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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 633 / 12.12.2017

»Wir haben einen langen Atem«

Deutschland Aktivist_innen der Initiative in Gedenken an Oury Jalloh über die Bestätigung der Mord-These nach fast 13 Jahren ihres Kampfes für die Aufklärung

Interview: Claudia Krieg

Am 1. Dezember nennt die WDR-Sendung »Monitor« den Fall Oury Jalloh einen »der größten Justizskandale der bundesdeutschen Nachkriegsgeschichte«: Am frühen Morgen des 7. Januar 2005 wurde Oury Jalloh durch die Dessauer Polizeibeamten M. und S. gewaltsam in Gewahrsam genommen und in der Zelle 5 der Polizeistation auf einer schwer entflammbaren Matratze an Händen und Füßen fixiert. Wenige Stunden später verbrannte Oury Jalloh bis zur Unkenntlichkeit. Über zwölf Jahre lang behaupteten Staatsanwälte und Richter, Innenminister und Justizminister_innen, Jalloh habe das Feuer selbst entzündet und erbrachten als Beweis ein halbverbranntes Feuerzeug. Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh kämpft ebenso lang für die Aufklärung des Mordes.

Am 12. Oktober 2017 stellte die Staatsanwaltschaft Halle das Ermittlungsverfahren im Fall Oury Jalloh ein. Am 16. November berichtet das WDR-Magazin, es habe Ermittlungsakten zugespielt bekommen und die These, dass es Mord war, läge sehr nahe. Wie geht es euch nach den Ereignissen der letzten Wochen und Monate?

Mouctar Bah: Als ich öffentlich in der »Monitor«-Sendung gehört habe, dass die Mordthese bestätigt wurde, war ich nur erleichtert. Ich weiß ja seit langer Zeit, dass der Fall Oury Jalloh ein Mord ist, den staatliche Organe versuchen zu vertuschen.

Nadine Saeed: Wir haben bereits erwartet, dass die Staatsanwaltschaft so weit unter Druck gerät, dass sie zugeben muss, dass es Mord war. Ihr Brandversuch in Schmiedeberg 2016 hat das unabhängige Brandgutachten von Maksim Smirnou von 2013 bestätigt: Es kann nur mit Brandbeschleunigern möglich gewesen sein, einen vollständigen Abbrand der Matratze zu erreichen. Der »Monitor«-Bericht zeigt, dass in den Akten, die unsere Anwälte und Anwältinnen bis dahin nicht bekommen haben, ein Vermerk des leitenden Oberstaatsanwalts Volker Bittmann vom 14. April 2017 zu finden ist. In dem stellt er fest, dass es keine Selbstentzündung gewesen sein kann und sich das Feuerzeug nur »rein theoretisch« in der Zelle befunden habe. Er geht sogar so weit in unserer Argumentation mit, dass das LKA das Feuerzeug manipuliert haben könnte. Obwohl dieser Umstand vermutlich verjährt ist, hat Bittmann ein Mordermittlungsverfahren gegen namentlich bekannte Polizisten eingeleitet. Dieser Aktenvermerk sorgt jetzt für großes Aufsehen und das ist für uns sehr wichtig, weil es das erste Mal ist, dass eine staatliche Behörde anerkennt, dass es Mord war. Unser Druck hat dazu geführt. Die Beweise lagen lange, lange vor.

Der Aktenvermerk wurde weitergeleitet an den Generalbundesanwalt, aber der lehnte die Übernahme des Verfahrens ab - mit der Begründung, er sehe noch kein hinreichend rechtes Tatmotiv und erwarte quasi die Einstellung des Verfahrens. Die Staatsanwaltschaft Dessau hat sich also durchgerungen, das Verfahren abzugeben - ein Riesenschritt. Aber was macht der Generalbundesanwalt? Gibt es zurück an die Generalstaatsanwaltschaft, die im Juni entscheidet, dass die Staatsanwaltschaft Halle übernehmen soll - eine Behörde, die von den Verfahrensinhalten gar keine Ahnung hat. Aus unserer Sicht wurde sie nur ausgewählt, weil sie das Verfahren einstellen sollte. Und so geschah es auch.

Wie habt ihr darauf reagiert?

