Einspruch!
International Die linke Israel- und Palästinasolidarität sind geprägt durch selektive Wahrnehmung, Selbstbezogenheit und das Denken in Kollektiven - das muss sich ändern
Über kaum etwas redet die deutsche Linke so viel und emotional wie über Israel und Palästina. Dabei ist das historische und politische Wissen in den Szenen gering. In Echokammern bestätigt man sich eingeübte Narrative und Parolen - »alternative Fakten«, Rassismus und Antisemitismus inklusive.
Von Bikoret Khatira
Die aktuellen Auseinandersetzungen um die »Jerusalem-Entscheidung« Donald Trumps sind medial getragene Inszenierungen. Verglichen etwa mit den Auseinandersetzungen um die Al-Aqsa-Moschee im Juli vergangenen Jahres ist ihr Mobilisierungspotenzial gering. Trumps symbolische Entscheidung zielte auf die zentrale Wählergruppe der Evangelikalen in den USA, nicht auf israelische oder palästinensische Akteure. Die israelische und die palästinensische Führung nutzten sie jedoch ebenfalls für an die eigene Anhängerschaft gerichtete Inszenierungen, für eine Aktualisierung dauerhafter Konfliktlinien. Diese treffen als soziale, ethnische, politische und religiöse nirgends so verdichtet aufeinander wie in Jerusalem, der heiligen Stadt der drei monotheistischen Religionen und dem politischen Bezugspunkt des sogenannten jüdischen und palästinensischen Nationalismus.
Die jüngsten Entwicklungen wurden auch in der linken Szene in Deutschland zum Anlass genommen, Demonstrationen für oder gegen den Beschluss, mit vermeintlich »israelsolidarischer« oder »pro-palästinensischer« Ausrichtung, zu organisieren. In der Szene hat sich anstelle einer Beschäftigung mit gesellschaftlichen und politischen Realitäten und einer darauf beruhenden politischen Positionierung ein Glaubenskrieg durchgesetzt, der zur Lagerpositionierung zwingt - und in dem pro-palästinensisch anti-israelisch und pro-israelisch anti-palästinensisch bedeutet. »Palästina-« und »Israelsolidarität« hat hier wenig mit Empathie und dem Wunsch zu tun, dass es Menschen als Individuen besser gehen möge, aber viel mit dem Beharren darauf, dass die eine Seite, das eine Kollektiv, die eine Miliz oder Armee gut und bedingungslos zu unterstützen bzw. böse und zu bekämpfen ist. Der Fokus liegt auf Schlüsselworten, man ist auf Gegner_innen in der eigenen Szene fixiert. Für Selbstinszenierung und Weltwahrnehmung sind vor allem die sozialen Medien relevant. Als Echokammern bewirkten sie in den letzten Jahren eine weitere Verarmung, Verhärtung und Radikalisierung von Positionen - eine Tendenz, die gesamtgesellschaftlich wahrnehmbar ist.
So teilt die eine Seite Videos und Artikel, die antiisraelische und antisemitische Hetze und Gewalttaten von Palästinenser_innen zeigen oder thematisieren, dazu bewegende Porträts von israelischen Soldat_innen und Siedler_innen. Auf der anderen Seite teilt man Videos und Nachrichtenartikel, die Gewalt der israelischen Armee gegen palästinensische Zivilist_innen oder Übergriffe israelischer Siedler_innen zeigen oder thematisieren, dazu rührende Porträts über palästinensische Kinder. Reden die einen von »Palliwood« und behaupten, Berichte über Gewalt gegen Palästinenser_innen seien antisemitische Hetze, sprechen die anderen vom verbrecherischen Apartheidstaat und erkennen noch in jedem Mord an israelischen Zivilist_innen einen Akt der Selbstverteidigung.
