Die globale Fabrik
Diskussion Warum es den einen Ort des Klassenkampfes nicht gibt und weshalb eine Neue Klassenpolitik viel von den Räumen der Logistik lernen kann
Von Fabian Namberger
Es ist der ewige Traum der Klassenpolitik: Wie schön wäre es, wenn es diesen einen Ort gäbe, an dem man dem Monstrum »Kapitalismus« endlich gegenübertreten und ihm - in einer epischen Schlacht des Gut-gegen-Böse, David-gegen-Goliath - ein für alle Mal den Garaus machen könnte. So »einfach« wie es die - meist männlich-heroischen - Erzählungen Hollywoods immer wieder auftischen, ist Klassenpolitik natürlich nicht und - falls das ein Trost sein kann - auch nie gewesen. Dennoch hat die Debatte um eine Neue Klassenpolitik bereits eine kleine, aber feine Liste potenziell erfolgversprechender - neuer und auch nicht so »neuer« - »Angriffsflächen« für eine Klassenpolitik auf Höhe der Zeit zu Tage gefördert: Kämpfe im Care-Bereich (sei es, schlecht bezahlt, in der Pflege- und Serviceindustrie oder, unbezahlt, in der »privaten« Hausarbeit), Kämpfe im Betrieb (sei es in Hinblick auf lokale Verbesserungen oder gar mit dem Anspruch, internationale Brücken der Solidarität zu bauen) sowie Kämpfe um bezahlbaren Wohnraum (sei es in Städten oder auf dem Land). Die Orte einer Neuen Klassenpolitik - das lässt sich als vorläufiger Debattenzwischenstand bereits festhalten - sind so zahlreich wie divers. Oder, noch einmal deutlicher gewendet: Den einen Ort des Klassenkampfes gibt es nicht, gab es nie und wird es, aller Voraussicht nach, auch nie geben.
Alles neu macht die Logistik? Mitnichten!
Trotzdem kann eine Neue Klassenpolitik viel von einer Entwicklung lernen, die in den vergangenen Jahren und Jahrzehnten immer sichtbarer geworden ist und deren eigene Widersprüche aufschlussreich für ein globales kapitalistisches System im Ganzen ist: die sogenannte »logistische Revolution«. Diese hat ihren Ursprung - wie so viele technologische Innovationen des Kapitalismus - im Militär und kommt, zumindest auf den ersten Blick, ausgesprochen unspektakulär daher. Denn im Mittelpunkt der logistischen Quantensprünge der vergangenen Jahrzehnte steht - neben entscheidenden Fortschritten in der digitalen Datenverarbeitung - nichts anderes als die viereckige Langweiligkeit des Schiffscontainers: einer exakt genormten Kiste zum Transport von Waren. Die weltweite Standardisierung des Güterverkehrs auf die Maße des Containers ermöglicht es, die für das Kapital so unliebsamen Zeit- und Reibungsverluste bei Transport, Verschiffung und Verladung von Waren auf ein Minimum zu reduzieren, und schafft damit die Grundlage dafür, Güter noch schneller von A nach B zu bringen. Stellten die Knotenpunkte des Verladens von Schiff auf Bahn auf LKW (oder in jeglicher anderen Reihung) einst noch zeitaufwändige Hindernisse dar, folgt dieser Prozess heute den immer gleichen - und damit extrem beschleunigten - Protokollen, deren zentrale Logik so maßlos stupide wie effektiv ist: Kiste auf Kiste auf Kiste.