N.S.: Wir organisieren seit August eine internationale Untersuchungskommission. Als die Nachricht von der Verfahrenseinstellung kam, haben wir gesagt: Jetzt reicht es uns nach über 12 Jahren. Jetzt reisen wir in verschiedene europäische Städte, um uns mit Anwälten, Journalisten und Fachexperten zu treffen, die in der Kommission mitarbeiten sollen. Wir haben kein Vertrauen in den Rechtsstaat. Er hat zwölf Jahre lang gemauert, gelogen, manipuliert und vertuscht. Die Staatsanwaltschaft interpretiert Gutachten gezielt falsch. Aber auch wenn wir jetzt keine konkreten Forderungen mehr an das Rechtssystem stellen, werden wir weiterhin alles tun, um dessen Lügen zu entlarven.

Thomas Ndindah: Wir haben früh begonnen, externe Einschätzungen einzuholen. Schon während der zweiten Obduktion in Frankfurt am Main haben wir einen Gutachter beauftragt. Während des Revisionsverfahrens 2012 gegen den zuvor freigesprochenen leitenden Beamten haben wir das erste Brandgutachten anfertigen lassen. Immer wieder haben wir dabei auch die Idee einer Kommission verfolgt. Dies scheint uns einer der wenigen Wege, vorzuführen, wie gezielt und strukturell die Verbrechen gedeckelt werden.

Ihr agiert stark von Berlin aus. Wie die Ermittlungen behandelt werden, hängt auch mit der politischen Situation in Sachsen-Anhalt zusammen, nicht zuletzt mit der starken Position der AfD. Diese hetzt gegen einen Grünen-Politiker, der einen Untersuchungsausschuss im Fall Jalloh fordert, die CDU stellt sich vor ihre Justizministerin, die gezielt Nichtinformation über die Mordermittlungen betrieben hat und ihr innenpolitischer Sprecher warnt vor einer »Hetzjagd auf Polizisten«. In den Medien wird nur sehr wenig berichtet. Welchen Rückhalt habt ihr denn gesellschaftlich in dem Bundesland?

N.S.: Es gibt immer mehr Leute, die uns angesichts der Fakten, die wir bringen, unterstützen. Aber die Einstellung der Bevölkerung oder der Politiker zu ändern, ist nicht unser Ziel. Unsere Zielgruppe ist die gesamte Gesellschaft, über Sachsen-Anhalt und Deutschland hinaus. Hier stellen wir die Fragen: Warum ist so ein Mord überhaupt möglich, warum wird er vertuscht?

T.N.: In Sachsen-Anhalt sind Magdeburg und Halle die größeren Städte. Magdeburg ist der Regierungsbezirk. In Halle gibt es Bemühungen, in einem breiten Bündnis die bürgerliche Mitte zu mobilisieren, weil die Staatsanwaltschaft Halle die Einstellungsverfügung getroffen hat und die Bürger nun ein Problem haben: Der Name ihrer Stadt taucht in diesem unsäglichen Prozess auf. In Dessau wiederum gibt es eine breite bürgerliche Ignoranz gegenüber dem, was passiert. Und die AfD ist mit über 20 Prozent sehr stark.

In Dessau gab es nicht nur den Fall Oury Jalloh, sondern auch den Fall Yangjie Li, die vom Sohn eines Polizistenehepaars und dessen Freundin ermordet wurde. Die Eltern des Mörders haben versucht, das zu vertuschen. Und es gab die Tode von Mario Bichtemann und Hans Jürgen Rose im selben Polizeirevier, in dem Oury Jalloh ermordet wurde. (1) All das hat über all die Jahre zu keinen Ermittlungen geführt. Es gibt starke Verbindungen zwischen der AfD und den Polizeikräften. (2) Da könnte man sich als Stadtbewohner schon fragen, was da eigentlich los ist. Das passiert aber nicht. In Dessau gibt es eigentlich keine Stimmung, hier die Übernahme von Verantwortung einzufordern. Oder wie es ein Lokalberichterstatter ausgedrückt hat: »Sie wollen nichts mehr davon hören, sie wollen nichts mehr davon wissen, sie wollen einfach in Ruhe gelassen werden.« Und am liebsten würden sie unsere Gedenkdemo am 7. Januar auch noch verbieten lassen.