Die Menschen im Nahen Osten werden dabei überwiegend »kollektiv« gedacht, ob positiv oder negativ besetzt. Als Täter_innen oder Opfer geht es um »die Israelis« oder »das palästinensische Volk«. Doch ein solches homogenes Kollektiv gibt es nicht. Umfragen der letzten Jahre zeigten deutlich, dass sich vor allem junge Palästinenser_innen von den Parteien und Milizen abwenden. Die Fatah in der Westbank und die Hamas im Gazastreifen, jeweils Populist_innen »im Namen des Volkes«, werden von vielen als korrupt und repressiv kritisiert und dafür verantwortlich gemacht, dass sich bis heute die Lage der Bevölkerung kein bisschen verbessert hat. Doch was auch passiert, die ideologischen Scheuklappen sorgen dafür, dass entweder etwa »die Palästinenser_innen« mit der Hamas als Täter_innen oder die Hamas mit »den Palästinenser_innen« als Opfer identifiziert werden.
Selbst sachliche Meldungen über reale Ereignisse werden in dieser Wahrnehmungsstruktur durch feste weltanschauliche Raster gefiltert. Beispielhaft ließ sich das in der Diskussion über das Dokudrama »Auserwählt und ausgegrenzt« beobachten, dessen Nicht-und-dann-doch-Ausstrahlung durch Öffentlich-Rechtliche letzten Sommer die Gemüter erhitzte. Dort wurde zum Beispiel Annette Groth (als MdB, Die Linke) gezeigt, die von der Zerstörung der Wasserversorgung im Gazastreifen sprach und davon, dass in großem Umfang »toxisches Material« ins Mittelmeer einfließen würde - wodurch »sich die Israelis auch selber schaden« würden. Für die Filmemacher_innen war klar, dass Groth hier die antisemitische »Brunnenvergifter«-Legende aufwärmte: »Verstanden, stellvertretend für alle Juden vergiften heute die Israelis gleich das ganze Mittelmeer.«
Annette Groth ist bekannt für einseitige antiisraelische Äußerungen und eine unkritische Nähe zu Antisemit_innen. Ihre Teilnahme an der »Freedom Flotilla« nach Gaza 2010 und ihre späteren Äußerungen zur Gewalt auf der »Mavi Marmara« wurden zu Recht heftig kritisiert. (1) Die skandalisierten Aussagen Groths in der Filmdoku waren jedoch vor allem eines: korrekt. Insbesondere seit dem israelischen Strafbombardement gegen das Gaza-Kraftwerk 2006 und wegen israelischer und ägyptischer Einfuhrbeschränkungen gibt es weitreichende Stromengpässe und breites Infrastrukturversagen, das auch die Wasseraufbereitung und -versorgung betrifft. Folgen sind die nachhaltige Schädigung des Grundwassers, das Einlaufen von Meerwasser, das Versagen von Aufbereitungsanlagen, Versalzung und Verseuchung mit Schwermetallen und Bakterien und eben das Einlaufen von teils hochtoxischem Schmutzwasser ins Mittelmeer - bis ins Gebiet der israelischen Regionalverwaltung Hof Ashkelon.
Positionierungen in Deutschland sind seltsam losgekoppelt von dem Geschehen, auf das sie sich vorgeblich beziehen. Sie basieren zum großen Teil auf ideologischen Fokussierungen, Auslassungen oder Projektionen. Das gilt auch für historische Bezüge. So sehen die einen in Israelis Überlebende, während Palästinenser_innen als Volk von Nazikollaborateur_innen beschrieben werden. Die anderen fokussieren nicht den Holocaust, sondern die Nakba und erkennen in Israelis ein Kollektiv europäischer Siedlerkolonialist_innen. Beide Seiten negieren Erfahrungen und Narrative der Gegenseite und reproduzieren in der Ferne die Konfliktsemantiken von vor Ort.
