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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 634 / 23.1.2018

Schnee im August

Deutschland Wie gut, dass Manja Präkels ihr Buch »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« noch geschrieben hat

Von Claudia Krieg

Manche Tage sind schlimmer als andere. Manche Tage sind seit vielen Jahren zum Beispiel der 9. Mai oder der 8. Februar. (1) Manche Tage sind auch heiße Augusttage, an denen Staubwolken wie Schnee über einen Sportplatz in einer Stadt treiben, wie es ihn schon längst nicht mehr gibt, in einer Stadt, die es sehr wohl noch gibt. Es brennt dann in den Augen, aber ist es nun Schnee oder Staub? Und es brennt im Kopf, aber nicht wegen der schönen Sommerhitze, in der es sich gut im Schatten liegen lässt oder auf einem Handtuch im Freibad. Manche Tage sind auch Tage im Januar, an denen ich nicht weiß, ob es nur die Kälte ist, wegen der ich friere, bis ich beim Aufschließen der Haustür merke, dass es ein anderer Januar ist, eine andere Haustür, eine andere Straße, eine andere Stadt, ein anderes Jahr, ein anderes Jahrzehnt. Eine andere Zeit. Das hilft, bis das nächste Mal das Herz zu klopfen beginnt, beim Einsteigen in eine fast leere Straßenbahn in Potsdam-Waldstadt oder in eine S-Bahn irgendwo im C-Bereich von Berlin oder in einen Regionalzug zwischen Bad Kleinen und Wismar. Dann ist wieder alles anders. Und alles gleich.

Die Angst fährt weiter mit, sie schert sich nicht um Jahre oder Orte. Angst beschützt uns, lese ich im Januar dieses Jahres 2018 in einer Tageszeitung und möchte es gern glauben. Dann höre ich im Radio Manja Präkels, Autorin des Buches »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß«, sagen: »Manchmal habe ich ein bisschen Angst«. Es geht um diejenige, die sie befällt, wenn sie an Orte denkt, an denen Neonazis in den 1990er Jahren Menschen bis hin zum Tode prügelten und wo, 30 Jahre später, mit dem Rückenwind von Pegida und AfD, der gleiche kalte Wind aus Zustimmung und Ignoranz zu wehen scheint, der diese Gewalt häufig begleitete. Aber auch »ein bisschen Angst«, Rat- und Hilflosigkeit, stille Wut und Trauer, immer wieder Versuche, sich zu wehren, zu mahnen, zu ändern, was der Tod unveränderbar macht. Oft abschätzig und überheblich werden diese Ort in »Kaltland« lokalisiert, auch wenn es nur wenige Worte besser treffen - aber auf das Wie kommt es ja an. Es ist dies auch keine Erklärung, sondern nur eine Maßnahme, um nicht zu verstummen oder sich eingestehen zu müssen, dass Erklärungen einem auch nicht immer weiterhelfen, wenn man Angst hat. (2)

Es beruhigt mich jedenfalls, dass Manja Präkels auch ein bisschen weiß, worüber sie spricht. Sie hat ein Buch geschrieben, dass vieles ist. Zunächst ist es die Geschichte von Mimi, die 1972 in einem kleinen Ort in der DDR, Bezirk Potsdam, 1990 aufgegangen im Land Brandenburg, geboren wird. Dann ist es die Geschichte einer Gesellschaft in einem sozialistischen Land, in dem das Grau der Arbeitskleidung und Fassaden dafür sorgte, dass die Farben, die es gab, umso bunter waren - zum Beispiel so wie Mimis knallrotes Motorrad. Es ist zumal die Geschichte der machtvollen Allianz aus Spießigkeit und autoritärem Charakter, die diese Gesellschaft fest im Griff hat, aber auch vielen Menschen einen Platz nicht nur zuweist, sondern auch real zugesteht. Es wird zu einer Geschichte, wie sich all dies verändert, so schnell verändert, dass es einem beim Lesen des Buches, das sehr langsam beginnt, plötzlich schwindlig werden kann. Denn was dann hereinbricht, ist tödliche Gewalt in einem Land, das aufhört zu existieren, um zu »Kaltland« zu werden. Für diese Gewalt steht Oliver, der so eine Art Freund von Mimi ist, sich dann Hitler nennt und zu jemandem wird, mit dem auch Mimi, die sich die Haare rot färbt und am liebsten Musik hört, die heute auf Dark-Wave- oder Depeche-Mode-Partys gespielt wird, keine Schnapskirschen mehr essen wird.