Nun wird aber schon vielfach von einer »Wende« in dem Fall Oury Jalloh gesprochen. Wie seht ihr das?

T.N.: Diese »Wende«, die jetzt diagnostiziert wird, hat so nicht stattgefunden. Beziehungsweise gab es sie bezogen auf die Aufklärung des Falles schon vorher, weil wir Belege hatten, dass die These von der Selbstanzündung nicht stimmen kann. Man sollte dies nicht der Staatsanwaltschaft Dessau anrechnen.

M.B.: Und es bleibt ja auch dabei: Es wurde nie in die andere Richtung ermittelt. Es hieß sofort, dass sich »der Drogendealer« selbst in der Zelle angezündet hat und dabei blieb es auch.

N.S.: Alle Tatortermittlungen wurden einseitig geführt. Es war eher eine Manipulation von Spuren und des Tatortes selber als eine Tatortermittlung nach geltenden Standards, eine systematische Vertuschung schon am Tag des Mordes selbst, am 7. Januar 2005. Was jetzt geschieht, ist eher eine Wende im Umgang damit, wie der Fall behandelt wird. Vorher war es eine systematische Täter-Opfer-Umkehr.

M.B.: So wie bei den Opfern des NSU oder bei Laye Condé oder Mariama Sarr, Dominique Kumadjo, Christy Schwundeck und vielen anderen auch - sie wurden alle sofort als Täter hingestellt. Das Gewaltmonopol weiß um die Unterstützung von Politik und Justiz. Und wir? Wir begreifen nicht, wie jemand soweit gehen kann, einen Menschen bei lebendigem Leib zu verbrennen.

T.N.: Wenn Menschen im Staatsdienst nicht dafür zur Verantwortung gezogen werden, setzt sich dieser Tabubruch als Kontinuität fort. Die Staatsanwaltschaft Halle behauptet, man könne das Brandgeschehen deshalb nicht aufklären, weil es zu viele unterschiedliche Faktoren und Möglichkeiten gäbe. Was heißt das beispielsweise vor dem Hintergrund der vielen Brandanschläge auf Asylbewerberheime? Wenn man sagt, Brandgeschehen kann man nicht aufklären, ist das ja eine Ermutigung, Feuer als Tatwaffe explizit zu benutzen. Und es bietet auch in Zukunft die Möglichkeit, zu sagen: Das konnten wir nicht rausfinden.

N.S.: Der Staat betreibt nach wie vor auf zynische Art Augenwischerei. Diese Vertuschung versuchen wir aufzudecken. Wir haben faktisch die Ermittlungsarbeit übernommen, weil es die Staatsanwaltschaft nicht tut. Das ist noch relativ neu, dass zivile Personen diese Ermittlungsarbeit übernehmen. Wir sind dabei großer Repression ausgesetzt. Insbesondere die Freunde und die Familie von Oury Jalloh aus Dessau wurden immer weiter schikanisiert. Sie werden angezeigt, es wird rechtswidrig gegen sie vorgegangen, durch traumatisierende Polizeieinsätze, die einer rechtlichen Grundlage entbehren. Bis heute sitzen wir immer wieder vor Gericht und bekommen Anzeigen vom Staatsschutz in Dessau.

Seid ihr mit anderen Betroffenen und Angehörigen von Opfern rassistischer Gewalt im Austausch?

T.N.: Wir haben das NSU-Tribunal im Mai mit vorbereitet und waren dort auch eingeladen, um gemeinsam ein Forum zu bilden mit anderen Angehörigen und Betroffenen. In dem tauschen wir uns jetzt regelmäßig aus. Wir waren gerade bei der Möllner Rede im Exil eingeladen. Dort ging es auch um eine transnationale Ebene. Egal ob es um die USA, Frankreich oder Großbritannien geht: Die Staatsraison in solchen Fällen ist überall die gleiche. Oder anders: Deutschland gilt im Ausland immer noch als eine Art Musterknabe. Alles läuft gut organisiert, der Rechtsstaat funktioniert. Diese Sichtweise relativieren wir mit unseren Erfahrungen. Auch zum NSU-Tribunal wurden eigene Gutachten in Auftrag zu geben, im Fall vom Mord an Halit Yozgat in Kassel beim Institute Forensic Architecture in London. Aber selbst wenn die Untersuchung eindeutig ist, wird gesagt, dass ein Teil der Akten vor Gericht eben nicht öffentlich gemacht wird und dass die Beweisnahme abgeschlossen ist. Was hätte es bedeutet, dieses Gutachten zum Prozess zuzulassen? Es soll einfach keine Ermittlung gegen VS-Leute geben. Deswegen sind die Akten in Hessen für 120 Jahre gesperrt.