Es wäre Zeit für einen Zwischenruf, der sich weder auf eine dieser beiden Seiten schlägt noch einer Positionierung zu den von diesen vereinnahmten Fragen ausweicht. Die Auseinandersetzung mit der Geschichte von Holocaust und Nakba, mit Antisemitismus und Besatzung, die Solidarität mit Israel und die Kritik an der Entrechtung von Palästinenser_innen schließen einander nicht aus. Für die Linke müsste es darum gehen, Slogans und einfache Wahrheiten gegen Komplexität und Widersprüche zu tauschen. Dazu sollen die folgenden Hinweise einladen, die begründen, warum manch verinnerlichte Begriffe und Formeln vor allem eines sind: falsch.
»Zionismus ist Rassismus«
Ein verbreiteter Slogan bezeichnet Zionismus, den überwiegend Palästina-zentrierten »jüdischen Nationalismus« des 20. Jahrhunderts, als »Rassismus«, was ihn per se delegitimiert. Doch folgt man der vergleichenden Nationalismusforschung, handelt es sich beim Zionismus um einen Nationalismus mit ebenso vielen politischen Schattierungen von links bis rechts, wie sie etwa der polnische oder ägyptische Nationalismus aufweisen. Im Gegensatz zu anderen Nationalismen hat er jedoch eine Besonderheit, die mit seiner eigentlich von Linken zu reflektierenden historischen Notwendigkeit und negativen Legitimität zusammenhängt. Der Grund für den Zionismus und seine historische Verwirklichung im Staat Israel liegt in der Gewalt der antisemitisch strukturierten europäischen Moderne in der Gründungsepoche der sich homogenisierenden Nationalstaaten. Der historische Kontext sind die Balkankriege, die Entstehung des bulgarischen, griechischen oder türkischen Nationalstaats auf Basis von Massakern, Genoziden und Bevölkerungstransfers von Millionen vor und nach dem Ersten Weltkrieg - Lösungen der »Minderheitenfrage« auch im Namen des »Selbstbestimmungsrechts der Völker«. Dies ist die Zeit, in der der Zionismus - keineswegs konflikt- und widerspruchsfrei - in die Welt kommen konnte.
Der Verlauf des zionistischen Projekts und die Staatsgründung Israels sind zudem nicht zu verstehen ohne die rassistische und antisemitische europäische Gewaltpolitik in den Kolonien und im Inneren, ohne den Weg »von Windhuk nach Auschwitz« (2). Der Zionismus war einer der Versuche derjenigen, die von der Mehrheit als Jüdinnen und Juden markiert und mit der antisemitischen Figur des »Juden« assoziiert wurden, dieser Markierung und den damit verknüpften Ausschlüssen und Verfolgungen zu entkommen. In ihrem Selbstentwurf blieben sie zwangsläufig auf die Figur bezogen, in ihrem Emanzipationsprojekt zwangsläufig im gewaltförmigen Rahmen von Souveränität, Nation und Staat. Dem vor allem in Europa und den USA verbreiteten antisemitischen Bild von den Juden als »Dritten«, als Nation jenseits der Nationen (siehe ak 630), konnten Jüdinnen und Juden nicht entkommen - es wurde schlicht positiv besetzt und zurückgespiegelt. Die Lösung des Dilemmas der nationalstaatlichen Nichtzugehörigkeit sah die jüdische Nationalbewegung in der Schaffung eigener Nationalstaatlichkeit. Wenn Deutsche mit Hinweis auf die Historiker Eric Hobsbawm und Benedict Anderson ausgerechnet den jüdischen Nationalismus als »erfundene Tradition« und »vorgestellte Gemeinschaft« dekonstruieren wollen, ist das nicht nur inkorrekt, sondern auch zynisch.
Siedlerkolonialismus
Schaut man auf die Forschung zu europäischen Siedlerkolonialismen, denkt man an Australien, an Brasilien, Chile, Südafrika, Algerien, Mosambik, Namibia, Südrhodesien oder Kenia. Konstitutiv für den Siedlerkolonialismus, der vor allem als ausbeuterische Gewaltherrschaft einer europäischen Minderheit über eine indigene Mehrheit mit mehr oder minder starker Unterstützung der Herkunftsmetropole zu beschreiben ist, sind die »Herr-Knecht-Beziehung« und rassistische Hierarchien, die die Vernichtung ganzer Kollektive als Konsequenz bewusst einschlossen.