Manja Präkels im Interview über diese Geschichte, die sie da geschrieben hat, sprechen zu hören, hat mir auch deshalb gut getan, weil ich sie gelesen habe, als sei sie nur für mich verfasst worden. Das ist nicht überheblich gemeint, sondern hat eine Vorgeschichte. Nach einer Lesung des »Kaltland«-Buches vor sechs oder sieben Jahren hatte ich kritisiert, dass dort Nazi-Wehrsportlager als albernes Theater dargestellt und die Opfer von Nazigewalt bis auf wenige Ausnahmen nicht zu Wort kommen würden, eine nicht-weiße Stimme gar nicht zu hören sei. Statt dessen wurde während der Veranstaltung immer wieder darauf aufmerksam gemacht, dass man sich ja, wenn es einem nicht so gut ginge mit alldem, einfach ordentlich einen hinter die Binde kippen könne. Ich war schockiert, schrieb eine Email mit der Frage, ob das den kollektiven Gewalterfahrungen gegenüber angemessen erscheine, und Manja Präkels antwortete, dass auch der humoristische Blick auf das Geschehen seine Berechtigung habe.

Heute kann ich ihr da milder gesonnen zustimmen, denn jetzt gibt es das Buch, das ich statt der »Kaltland«-Anthologie eigentlich schon damals lesen wollte. Ich wollte es lesen, seit ich mit 18 die Stadt verließ, in der ich viele Jahre wie in einem einzigen Angstraum verbracht habe. In der im Sommer 1990 auf dem Sportplatz aus Rollsplitt, an dessen Rand wir herumlungerten, aus bis dahin normal durchgeknallten Teenagern wie aus dem Nichts gewalttätige Neonazis wurden - so schien es mir damals zumindest. Als sie begannen, andere normal durchgeknallte Teenager, die es vorzogen, nicht zu gewalttätigen Neonazis zu werden, und sogar Jüngere zu bedrohen und ohne jede Ankündigung auf sie einzuschlagen, war nicht nur die Zeit der DDR, sondern auch die der Kindheit abgelaufen.

Es ist dies nur ein kleiner Teil einer größeren Geschichte. Es gibt Menschen, die sagen, diese sei bereits zu Ende erzählt worden. Aber dafür fehlen noch Perspektiven, die eingeladen werden müssen, sich zu äussern.

Neonazis haben Menschen ermordet, auf brutalste Weise, haben sie verletzt, verfolgt, bedroht, immer wieder, jahrelang. Und sie tun es immer noch. Die rechte Gewalt hört nicht auf, sie steigt wieder an. Die Angst, die sich damit verbindet, ebenso. Die Menschen, die mit ihr leben, sind so verschieden, wie sie verschieden betroffen sind. Viele sind leise, auch weil andere so laut sind. Auch weil es schwer ist zuzugeben, dass die alte Angst mitfährt, wenn die Anti-Nazi-Demo vorbei ist. Es gibt ja glücklicherweise heute viel mehr davon - und in jedem größeren »Kaltland«-Kaff gibt es übrigens auch irgendein Netzwerk demokratischer Kultur, irgendein linkes Jugendzentrum, irgendeine Pfarrerin, die sich dem alten und dem neuen Rassismus entgegenstellt. Es ist manchmal schwer, dies Menschen begreiflich zu machen, die manche Gewalterfahrung nicht machen mussten, und es ist schwer, in alldem leise Töne zu finden, wenn es doch eigentlich zum Schreien ist.

Es ist auch nicht leicht, darüber zu schreiben, das gebe ich zu. Der Sammelband »30 Jahre Antifa im Osten« hat im vergangenen Jahr einen Versuch unternommen, zu katalogisieren, was es an Bemühungen gab, sich dem Neonaziterror entgegenzustellen. (ak 630) Er hat einige der sozialen Schwierigkeiten, Kämpfe und Konflikte eines sich auflösenden gesellschaftlichen Gefüges, wie es das Ende der DDR mit sich gebracht hat, ansatzweise beschrieben und einige der linken Gegenbewegungen aufgezählt, deren Utopien unter die kapitalistische Dampfwalze geraten sind, während ihre Anhänger_innen damit befasst waren, ihre reale Existenz in besetzen Häusern und alternativen Zentren zu verteidigen. Gepresst in ein sozialwissenschaftliches Gerüst, ist dabei ein Buch herausgekommen, dass in mancherlei Hinsicht seine bundesdeutsche Lektion Erinnerungspolitik gelernt hat und einer hierin häufigen Geste folgt: dem »Wir haben alles richtig gemacht«. Woran es ihm fehlt, ist eine tatsächliche Vielstimmigkeit, ein wirkliches gegenseitiges Verständnis und auch ein Format der Selbstkritik.