Trotz dieser »Fortschritte« ist die Logistik (beziehungsweise ihre grundlegende Logik) keineswegs so neu wie der Begriff der logistischen Revolution vermuten lässt. In gewisser Weise sind die Räume der Logistik - Containerterminals, Häfen und Flughäfen, Lagerhallen, Öl-Pipelines und Tiefsee-Datenkabel - nichts anderes als die Einlösung eines »Versprechens«, das Karl Marx bereits vor anderthalb Jahrhunderten - vor allem im zweiten Band des Kapitals sowie in seinen ökonomischen Manuskripten - gab. (1) In letzteren argumentierte Marx, dass die kapitalistische Produktionsweise notwendigerweise darauf hinarbeiten müsse, Kapital- und Warenströme beständig zu beschleunigen und »die Zeit, die die Bewegung von einem Ort zum andren kostet, auf ein Minimum zu reduzieren«. (2) Was Marx auch schon wusste: Der Transport von Waren von einem Ort zum anderen ist - entgegen unseres Alltagsverständnisses - Teil des Produktionsprozesses und schafft daher Wert. Mit anderen Worten: Zum Produktionsprozess gehört nicht nur die Herstellung verschiedener Waren - Autos, Babyschnuller, Cordhosen - in der Fabrik, sondern ebenso der Transport dieser Waren von der Fabrik an andere Orte - sei es zur Weiterverarbeitung, zwischenzeitlichen Lagerung oder zum Verkauf. Die Logistik- und Transportindustrie ist der kapitalistischen Produktion nicht nachgelagert, sie ist ihr zentrales Nervensystem.
Nur vor diesem Hintergrund lässt sich verstehen, warum Arbeitskämpfe in der Logistik immense Sprengkraft besitzen und weshalb die global verzweigte Geografie der Logistik - samt ihres exzessiven Rationalisierungs- und Effektivitätswahns - nichts anderes ist als die Materialisierung von Tendenzen (politischer wie auch ökonomischer Natur), die dem Kapital schon immer innewohnten: Prekarisierung von Arbeitskraft und Zerschlagung von Gewerkschaftsbündnissen einerseits; Kostenreduzierung, Flexibilisierung von Lieferketten, Minimierung von Lagerzeiten sowie Reduzierung der Zeit des Kapitalumschlags andererseits. (3) Der heutige Kapitalismus, das ist Marx' Flaschenpost an das 21. Jahrhundert, ist auf globale logistische Netzwerke angewiesen - mehr denn je!
Taylorismus reloaded
Dabei darf die oberste Maxime der Logistik - reibungsfreier Fluss von Daten, Waren und Kapital - nicht darüber hinwegtäuschen, dass ihre angeblich so naht- und makellose Landschaft von tiefen Rissen und Verwerfungen durchzogen ist. Logistik, so fasst es der Philosoph und Soziologe Alberto Toscano zusammen, ist »ein zutiefst inkohärentes, widersprüchliches, konflikthaftes und umstrittenes Gebiet«. (4) Es sind diese Bruchstellen, an denen die Hebel einer Neuen Klassenpolitik ansetzen können und sollten. In diesem Sinne: Entgegen allem Gerede von der vollkommenen Automatisierung logistischer Arbeitsprozesse (selbst wahrscheinlich das zentralste ideologische Versprechen der logistischen Revolution), sind Arbeiter_innen keineswegs so leicht zu ersetzen, wie es die hochglanzpolierten Werbebroschüren der Logistikriesen gerne hätten. Menschliche Arbeitskraft ist, trotz aller Bemühungen der Industrie, diese Realität kleinzureden, unverzichtbar für die Logistik.