Ihr habt außerdem eine Petition ins Leben gerufen, die relativ breiten Rücklauf gefunden hat.

M.B.: Ja, bislang haben über 98.000 Leute unterschrieben. Auch Leute aus Dessau haben mir persönlich gesagt, dass sie das getan haben und das ist für mich besonders wichtig.

N.S.: Wir sind sehr froh, dass es jetzt viele Stimmen gibt, die uns unterstützen. Wir brauchen diese auch, um den Aufbau der unabhängigen Untersuchungskommission voranzubringen.

T.N.: Wir haben schon sehr viel Kraft in die Aufklärung gesteckt. Und wir haben einen langen Atem.

Das Interview wurde am 29. November mit Mouctar Ouldadah Bah, Thomas Ndindah und Nadine Saeed geführt. Die Initiative in Gedenken an Oury Jalloh hat am 7. Dezember 2017 beim Generalbundesanwalt Anzeige wegen Mord gegen den Polizeibeamten S. gestellt. Am 8. Dezember wurden im Rechtsausschuss des Landtags von Sachsen-Anhalt zum ersten Mal die Ermittlungsakten gesichtet.

Anmerkungen

1) Im November 2002 starb Mario Bichtemann unter ungeklärten Umständen an einem Schädelbasisbruch. In der Nacht seines Tods hatten der Polizist Andreas S. und der Polizeiarzt B. in der Wache Dienst.

2) In einem WhatsApp-Chat der AfD, der im Juni 2017 öffentlich wurde, sind namentlich bekannte Bundesbeamte aus Sachsen-Anhalt mit rassistischer Hetze, Bewaffnungsfantasien und NS-Verherrlichung in Erscheinung getreten.

Es war Mord

Laut der Mitteldeutschen Zeitung (MZ) vom 7. Dezember verwirft der Oberstaatsanwalt Folker Bittmann schon im April 2017 in einem Aktenvermerk die Unfall-These, nach der sich Jalloh im Alkoholrausch selbst verbrannt hat. Plausibel sei eine Vertuschung im Zusammenhang mit zwei früheren Todesfällen in der Polizeistation Dessau, heißt es. Hans-Jürgen Rose verstarb dort 1997 nach Misshandlungen, Mario Bichtemann verstarb in der gleichen Todeszelle wie Oury Jalloh an einer inneren Blutung nach Schädelbasisbruch im Jahre 2002: Dienst hatten die selben Beamten wie am 7. Januar 2005. Bittman leitet ein Ermittlungsverfahren wegen eines Tötungsdelikts, begangen von Polizisten, ein. Zu praktischen Ermittlungsschritten kam es nicht, weil die Staatsanwaltschaft Dessau-Roßlau das Verfahren im Mai durch Entscheidung des Generalstaatsanwalt Jürgen Konrad nach Halle abgeben musste. Dort wurde es eingestellt - es gäbe keinen hinreichenden Tatverdacht. Die verschleppte Aufklärung setzte sich im Landtag von Sachsen-Anhalt fort. Sebastian Striegel (Grüne) fordert im Oktober einen unabhängigen Untersuchungsausschuss und wurde dafür von CDU, SPD und AfD scharf angegriffen. Mit dem »Monitor«-Beitrag, der ein Teil der zugespielten Ermittlungsakten öffentlich machte, kam im November Bewegung in die Sache. Die LINKE forderte einen Sonderbeauftragten für den Fall, SPD und CDU wehren sich aber gegen externe Ermittlungen. Der innenpolitische Sprecher der CDU, Jens Kolze, spricht von der Gefahr einer »Hetzjagd auf Polizisten«, Ministerpräsident Reiner Haseloff (CDU) stellt sich hinter die Justizministerin Anne-Marie Keding, deren Rücktritt nun gefordert wird. Sie selbst hat sich bis zuletzt zum Vorwurf der bewussten Fehlinformation nicht geäußert.