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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 633 / 12.12.2017

Trio der Vielen

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Rechte Entgegen der Theorie des »isolierten Trios« hat der NSU-Komplex viele Netzwerke

Von Caro Keller

Am 25. Juli 2017 war es nach langer Wartezeit soweit: Der Münchener Prozess gegen den Nationalsozialistischen Untergrund (NSU) schloss seine Beweisaufnahme ab, und es begann die Plädoyerphase. Über die letzten viereinhalb Jahre war der NSU-Prozess, so paradox dies klingen mag, aus Sicht vieler Beobachter_innen immer weiter vom eigentlichen Thema - dem NSU-Komplex - abgerückt. Im Verlauf der vielen Hundert Prozesstage stellten die Verteidiger_innen ihre Mandanten als friedvolle Zeitgenossen mit Respekt »vor allen Völkern« dar, ein Gutachter versuchte, die Angeklagte co-zuverteidigen, und Befangenheitsanträge verschleppten das Verfahren um Wochen.

Nun aber haben aber alle Verfahrensbeteiligten die Möglichkeit, ihre Sicht auf die Dinge darzustellen. Plötzlich wird man daran erinnert, worum es eigentlich geht: um die Ermordung von zehn Menschen, vor allen Dingen aus rassistischen Gründen, um rassistische Sprengstoffanschläge, die Hunderte Menschen schwer verletzten und um die Folgen der Verbrechen.

Die Bundesanwaltschaft machte den Anfang und sorgte sogleich für inhaltliche Irritationen. Bei aller Deutlichkeit gegenüber den in München Angeklagten rückte sie nicht von der These ab, die sie seit Beginn der Ermittlungen verfolgt: der Theorie vom »isolierten Trio« NSU, einer Neonaziterrorzelle ohne weiteres Unterstützerumfeld, das vor den Behörden verborgen blieb. Diese sollen dementsprechend nichts mit den Verbrechen zu tun haben. Tiefschläge gegen Angehörige, Nebanklagevertreter_innen und Journalist_innen, die diesem Narrativ nicht folgen, blieben ebenfalls nicht aus.

Seit die Nebenklage ihre Plädoyers hält, wird allerdings viel deutlicher, was mit dem Wort vom »NSU-Komplex« gemeint ist: das Kerntrio, das Neonazinetzwerk, das Handeln von Polizei und Verfassungsschutz, die mediale Berichterstattung, die Rolle der Gesellschaft und Rassismus als roter Faden, der sich durch das (Nicht-)Handeln und Denken aller Beteiligten zieht.

Hervor tritt außerdem sehr konkret das Neonazinetzwerk, ohne das der NSU nicht denkbar gewesen wäre. Bei genauerem Hinsehen müsste hier vielleicht sogar von einer Mehrzahl an Neonazinetzwerken die Rede sein, in denen sich der NSU bewegte.

Diese Netzwerke standen nie vor Gericht in München oder anderswo, und nur ein Bruchteil der vielfältig Beteiligten war je als Zeug_innen beim Oberlandesgericht geladen. Dabei stellt die Frage nach den Netzwerken eine der zentralsten im NSU-Komplex dar und ist der Schlüssel für die drängenden Fragen, die auch die Angehörigen und Betroffenen stellen. Warum wurden ausgerechnet ihre Verwandten, ihre Geschäfte, ihre Straßen ausgewählt? Wer war an den Morden und den Anschlägen konkret beteiligt?

Viele Fragen sind offen, viele Beteiligte lassen sich noch nicht konkret namentlich benennen. Doch nach dem aktuellen Stand lässt sich ein Bild nachzeichnen: Bei den Netzwerken handelt es sich um Strukturen mit einem verbindenden ideologischen Muster. Sie bilden eine Unterstützungsstruktur, die sich über das Ziel des mörderischen Rassismus und Antisemitismus einig ist, auch wenn nicht alle konkret über einzelne Verbrechen Bescheid wissen müssen. Der NSU konnte sich stets auf ein grundsätzliches Einverständnis verlassen. Dieses Netzwerk ist eines, dessen Aktivitäten zu Morden führt, auch wenn nur Einzelne die konkreten Morde begehen.