Die in den vergangenen Jahren prominenter gewordenen Streik- und Protestaktionen bei Amazon - neben Walmart einer der weltweiten Vorreiter der logistischen Revolution - machten das wiederholt deutlich. Und gerade in Sachen Arbeitsorganisation und -rechte ist die Logistikbranche keineswegs so fortschrittlich wie sie sich gerne gibt. Vielmehr wird sich munter bei den »Klassikern« des 19. Jahrhundert und allen voran bei den Prinzipien des Taylorismus (5) bedient. Letzterer kehrt heute in digitalisierter Form in hiesige Logistikzentren zurück. Die Warenauslieferungshallen von Amazon etwa sind absichtlich ungeordnet: Gartengeräte lagern neben Videospielen, Bürostühle neben Windeln. Dieses Chaos hat System. Arbeiter_innen (sogenannte »Picker«), deren Aufgabe es ist, die bestellten Waren aus dem Lager zum Versand zu schaffen, sollen sich in den riesigen Hallen nicht anders orientieren können als mithilfe eines kleinen Handcomputers, der (im Gegensatz zu seinem menschlichen »Anhängsel«) alle Wege und Lagerorte kennt. Selbstredend sind die Handcomputer zugleich Überwachungswerkzeug: Jeder Computer ist genau einer Arbeiterin zugeordnet und zeichnet mittels GPS-Ortung ihre Arbeitswege (aber auch Pausen- und Toilettengänge) minutiös auf. Was für die industrielle Revolution galt, gilt also auch für die logistische: Nicht die Arbeiterin beherrscht die Maschine, die Maschine beherrscht die Arbeiterin. (6)
Andernorts geht es nicht unbedingt besser zu. So zeigen die Arbeitsbedingungen in den Containerterminals von Häfen, dass es mit dem Ende schweißtreibender industrieller Arbeit nicht unbedingt so weit her ist, wie es die Rede vom »Dienstleistungskapitalismus« mitunter nahelegt. Selbst im globalen Norden, der die industrielle Fertigung seiner Konsumgüter zum Großteil in den globalen Süden ausgelagert hat (siehe Beitrag von Gabriel Kuhn in ak 631), bleibt schwere industrielle Arbeit unverzichtbar. Ebenso bekleidet die Hafenlogistik in den Statistiken zu Arbeitsunfällen stets »Spitzenplätze«. Deborah Cowen beschreibt den Arbeitsalltag der Hafenarbeiter_innen und seine (nicht selten tödlichen) Gefahren etwa so: »Die Körper der Hafenarbeiter_innen fallen von Höhen herab, werden zwischen Maschinen zerdrückt, unter herunterfallenden Ladungen eingeklemmt, von Metallbolzen aufgespießt«. (7) Diese Realität - menschliche Arbeit inmitten unmenschlicher Bedingungen - sichtbar zu machen, ist wichtiges Terrain für eine Neue Klassenpolitik. Mehr noch: Kämpfe in der Logistik eröffnen ein ergiebiges Testfeld für neue Praxen des Antikapitalismus: Ein »Laboratorium des Widerstands« (8), das Gelegenheit bietet, mit neuen wie auch bewährten Formen des Arbeitskampfes - Streiks, Blockaden oder anderen (noch unerprobten und potenziell international koordinierten) Protestformen - zu experimentieren.
Keine Produktion ohne Reproduktion
Wenn logistische Arbeit, erstens, der Sphäre der Produktion zuzurechnen ist und, zweitens, diese Arbeit - zwar nicht ausschließlich, aber dennoch zu erheblichem Teil von Menschen ausgeübt wird, dann kann es zudem nicht schaden, eine »Erkenntnis« in Erinnerung zu rufen, die zwar schon älter ist als die jüngsten Kämpfe bei Amazon und Co, die für die »globale Fabrik« der Logistik aber nicht weniger relevant ist als für die fordistische Fabrik der Nachkriegszeit. Denn während letztere bis heute für viele den Ort des Klassenkampfes schlechthin markiert, stellten marxistische Theoretiker_innen und Feminist_innen wie Mariarosa Dalla Costa und Selma James diese Vorrangstellung schon früh - und allzu richtig - in Frage. (siehe auch das Interview mit Silvia Federici in ak 629) (9) Was damals galt, gilt noch heute: Keine Produktion von Waren in der Fabrik ohne Reproduktion der Arbeitskraft zu Hause.