Man muss sich nur wenig mit der Geschichte des osmanischen und britischen Palästinas beschäftigen, um zu sehen, dass auf den Zionismus und den Jischuw, also die altansässigen und zugewanderten Jüdinnen und Juden in Palästina, diese Charakteristika nicht zutreffen. In Palästina konkurrierten mehrere Nationalbewegungen um das Erringen souveräner Territorialstaatlichkeit. Die zionistische Bewegung strebte nach Staats- und Wirtschaftsaufbau, nach Dominanz eines nationalen Kollektivs unter potenzieller Verdrängung und - im Extremfall - Vertreibung eines anderen Kollektivs. Weder strebte sie die Unterwerfung und Ausbeutung noch die Vernichtung der nicht-jüdischen arabischen Bevölkerung an. Eine Besonderheit der zionistischen Strukturen ist die Gleichzeitigkeit kolonialer und antikolonialer Elemente. »Jüdischer« und »arabischer« Nationalismus richteten sich gegeneinander, aber auch gegen die Kolonialmacht Großbritannien, die vor allem nach 1945 zunehmend mit Terroranschlägen zermürbt wurde. Dabei kam es zu Gewalt und Verbrechen von allen Seiten.
Mehr als verkürzt ist es, wenn die jüdischen Einwander_innen heute schlicht als »weiße Europäer_innen« und damit »typische« Kolonialist_innen beschrieben werden. Das ignoriert die zentrale Ursache, den zentralen Einflussfaktor auf die Entwicklung des Zionismus: den in Europa grassierenden und insbesondere in Osteuropa sich in Pogromen Bahn brechenden Antisemitismus und die verbreitete Ungleichbehandlung und Diskriminierung von Jüdinnen und Juden, die in den europäischen Gesellschaften als gleichsam nicht-weiße Andere markiert wurden. Die zionistische Einwanderung wurde zwar teilweise von europäischen Mächten wie Großbritannien oder dem Deutschen Reich unterstützt. Antisemitismus und das Bestreben, die Auswanderung von Juden aus dem eigenen Land zu forcieren, spielten hier aber eine wichtige Rolle. Die Kolonialmacht Großbritannien versuchte zugleich, neben den jüdischen auch die arabischen Nationalist_innen durch »Teile und Herrsche« zu befrieden. So herrschte formale rechtliche Gleichstellung, und zentrale Institutionen waren paritätisch besetzt. Zugleich waren jüdische und nicht-jüdische Bürger_innen Palästinas den Kolonialisten, den Briten, unterworfen.
Die massive Einwanderungswelle der 1930er und 1940er Jahre ist schließlich nicht ohne das deutsche Vernichtungsprojekt und den Zweiten Weltkrieg zu verstehen, die bei Teilungsplan und Staatsgründung Ende der 1940er Jahre auch Voraussetzung der Unterstützung und politischen Legitimität des Jischuw waren.
Apartheid
Die derzeit wohl bekannteste Organisations- und Aktionsform der »Palästinasolidarität« ist die Boykottkampagne BDS (Boycott, Divestment and Sanctions) als »Antwort auf israelische Kolonisation, Apartheid und Besatzung«. Der Begriff der »Apartheid« wurde und wird vor allem für die Rassentrennung in Südafrika zur Zeit der siedlerkolonialistischen Herrschaft einer weißen Minderheit über eine entrechtete Schwarze Mehrheit verwendet. (3) Als solcher trifft er in Bezug auf seine Voraussetzungen und seine Ausprägung weder die Situation in Israel noch die in den besetzten palästinensischen Gebieten unter israelischer Militärverwaltung. So wie es sich beim Zionismus vor 1948 nicht um Siedlerkolonialismus handelte, gibt es seit 1967 keine »Apartheid« in Israel und Palästina.