Das Netzwerk der Politisierung

Der NSU wurde in den Reihen des Thüringer Heimatschutz (THS) und der Kameradschaft Jena politisiert und sozialisiert. Während der rassistischen Mobilisierung in den 1990er Jahren beteiligten sich die Neonazis des NSU am Straßenterror in Jena und Thüringen, nahmen an politischen Aktionen und Schulungen teil, besuchten bundesweit Konzerte und Demonstrationen. Die Rede ist hier von bis zu 170 Personen, zwischen denen sich kleinere, festere Freundeskreise bildeten. Gerade die Kameradschaft Jena radikalisierte sich zunehmend. Der THS und die Kameradschaft Jena wurden zu einem ersten Netzwerk des NSU. Vor 1998 machten sie gemeinsam neonazistische Aktionen bis hin zum Ablegen von Sprengstoffattrappen, sie diskutierten über rechte Terrorkonzepte und deren Machbarkeit und Notwendigkeit. Hier sind die Anfänge der Mord- und Anschlagsserie zu suchen.

Das Netzwerk der Einbindung

In der Zeit vor 1998 wurde und hat sich der spätere NSU immer stärker in die bundesweiten und internationalen Netzwerke der Neonaziszene eingebunden. Er war Teil der Netzwerke von Blood & Honour, Combat 18, der Hammerskins und deren Umfeld. In diesen Zusammenhängen wurden auf Konzerten und Demonstrationen Kontakte geknüpft, von hier kamen Terrorkonzepte, die zur weiteren Vernetzung und Radikalisierung des späteren NSU beitrugen.

Das Netzwerk der Unterstützung

Als Beate Zschäpe, Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt im Januar 1998 nach Chemnitz abtauchten, wurden Teile des zuvor geknüpften Netzwerks zu direkten Unterstützer_innen des Abtauchens. Die langjährigen Freund_innen aus Thüringen halfen beim Umzug nach Chemnitz, hielten Kontakt und besorgten alles Notwendige - von Kleidung bis Waffen. Das Umfeld in Chemnitz suchte unter anderem Wohnungen und mietete sie an. Die drei Abgetauchten lebten wohl das normale Leben von Chemnitzer Neonazis, inklusive gegenseitiger Besuche und Geburtstagsfeiern. Als die drei nach Zwickau umzogen, galten dort ähnliche Bedingungen.

Das Netzwerk der Mittäter_innen

Die Taten des NSU wurden nicht von einem »isolierten Trio« begangen, sie hatten mit sehr hoher Wahrscheinlichkeit an allen Tatorten Unterstützer_innen und Mittäter_innen. Um auf konkrete Tatorte zu kommen, brauchten sie Hinweise auf diese. Für Ortsunkundige waren insbesondere die teilweise versteckt liegenden Mord- und Anschlagsorte nicht zu finden. Hierbei könnte sich das NSU-Trio auf Personen gestützt haben, die es aus der Zeit bis 1998 kannte und die beispielsweise in den Tatortstädten arbeiteten. Mittäter_innen mieteten Fahrzeuge für sie an oder nahmen sie in ihren Autos mit. Wer von diesen konkret an Überfällen, Anschlägen und Morden beteiligten Personen wusste, an was sie Teil hatten, wurde nie abschließend ermittelt.

Das Netzwerk der V-Leute

Rund um das NSU-Kerntrio bewegten sich mindestens 40 V-Leute, die für die Landesämter für Verfassungsschutz, das Bundesamt für Verfassungsschutz, den Militärischen Abschirmdienst oder die Polizei spitzelten. Diese Personen saßen nachweisbar auch an Knotenpunkten der zuvor beschriebenen Netzwerke: Der Chef des Thüringer Heimatschutz (Tino Brandt), der Chef von Blood & Honour Deutschland (Stephan Lange), einer der ersten Sprengstofflieferanten und Chemnitzer Hauptunterstützer (Thomas Starke), Arbeitgeber und Autoanmieter des NSU (Ralf Marschner) - sie alle waren V-Leute. Damit ist die Frage nach dem Netzwerk auch die Frage nach dem staatlichen Mitverschulden.