Eine Neue Klassenpolitik sollte also nicht nur »blind« an die Stätten logistischer Knotenpunkte eilen, sie sollte auch danach fragen, welche Verbindungslinien zwischen einer (teilweise maskulinisierten) Sphäre der logistischen Produktion und einer häuslichen (beziehungsweise zunehmend professionalisierten) Sphäre der Reproduktion bestehen, die zum Großteil von (schlecht oder gar nicht bezahlten) Frauen und Migrant_innen betrieben wird. Eines nämlich gilt für Produktion und Reproduktion gleichermaßen: Diejenigen, die die Welt in Bewegung setzen, können sie auch zum Stillstand bringen. Es wäre nicht das erste Mal, dass Arbeiter_innen eine Fabrik lahmlegen. Wenn diese nun global ist, umso besser!
Fabian Namberger lebt in London und Berlin und ist Redakteur des Onlinemagazins kritisch-lesen.de.
Anmerkungen:
1) Siehe Deborah Cowen: The Deadly Life of Logistics: Mapping Violence in Global Trade, Minneapolis 2014, Seite 100.
2) Karl Marx: Ökonomische Manuskripte. MEW Band 42, Berlin 1983 [1857/1858], Seite 460.
3) Siehe Alberto Toscano und Jeff Kinkle: Cartographies of the Absolute, Winchester 2015, Seite 202.
4) Alberto Toscano: Lineaments of the Logistical State. Viewpoint Magazine 2014: www.viewpointmag.com
5) Taylorismus bezeichnet eine Form der industriellen Arbeitsorganisation, der es in erster Linie darum geht, langwierige und komplexe Arbeitsprozesse in kleinteilige Tätigkeiten zu zerlegen und so die Produktivität von Fabrikarbeit immens zu steigern.
6) Diese Einblicke in die Arbeitswelt von Amazon beziehen sich mitunter auf einen Logistik-Workshop bei der diesjährigen Konferenz der Assoziation für kritische Gesellschaftsforschung (AkG). Siehe zudem die Broschüre der Transnational Social Strike Platform: www.transnational-strike.info
7) Deborah Cowen: The Deadly Life of Logistics: Mapping Violence in Global Trade, Minneapolis 2014, Seite 96.
8) Siehe Jörn Boewe und Johannes Schulten: Der lange Kampf der Amazon-Beschäftigten., Rosa Luxemburg Stiftung, Berlin 2015.
9) Siehe Mariarosa Dalla Costa und Selma James: Die Macht der Frauen und der Umsturz der Gesellschaft. Leipzig 1973.
Serie zu Neuer Klassenpolitik
ak-Autor_innen diskutieren über Klassenpolitik auf der Höhe der Zeit. Sebastian Friedrich skizziert die Grundzüge für eine Neue Klassenpolitik in Kenntnis sexistischer, rassistischer und nationalistischer Klassenfragmentierungen. In der gleichen Ausgabe wirft Keeanga-Yamahtta Taylor einen Blick auf rassistische Klassenspaltungen in den USA. (ak 627) Stefanie Hürtgen warnt davor, bereits vorhandene Gerechtigkeitsvorstellungen von Lohnabhängigen in der Debatte zu ignorieren. (ak 628) Gabriel Kuhn stellt die Organisierungsversuche weißer Arbeiter_innen in den USA vor, und Silvia Federici kritisiert im Gespräch mit Hannah Schultes die Trennung zwischen Klassenpolitik und Identitätspolitik. (ak 629) Frigga Haug appelliert, den Arbeitsbegriff nicht nur auf Lohnarbeit zu verengen. (ak 630) Gabriel Kuhn plädiert dafür, die Gegenüberstellung von Klassenkampf und Antiimperialismus zu überwinden. (ak 631) In ak 632 begründet Philipp Mattern, warum auch die Wohnungsfrage ein Teil Neuer Klassenpolitik sein sollte. Auf sebastian-friedrich.de/neue-klassenpolitik gibt es einen Überblick über die Debatte in ak und in anderen Publikationen.