Während linke und zentristische Kräfte ursprünglich eine Zwei-Staaten-Lösung und »Land gegen Frieden« anstrebten, war das Ziel rechter und fundamentalistischer Kräfte in den letzten Jahrzehnten die Erweiterung Israels durch Verdrängung von Palästinenser_innen - nicht auf Dauer gestellte Herrschaft über diese. Der Transfergedanke der Rechten ist illegitim, verbrecherisch und unmenschlich, aber keine Idee von Apartheid.
Von israelischen Politiker_innen und Journalist_innen wurde der Apartheid-Begriff zuletzt kritisch auf einen Annexionsplan bezogen, der vor wenigen Wochen vom Zentralkomitee der regierenden Likud-Partei des Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und zuvor auf mehreren Konferenzen bereits von Vertreter_innen rechter und fundamentalistischer Regierungsparteien und Organisationen gefordert wurde. Dabei geht es um die Forderung nach einer endgültigen offiziellen Annexion des besetzten C-Gebietes bzw. der A-, B- und C-Gebiete der Westbank (4), wo Jüdinnen und Juden dann volle Staatsbürgerrechte genießen würden, nicht-jüdische Palästinenser_innen jedoch keine politischen Rechte hätten.
»Mythos Nakba«
Immer wieder skandalisieren sogenannte israelsolidarische Akteure die Rede von der »Nakba«, der »Katastrophe von 1948«, wie Palästinenser_innen sie an Gedenktagen erinnern. Eine Argumentation stellt in Frage, dass es zu einer Katastrophe, etwa zu Kriegsverbrechen und Vertreibungen, gekommen ist. Die meisten Zivilist_innen wären freiwillig oder auf Aufforderung arabischer Stellen geflohen. Eine andere Argumentation behauptet, die Rede von der Nakba komme einer Delegitimierung der Existenz des Staates Israel gleich und versuche zudem, durch Parallelisierung einer palästinensischen mit der »jüdischen Katastrophe« den Holocaust zu relativieren.
Die enorme Distanz zwischen den Narrativen zu »Unabhängigkeitskrieg« und »Nakba« lässt es nicht vermuten, tatsächlich aber ist das Geschehen der Jahre 1947-48, im Zuge der Gewalt nach dem UN-Teilungsplan bzw. nach dem Angriff arabischer Staaten und der britisch geführten Arabischen Legion auf den jüdischen Jischuw mittlerweile weitgehend erforscht. So lässt sich nachweisen, dass es im Zuge der Kampfhandlungen zwischen »jüdischen« Milizen und »arabischen« Milizen und Truppenverbänden auch Kriegsverbrechen auf jüdischer Seite gegeben hat, etwa die Massaker in Deir Yassin oder Lod, Vergewaltigungen, Plünderungen und Häuserzerstörungen. Diese Taten, die überwiegend nicht von Einheiten der Hagana (5), sondern von rechtszionistischen Milizionären begangen wurden, trugen mit zur Panik bei, die für einen großen Teil der Flüchtlinge fluchtursächlich war. Obwohl es lokal begrenzt zu teils größeren Vertreibungen kam und in einzelnen Monaten eine »Atmosphäre dessen herrschte, was später ethnische Säuberung genannt wurde«, wie es der Historiker Benny Morris formuliert, wurde ein »Transfer« zu keinem Zeitpunkt offizielle zionistische Politik. Die Frage nach der Situation und potenziellen Rückkehr geflüchteter arabischer Zivilist_innen war für die erste Regierung des Staates Israel noch teilweise offen.