Das Netzwerk der Nachbarschaft

In Chemnitz, Zwickau und im Urlaub konnte sich der NSU bewegen wie die sprichwörtlichen Fische im Wasser. Gerade der Blick auf die Nachbarschaften in Zwickau zeigt: In der Polenz- und der Frühlingsstraße musste offenbar niemand mit seinem Rassismus hinter dem Berg halten. Der NSU bewegte sich in einem Umfeld, in dem es normal war, sich rassistisch zu äußern, in dem es normal war, mit Neonazis offen zu sympathisieren und Hitler-Büsten auf dem Fernseher zu haben. Es ist davon auszugehen, dass sich der NSU nicht groß vor seinen Nachbar_innen verstellen musste und sie in ihrer Nachbarschaft mehr als akzeptiert waren. Die »normale« rassistische Stimmung, die im Gerichtssaal bei Aussagen der Nachbar_innen und in TV-Dokumentationen zu sehen war, könnte dem NSU noch den Rücken gestärkt haben.

Das gesellschaftliche Netzwerk

Ein Neonazinetzwerk, das zur Tat schreitet, käme nicht weit, wenn es von einer Gesellschaft umgeben wäre, die keine weitgehenden ideologischen Überschneidungen mit ihm hat. Eine solche Gesellschaft hätte die Morde des NSU als rassistische erkennen können, hätte die Betroffenen gehört, wenn sie auf rechte Motive aufmerksam machten. In einer solchen Gesellschaft hätte die Polizei nach Neonazis gefahndet und nicht rassistisch ermittelt. Die Medien hätten es ihr gleichgetan und rassistische Annahmen zurückgewiesen. Eine solche Gesellschaft hat der NSU nicht vorgefunden. Da die reale Gesellschaft rassistisch geprägt ist, hat sie damit auch einen Teil des Netzwerks gebildet, in dem sich der NSU bewegt hat. Neonazis morden rassistisch - die Polizei ermittelt rassistisch - die Medien berichten rassistisch - die Mehrheitsgesellschaft inklusive ihrer Linken hören die Betroffenen nicht und hinterfragen nichts. So blieb der NSU bis 2011 unentdeckt.

All diese Netzwerke greifen ineinander, und sie alle teilen die Erfahrung einer Straf- und Konsequenzlosigkeit. Vor dem Gericht in München wurden zwar weite Teile des Politisierungs- und des Chemnitzer Unterstützungsnetzwerk vernommen. Die Neonazis konnten im Prozess ungestraft lügen oder Erinnerungslücken vortäuschen. Hier endete diese Richtung der Beweisaufnahme. Lediglich gegen neun weitere Unterstützer_innen laufen noch Ermittlungsverfahren. Den vermuteten Unterstützer_innen in Zwickau, an den Tatorten und weiten Teilen des Netzwerks der V-Leute wurden, trotz entsprechender Beweisanträge, nicht nachgegangen. Die Mitglieder der Netzwerke des NSU sind zum Großteil auf freiem Fuß, unter ihnen viele weiterhin aktive Neonazis. Während sich die Gesellschaft in Deutschland immer offener von ihrer völkisch-rassistischen Seite zeigt, muss umso lauter gefordert werden, dass unter den NSU-Prozess kein Schlussstrich gezogen wird. Die Netzwerke des NSU müssen aufgedeckt werden, und wir als Antifaschist_innen sollten dabei den längeren Atem haben.

Caro Keller ist aktiv in dem antifaschistischen Netzwerk NSU-Watch, das unter anderem den NSU-Prozess in München beobachtet (www.nsu-watch.info).