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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 633 / 12.12.2017

Aufgeblättert

Russische Geschichte

Moskau, im Dezember 1914: »Ich habe Marussjas deutsche Porzellanpuppe als Spionin verhaftet, ich wollte sie erschießen, aber Marussja hat gleich losgebrüllt.« Während der siebenjährige Nikolka Muromzew hier im Spiel von seiner weniger »patriotischen«, zwei Jahre jüngeren Schwester ausgebremst wird, dient der Vater Ilja »Iljuscha« Stepanowitsch im Ersten Weltkrieg als Arzt an der Front. Im Dezember 1942 stirbt Nikolka als freiwilliger Soldat der Reserve der Roten Armee bei Stalingrad; sein Vater ist schon ein halbes Jahr tot, nachdem ihn in Moskau ein Bombensplitter getroffen hat. 1996 wird Nikolkas Ururenkel Iljuscha geboren, 2002 spielt er am liebsten mit Lego. In dem Bilderbuch »In einem alten Haus in Moskau« erzählen nur die Kinder. Sie erläutern anhand der Geschichte zweier Familien die Geschichte der Sowjetunion und des heutigen Russlands entlang ausgewählter Jahre zwischen 1917 und 2002 - aus der Perspektive von Kindern, aber keinesfalls nur für Kinder. Lehr- und detailreich in Wimmeloptik gezeichnet, unterlegt mit Collagen »echter« Dokumente, wurde hier historisches Wissen und Alltagserfahrung auf überlegte und einprägsame Art ins Verhältnis gebracht. Der zuweilen heitere, zuweilen bittere Blick auf die weniger heldenhaften Momente der siegreichen Sowjetunion erleichtert es den Leser_innen, deren ambivalente Komplexität zu begreifen. Nicht zuletzt kann man Vergnügen daran finden, einen Comic mit einem Anmerkungsapparat zu lesen.

Claudia Krieg

Alexandra Litwina, Anna Desnitskaya: In einem alten Haus in Moskau. Ein Streifzug durch 100 Jahre russische Geschichte. Gerstenberg-Verlag, Hildesheim 2017. 60 Seiten, 24,95 EUR.

Photo-Shooting

Keine Hamburger Demo ohne Marily Stroux. Nun hat die 67-jährige Fotojournalistin im Eigenverlag eine Broschüre herausgebracht, die einen kleinen, aber eindrucksvollen Ausschnitt ihrer in mehreren Jahrzehnten geleisteten Arbeit abbildet. Anlass war ihre Anfrage beim Verfassungsschutz (VS), ob Daten über sie gespeichert seien - als griechische Migrantin hatte sie überlegt, sich nach 35 Jahren in Deutschland einbürgern zu lassen. Drei Jahre später kam die Antwort an ihren Anwalt, die in der Broschüre dokumentiert ist: fünf Seiten mit detaillierten Angaben über verdächtige Aktivitäten. Fazit des VS: »Somit bestehen tatsächliche Anhaltspunkte für den Verdacht, dass Ihre Mandantin sich an linksextremistischen Bestrebungen beteiligt.« Dass sie sich als engagierte Linke begreift und mit ihren Fotos »Veränderungen in den Köpfen« anstrebt, hat sie nie verschwiegen. Dem VS reichte das offensichtlich nicht; eine seiner »Quellen« ist eine später aufgeflogene verdeckte Ermittlerin. Mit ihrer Broschüre gibt Marily Stroux auch »eine fotografische Antwort auf 28 Jahre Bespitzelung«. Die von ihr ausgewählten Schwarzweißfotos zeigen wichtige Stationen linker Geschichte, vor allem in Hamburg: den Kampf um die Hafenstraße und die Rote Flora, den Hamburger Kessel, Hausbesetzungen, Aktionen zur Solidarität mit Geflüchteten. Enthalten sind aber auch Fotos vom Antirassistischen Grenzcamp auf Lesvos 2009 oder Aktivitäten zur Unterstützung von RAF-Gefangenen: linke Bewegungsgeschichte in Bildern.