Fakt ist, dass eine Vielzahl an Faktoren, darunter »arabische Propagandamaßnahmen« und Evakuierungsaufrufe ebenso wie »jüdische« Kriegsverbrechen und Vertreibungsaktionen, insgesamt etwa 700.000 Zivilist_innen und damit etwa die Hälfte der nicht-jüdischen arabischen Bevölkerung Palästinas zu Flüchtlingen werden ließen. Weit über 300 arabische Ortschaften wurden im Zuge der Kampfhandlungen evakuiert, verlassen und/oder zerstört. Die nicht-jüdische arabische Zivilbevölkerung in Israel stand bis 1966 größtenteils unter Militärherrschaft, unterlag Residenzpflicht und Ausgangssperren.
Es ist dieses Geschehen, das für die nicht-jüdische arabische Bevölkerung im Mandatsgebiet Palästina traumatisch war und seitdem als »Nakba« erinnert wird. Eine Integration der Geflüchteten wurde von den umliegenden Staaten, insbesondere Libanon und Syrien, gezielt verhindert. Bis heute werden die Nachkommen der Geflüchteten von den UN versorgt, sind teilweise entrechtet und vom Rest der Bevölkerung segregiert. Ein potenzieller Ausgleich auch in der »Flüchtlingsfrage« ist durch palästinensisches Agieren, die anhaltende Besatzungssituation und den Ausbau der Siedlungen bisher verhindert worden. In Israel selbst ist der »Unabhängigkeitskrieg« und der militärische Sieg über die angreifenden arabischen Truppenverbände aus nachvollziehbaren Gründen positiv besetzt. Die Rechtsregierung reagiert in den letzten Jahren zugleich verstärkt mit Kriminalisierung und Repressionsmaßnahmen auf - ebenfalls nachvollziehbares - arabisches Gedenken an die »Nakba«.
Besatzung
Von vermeintlich »israelsolidarischer« Seite ist auch zu hören, es gebe keine »Besatzung«, die Rede von »besetzten Gebieten« und »Siedlungen« sei demagogisch. Doch auch wenn ganz ähnliche Aussagen von Vertreter_innen der israelischen Rechten und der Siedlerbewegung zu hören sind, differenziert der israelische Staat zwischen dem israelischen Staatsgebiet (prä-1967, »Israel proper«) und den 1967 eroberten Gebieten. (6) Letztere stehen unter Verwaltung der israelischen Armee, die Zivilist_innen unterliegen den Weisungen und der Gerichtsbarkeit des Militärs. Unmittelbar nach der Eroberung sprachen militärische und staatliche Stellen von »Gebieten unter der Hoheit der israelischen Verteidigungsstreitkräfte«, bis 1982 gab es eine »Militärregierung«. Auch in den letzten Jahren bestätigten staatliche Stellen den israelischen Status als Besatzungsmacht in der Westbank. Der Oberste Israelische Gerichtshof hat über die Jahre immer wieder festgestellt, dass in den Gebieten internationales Recht anzuwenden ist. Er bezog sich dabei wie die Regierung grundsätzlich auf die Rechte einer Besatzungsmacht im Sinne der Haager Landkriegsordnung und der Vierten Genfer Konvention.
Die internationale Staatengemeinschaft, darunter die USA, die EU und der UN-Sicherheitsrat, definiert die Gebiete unter israelischer Militärverwaltung als besetzte Gebiete. Dies gilt insbesondere im »C-Gebiet« im Sinne der Oslo-Verträge, das über 60 Prozent des Territoriums umfasst und von mehreren Enklaven unter teilweiser Hoheit der Palästinensischen Autonomiebehörde (A- und B-Gebiet) durchzogen wird. Insbesondere seit 1977 forcierte der israelische Staat Siedlungsbau in den Gebieten, was nach verbreiteter Ansicht einen Verstoß gegen die Genfer Konvention darstellt, die den Transfer eigener Bevölkerung in besetztes Gebiet untersagt.
