ähnlicher Erfahrungshorizonte unter Journalistinnen. Die Frauen, die Sichtbarkeit am dringendsten brauchen, sind als Betroffene auch nach #metoo noch unsichtbar. Das Problem ist nicht, dass die Erfahrungen von relativ privilegierten Frauen sichtbar sind, das Problem ist, dass viele andere Erfahrungen fehlen. Damit auch Frauen Gehör finden, die wiederholte, schwere Gewalt erfahren und denen der Weg zu Hilfe und Öffentlichkeit verstellt ist, hätten Autorinnen die Plattform nutzen können, um sich solidarisch mit weniger privilegierten Frauen zu zeigen und beispielsweise die Aufmerksamkeit auf Gewalt gegen Frauen mit Behinderungen oder geflüchtete Frauen zu lenken.

Verdrängte Realitäten und Ressourcenverteilung

Feministinnen kritisieren schon lange, dass Gewalt gegen Frauen nur anlässlich des Bekanntwerdens von einzelnen Fällen in der Öffentlichkeit Thema ist, da dies der strukturellen Dimension der Gewalt nicht gerecht wird. Es war wie schon zuvor in der Aufschrei-Debatte ein vermeintlicher Einzelfall - die Taten des Filmproduzenten Harvey Weinstein -, der die Diskussion auslöste. Zwar nehmen mittlerweile selbst Mainstream-Medien das Wort »strukturell« in den Mund. Geht es jedoch um die »Was tun?«-Frage beschränken sich Journalist_innen auf die Fragen »Was können Männer tun?« und »Was können Frauen tun?«. Die Antworten darauf lauten meist zusammengefasst: Selbstreflexion beziehungsweise Empowerment. Beides ändert jedoch nichts daran, dass fast überall, wo sich sexualisierte Gewalt findet, sie explizit oder implizit als besonderes statt als allgemeines Thema begriffen wird.

So behandeln auch Gewerkschaften sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz nicht als strukturelles und allgemeines Problem wie beispielsweise den Gender Pay Gap. Laut einer Umfrage von 2015 im Auftrag der Antidiskriminierungsstelle des Bundes kennen 60 Prozent der befragten Personalverantwortlichen und Betriebsrät_innen gar keine Maßnahmen gegen sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz in ihrem Unternehmen beziehungsweise ihrer Verwaltung, in fast der Hälfte der Betriebe gibt es keine Beschwerdestelle für diese Fälle. Wie düster es in Betrieben ohne betriebliche und gewerkschaftliche Interessensvertretungen aussieht, möchte man sich angesichts dieser Zahlen lieber nicht vorstellen.

Dabei ist sexuelle Belästigung am Arbeitsplatz eine Form von schlechten Arbeitsbedingungen, die einer repräsentativen Umfrage unter Beschäftigten in Deutschland zufolge schon jede_r zweite Befragte erlebt hat. Bisher wurde in diesem Zusammenhang vor allem über Filmsets, Parlamente und Großraumbüros als Tatorte gesprochen. Im EU-Parlament sollen nun unabhängige Expert_innen die Vorwürfe untersuchen. Die vielen Arbeitsplätze im Niedriglohnbereich, die mit einem recht hohen Risiko, Opfer sexualisierter Gewalt zu werden, einhergehen, kamen in der Debatte kaum vor. Hotelzimmer, Massagesalons, Bars, illegalisierte Pflege im Privathaushalt - es sind zum großen Teil migrantische Frauen aus der Arbeiterklasse, die massenhaft in diesen Jobs arbeiten.

Die #metoo-Debatte ging mit Meldungen über Rücktritte mächtiger Männer und Anklagen einzelner Frauen weiter, doch dass in vielen Frauenhäusern faktisch ein »Aufnahmestopp« herrschte, blieb eine Randnotiz: Eine bereits mehrere Wochen alte Pressemitteilung des Dachverbands der autonomen Frauenhäuser, der Frauenhauskoordinierung, tauchte erst Ende Oktober in zwei Online-Artikeln auf. Anfang November veröffentlichte dann BuzzFeedNews eine Recherche, derzufolge 2016 allein in sechs Bundesländern mindestens 13.500 Frauen auf der Suche nach einem Platz in einem Frauenhaus wegen Überbelegung zunächst abgewiesen werden mussten. In Bayern findet etwa jede Zweite, die Hilfe sucht, keinen Platz.