Spürbar wurde das auf der dem Buch sehr zügig nachgeschobenen Tagung mit selbem Titel Anfang Dezember 2017 in Potsdam. Sollte es wirklich zuerst darum gehen, sich selbst zu einem sozialwissenschaftlichen und geschichtspolitischen Gegenstand zu machen? Die Pausen zwischen Seminar, Workshop, Panel, Podiumsdiskussion mit einem schnellen Kaffee in lärmender Wiedersehensfreude herunterzustürzen? Ich habe dort viel und viele vermisst, und mir war kalt. Es war Dezember, nicht August, Schnee gab es keinen. Ausgehend von einem Podium, dass sich inhaltlich den nachhaltigen Schwierigkeiten zwischen Ostantifa und Westantifa widmen wollte, bleibt von dieser Zusammenkunft ein schnoddriger Tagungsbericht, der mich umso mehr ärgerte, je weiter ich ihn las. (3)

»Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« ist anders. Es ist eine Geschichte darüber, wie alles verrückt wurde. Wie man an nichts mehr glauben konnte und musste. Alles und nichts mehr werden konnte. Vieles, manchmal alles verlor. Dazwischen geht die christdemokratische Marktwirtschaft mit der Sense durch die Landschaft, die NDP und die Republikaner im Gefolge. Und die Angst. Die Geschichte, sagt Manja Präkels, sei »fifty-fifty« real und fiktiv, ich kann mir also die fiktive Hälfte nehmen: Hier bitte sehr, jemand hat ein Buch für dich geschrieben.

»Wir begegneten dem Wahnsinn jeder mit einer eigenen Variante.« Saufen, Drogen, Selbstmord. Musik. Arbeit. Oder auch, wenn es dafür reichte: Studium. Fast immer: weggehen. Weggehen. Die Angst da lassen, für die, die bleiben. Bis sie einen wieder findet, egal wo man sich all die Jahre verkrochen hat. Dann ist es gut, wenn man ihr ein Buch unter die Nase halten kann.

Wie gut also, dass Manja Präkels es doch noch geschrieben hat. Gern möchte ich es all denen auf das Kopfkissen legen, die ausdauernd und in männlicher Manier über Organisierung und nervige Westautonome oder uncoole Ostanarchisten monologisieren. Es ist eine Sache ost-west-übergreifender Männlichkeitsrituale, sich nicht schwächer zu zeigen, als man es gern sein möchte. Gegenüber Nazis mag das Sinn machen. Aber nicht gegenüber der eigenen Angst.

Wir haben an sie, an brutale Nazischläger_innen und an die Ignoranz einer Gesellschaft viel verloren, viel mehr als wir denken. Vor allem aber Menschen. Ingo Ludwig, der im Buch Krischi heisst, hat das Jahr 1992 nicht überlebt. Unter anderem ihm ist es gewidmet.

Beim Abschluss eines ak-Jahresabos bieten wir das Buch »Als ich mit Hitler Schnapskirschen aß« von Manja Präkels als Werbegeschenk an: www.akweb.de/service.

Anmerkungen:

1) Am 9. Mai 1992 wird Thorsten Lamprecht von Neonazis in Magdeburg so brutal zusammengeschlagen, dass er an seinen Verletzungen verstirbt, am 8. Februar 1997 ersticht ein Neonazi Frank Böttcher an einer Straßenbahnhaltestelle in Magdeburg-Olvenstedt. Die Täter und ihre Mittäter laufen, so wie viele andere Neonazimörder, frei herum.

2) Karsten Krampitz, Markus Liske, Manja Präkels (Hg.): Kaltland: Eine Sammlung. Verbrecher Verlag, 2011.

3) Dietmar Wolf: Der Drops muss doch jetzt langsam mal gelutscht sein!