Heute leben fast 400.000 sogenannte Siedler_innen im C-Gebiet, neben 300.000 Palästinenser_innen. Erstere unterliegen israelischem Recht und haben als Staatsbürger_innen volle Bürgerrechte, letztere unterliegen Militärrecht. Als Folge der Besatzungssituation gilt in den Gebieten auch ein absolutes Versammlungsverbot, weshalb jegliche Ansammlungen palästinensischer Zivilist_innen, etwa politische Demonstrationen, per se illegal sind und von der Armee aufgelöst werden, oft unter Einsatz von Aufstandsbekämpfungsmitteln wie Tränengas und Gummigeschossen bis hin zu scharfer Munition. Während gegen - unter Besatzungsrecht teils nur durch Palästinenser_innen begehbare - Rechtsbrüche und Straftaten von palästinensischer Seite scharf durchgegriffen wird, führen Körperverletzungen und Sachbeschädigungen von Siedler_innen gegen Palästinenser_innen und Straftaten von Sicherheitskräften nur selten zu Ermittlungen. Im Bereich der Baugenehmigungen und der Infrastruktur sind massive Diskrepanzen nachweisbar, die Bewegungsfreiheit von Palästinenser_innen ist stark eingeschränkt.
Bikoret Khatira ist ein Blogprojekt, das Hintergründe zu Entwicklungen im Nahen und Mittleren Osten verfügbar macht und in ak mehrfach über Syrien und Iran schrieb. Auf bikoretkhatira.wordpress.com erscheint eine erweiterte Fassung dieses Artikels.
Anmerkungen:
1) Mehrere Abgeordnete und linke Aktivist_innen nahmen 2010 auf der »Mavi Marmara« an einem symbolischen Konvoi der islamistischen und AKP-nahen türkischen NGO »Insani Yard?m Vakf?« teil, der von der israelischen Marine noch außerhalb israelischer Hoheitsgewässer aufgebracht wurde. Dutzende Passagiere attackierten die Soldaten daraufhin mit Stangen und Messern und überwältigten drei von ihnen. Es kam zum Einsatz von Schusswaffen, neun Passagiere wurden getötet. Die folgende Medienkampagne, die Israel eines »Massakers« an »Friedensaktivisten« bezichtigte, führte Groth mit an.
2) Titel eines Buches von Jürgen Zimmerer, der anhand des von deutschen Kolonialtruppen verübten Genozids an den Herero und Nama im heutigen Namibia nach dem Verhältnis von Kolonialismus und Holocaust fragt.
3) Im Römischen Statut von 1998 definiert Artikel 7 Apartheid-Verbrechen als »unmenschliche Handlungen«, die von »einer rassischen Gruppe im Zusammenhang mit einem institutionalisierten Regime der systematischen Unterdrückung und Beherrschung einer oder mehrerer anderer Gruppen in der Absicht begangen werden, dieses Regime aufrechtzuerhalten«.
4) Die A-Gebiete sind Gebiete unter palästinensischer Verwaltung. In den B-Gebieten gibt es eine palästinensische Zivil- und eine gemeinsame israelisch-palästinensische Sicherheitsverwaltung. Die C-Gebiete sind fast vollständig unter israelischer Verwaltung.
5) Zionistische Untergrundmiliz im britischen Mandatsgebiet Palästina, die gegen arabische und britische Gegner vorging und nach der Staatsgründung Israels das Fundament der israelischen Streitkräfte bildete.
6) Der Sechs-Tage- bzw. Juni-Krieg zwischen Israel auf der einen, Ägypten, Jordanien und Syrien auf der anderen Seite begann am 5. Juni 1967 mit einem Präventivschlag Israels gegen die ägyptische Luftwaffe, nachdem Ägypten etwa 100.000 Soldaten in die Nähe der Grenze zu Israel verlegt hatte. Am 10. Juni hatte Israel Ägypten, Jordanien und Syrien militärisch besiegt und den Gazastreifen, den Sinai, die Golanhöhen, das Westjordanland und Ostjerusalem erobert. Bis 1982 räumte die israelische Armee die Sinai-Halbinsel, 2005 zog sich Israel vollkommen aus dem Gazastreifen zurück. Der Gazastreifen bildet zusammen mit dem Westjordanland das Palästinensische Autonomiegebiet.