Gemessen am Bedarf werden also viel zu wenig Ressourcen für die Folgen von Gewalt gegen Frauen bereitgestellt. Wenn Frauenberatungsstellen, Frauennotrufen und -häusern die Ressourcen entzogen werden, bedeutet das für mehrfach marginalisierte Frauen eine doppelte Ungerechtigkeit. Denn auf Hilfestrukturen sind vor allem Betroffene ohne materielle Mittel angewiesen. Frauen mit Behinderungen oder ohne Deutschkenntnisse sind beim Zugang zu Hilfsangeboten weiterhin benachteiligt. Die Gewalt endet in manchen Fällen tödlich: Alle 26 Stunden versucht ein Mann, seine (Ex-)Partnerin zu töten. 2015 starben 131 Frauen auf diese Weise. (2)

#Ihave und #ItWasMe - ab Mitte Oktober wurden Hashtags geprägt, die den Fokus weg von den betroffenen Frauen und hin zu den übergriffigen oder gewalttätigen Männern verschieben sollten; später auch das »konstruktivere« #HowIWillChange. Aus den Postings von Männern, die sich selbst als Feministen oder Liberale betrachten, sprach der deutliche Wunsch nach Anerkennung aus feministischen Kreisen. Bereits die Wortwahl - »gestehen«, »bekennen« und »beichten« - rief den christlichen Überbau der deutschen Gesellschaft wieder in Erinnerung: Es handele sich um Männer, die »Abbitte« leisten wollten. Auch die Funktion der Postings folgte dem Muster der christlichen Beichte - am Ende des männlichen Geständnis stand Absolution statt Revolution. Insgesamt sammelten sich jedoch unter dem Hashtag deutlich mehr sexistische Beiträge als »Bekenntnisse«. Warum die Medien den Hashtag überhaupt zum Massenphänomen hochschrieben, bleibt rätselhaft; er war mehr eine Idee von Feministinnen als eine Praxis von Männern.

Männer, die »Abbitte« leisten - nein, danke

Ein weiterer Effekt der Debatte ist eher verstörend als ein Zeichen des Fortschritts. Während Frauen, die mit metoo-Postings einzelne Männer als Gewaltausübende benannten, mit langwierigen Konflikten um ihre Vorwürfe rechnen mussten, wurden Beiträge von Männern tendenziell positiv aufgenommen. Insgesamt richtete sich damit zwar tatsächlich die Aufmerksamkeit auf Männer als Ausübende von unterschiedlichen Formen von Gewalt - ihre Postings hatten für sie aber kaum negative Konsequenzen. Absurderweise konnten die Reuigen mit positivem Feedback rechnen.

Obwohl sexualisierte Gewalt ein strukturelles Problem ist, kann die individuelle Anzeige von Straftaten ein sinnvoller Weg für manche Betroffene sein. Weiterhin werden aber sehr viele Vergewaltigungen aus unterschiedlichen Gründen nicht angezeigt. Gewalttätige Männer, die nicht nur Einsicht wegen des digitalen Klaps auf die Schulter heucheln, sollten Selbstanzeige erstatten.

Die Art und Weise, wie Journalist_innen und Feminist_innen Rape Culture als in der Gesellschaft verankertes System diskutieren, birgt die Gefahr, die Frage nach der individuellen Verantwortlichkeit von gewalttätigen Männern in den Hintergrund zu rücken.

#metoo hat nur einen minimalen Einfluss auf die nicht-digitale Welt. Dabei ging die Thematisierung einer Kultur, die sexualisierte Gewalt leugnet, verharmlost und entschuldigt, zum Beispiel in der autonomen Frauenbewegung oder der Riot Grrrl-Bewegung mit einer Kampfansage einher: Zentral war nicht nur Sichtbarkeit, sondern vor allem kollektive und individuelle Gegenwehr. Wirklich solidarisch zu sein würde jedoch bedeuten, den Kampf von weniger privilegierten Frauen gegen die Gewalt und gegen strukturell bedingte Ausschlüsse von Hilfsangeboten ins Zentrum zu rücken.

Anmerkungen:

1) Monika Schröttle/Ulrike Müller: Lebenssituation, Sicherheit und Gesundheit von Frauen in Deutschland. BMFSFJ 2004.

Schröttle, Hornberg u.a.: Lebenssituation und Belastungen von Frauen mit Beeinträchtigungen und Behinderungen in Deutschland. Bielefeld, Frankfurt, Berlin, Köln 2011.

Hansjörg Dilger / Kristina Dohrn: Living in Refugee Camps in Berlin. Women's Perspectives and Experiences. Berlin 2016.

Women's Refugee Commission: Falling through the Cracks. Refugee Women and Girls in Germany and Sweden. New York 2016.

2) BKA: Partnerschaftsgewalt. Kriminalstatistische Auswertung. Wiesbaden 2016. Online unter www.bka.de/ DE/Presse/Listenseite_Pressemitteilungen/2016