Jens Renner

Marily Stroux: Shooting Back. Eine fotografische Antwort auf 28 Jahre Bespitzelung. Eigenverlag, Hamburg 2017. Bestelladresse: marily@busyshadows.org. 64 Seiten, 4 EUR incl. Porto.

Scheitern als Chance

Anna Sperks Erstlingswerk zeichnet den Weg der angehenden Ethnologin Alexandra durch ihr Studium in den 1990er Jahren sowie die Feldforschungs- und Promotionsphase in den 2000ern nach. Sprachlich bisweilen recht sperrig, besticht der Roman jedoch durch die genaue Schilderung der oft harsch unterbrochenen Lebensläufe von DDR-Wissensschaffenden (Schauplätze sind ein leicht verfremdetes Leipzig und Halle/Saale) sowie den damit einhergehenden Brüchen in Biografien und im akademischen System. Die Autorin seziert ebenso die neoliberale Zurichtung des Wissenschaftsbetriebs im 21. Jahrhundert, in dem Alexandra als ewige hochqualifizierte »Nachwuchs«-Wissenschaftlerin bis Mitte ihrer 30er Jahre von Stipendium zu Kurzzeitvertrag zu Arbeitslosigkeit und zurück gereicht wird - eine Schilderung systemischen Scheiterns, die nah an der Realität bleibt, nicht anklagt, aber auch keine emanzipatorischen Auswege erfindet. Wissenschaft ist hier ganz Marxscher Vampir, der menschliche Arbeitskraft aufsaugt, um sich zu nähren - der Mehrwert ist jedoch nebulös zwischen Reputation, Forschungsgeldern und tatsächlichem Wissensgewinn verortet. Die Protagonistin entscheidet sich schlussendlich bewusst gegen diese Zumutungen und für die Mutterrolle. Sperk unterstreicht hierdurch die geschlechtlichen Diskriminierungsmechanismen des Systems Universität; ihr Roman zeigt so jedoch eine Entscheidung auf, die sicher nicht alle Leser_innen als gangbaren, progressiven Weg ansehen werden.

Andrès de Oso

Anna Sperk: Die Hoffnungsvollen. Mitteldeutscher Verlag, Halle/Saale 2016. 544 Seiten, 19,95 EUR.

Alltagswiderstand

Der Sozialwissenschaftler und Erwerbslosenaktivist Harald Rein knüpft mit seinem neuesten Buch »Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen« an die vor allen in englischsprachigen Ländern geführte Debatte über die Poor People's Movements an. Es sind soziale Bewegungen von Menschen, die weitgehend außerhalb der Lohnarbeitsprozesse stehen und denen auch von linken Sozialwissenschaftler_innen oft politisches Desinteresse unterstellt wird. Letztere beziehen sich dabei auf die Marienthal-Studie von Anfang der 1930er Jahre. Marienthal war ein österreichisches Dorf, in dem nach der Pleite einer großen Textilfabrik ein Großteil der Bewohner_innen erwerbslos wurde. Resignation und Apathie bei vielen von Ihnen waren die Folge. Rein kritisiert, dass die Ergebnisse bis heute unzulässig verallgemeinert werden. Sehr kenntnisreich und detailliert beschreibt er, wie sich Erwerbslose nach der Novemberrevolution von 1918 in Räten organisierten und von den Gewerkschaften selbstbewusst Unterstützung und Solidarität einforderten. Detailliert und ohne antikommunistische Reflexe stellt der Autor auch die Erwerbslosenpolitik der KPD in der Weimarer Republik vor. In den letzten Kapiteln listet er die unterschiedlichen Themenfelder der jüngeren Erwerbslosenbewegung auf. Dabei richtet er den Blick auf den Alltagswiderstand von Erwerbslosen, der sich rund um die Jobcenter abspielt. Zu hoffen ist, dass sich manche durch die Lektüre des Buches zur Nachahmung ermutigt fühlen.

Peter Nowak

Harald Rein: Wenn arme Leute sich nicht mehr fügen...! Bemerkungen über den Zusammenhang von Alltag und Protest. AG SPAK, Neu-Ulm. 184 Seiten, 14,80 EUR.