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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 635 / 20.2.2018

The Winner takes it all

International Im Vorfeld der Parlamentswahlen in Ungarn führt die Opposition gefährliche Koalitionsdebatten

Von Magdalena Marsovszky

Sogar Agnes Heller ist mittlerweile dafür. Die berühmte Philosophin und jüdische Holocaust-Überlebende hat sich der Argumentation verschiedener liberaler Intellektueller angeschlossen, die seit 2016 versuchen, die nach ihrem Selbstverständnis demokratische Opposition in Ungarn dazu zu bewegen, eine Wahlkoalition mit der rechtsradikalen Partei Jobbik zu bilden. Das Ziel: bei den Parlamentswahlen 2018 die Orbán-Regierung abzulösen. Die Begründung: Das neue Wahlgesetz der seit 2010 amtierenden Regierungskoalition aus Fidesz-Bürgerunion und Christlich Demokratischer Volkspartei (KDNP), das nach dem Prinzip The winner takes it all funktioniert. Das Argument: Die Partei Jobbik hätte sich gewandelt und sei nicht mehr so rassistisch wie früher. Kann das stimmen? Warum wird die Bildung einer Koalition mit Jobbik nicht (mehr) als gefährlich wahrgenommen?

Völkische Krisentheorie statt Faschismusanalyse

Ein Grund liegt darin, dass sowohl die Wissenschaft als auch der alltägliche Diskurs in Ungarn noch immer von der tradierten, orthodox-marxistischen Krisentheorie beherrscht werden: In der seit dem Realsozialismus gebräuchlichen Auffassung werden die Ursachen von gesellschaftlichen Krisen allgemein im sozioökonomischen Bereich gesucht. Die eigentlichen Triebkräfte der Faschisierung, der Ethnonationalismus und der Rassismus, sowie die Idee von der Neugeburt der Nation, des Volkes oder des Ariertums - die sogenannte Palingenese - werden dabei ausgeblendet. Der Ethnonationalismus und der Rassismus wurden im Realsozialismus nicht nur als etwas Nebensächliches angesehen, vielmehr war der Realsozialismus selbst national ausgerichtet und vom rassistischen Blick durchdrungen. Nach der damals gängigen Geschichtsauffassung waren auch für den Holocaust nicht Nationalismus und Rassismus als Hauptursache verantwortlich, sondern die antikommunistischen Ressentiments. Die Dimitroff-Formel von 1935, die den Faschismus als »die terroristische Diktatur (...) des Finanzkapitals« definierte, bleibt in der kulturellen Erinnerung noch immer fest verankert, selbst wenn der Name Dimitroff inzwischen nicht mehr allen geläufig ist. Faschismus, Kapitalismus bzw. Finanzkapital, wurden zu Synonymen.

Als Erbe des Realsozialismus werden der Nationalismus und der zunehmende Rassismus auch heute nicht in ihrer ständig wachsenden Ausbreitung wahrgenommen. Eher noch festigt die althergebrachte antikapitalistische Argumentation erneut den rassistischen Blick. Der Grund findet sich in der Konstruktion des Feindbildes vom »Finanzkapitalisten« oder »Finanzoligarchen«: Gesellschaftliche Entwicklungen werden noch immer vor allem als eine Folge von wirtschaftlichen Entwicklungen und Kapitalbewegungen gedeutet, während der reflexive Zugang zur Gesellschaftskritik so gut wie fehlt. In der dualistischen Gesellschaft agiert so seit der politischen Wende 1989 die jeweilige Opposition gegen die jeweilige Regierung im Sinne eines Klassenkampfes und im Namen eines »schutzlosen Volkes« gegen eine »kapitalstarke, ausbeuterische Elite«. Das ist eine völkische Argumentation, die mit dem antisemitischen Bild des Finanzoligarchen einhergeht.

»Postkommunistische Mafia«

Das gebräuchlichste Bild dieser Argumentation ist nach wie vor das der alles umklammernde Krake. So heisst dann auch die Publikationsreihe sozialliberaler Intellektueller, die den Ursprung der Krise in der »ungerechten originären Kapitalakkumulation« zur Zeit der Wende sehen: Die ungarische Krake. Der postkommunistische Mafiastaat. Nach ihrer Konzeption umklammere und erdrücke die Orbán-Regierung wie eine Mafia von Oben die Gesellschaft mit ihren Krallen. Sie sei nicht per se rassistisch, vielmehr habe sie gar keine Ideologie. Stattdessen brauche sie den Faschismus und die rechtsextremen Organisationen zu ihrem Machterhalt.

Schon die Regierung Gyurcsány war nach der Wende als Mafiaregierung beschimpft worden. Zuerst 1992 vom rechtsextremen Politiker István Csurka und dann auch von Viktor Orbán, als dieser noch in der politischen Opposition stand.

Aktuell verbreitet sich nun also wieder der Begriff »Mafiaregierung« und »Finanzoligarchie« wie ein Lauffeuer als Versuch der Beschreibung der gegenwärtigen Krise im Land und verfolgt noch dazu das Anliegen, diese »Krise« zu beenden. Dass die Autor_innen von Die ungarische Krake aber sowohl mit der Konzeption als auch mit dem Titel in die gefährliche Nähe des antisemitischen Stilmittels der »Krake über dem Erdball« - in Anspielung auf das Klischee vom »weltumspannenden und erdrückenden Judentum« - gelangten, fiel weder ihnen noch den Herausgeber_innen auf. Das Konzept von der »Mafiaregierung« machen sich jedoch auch die Rechten nach wie vor zu eigen, schließlich zählen sie sich zum »ausgebeuteten Volk«.

Entlang dieser Argumentationslinie entstehen unheimliche Allianzen. Inzwischen agieren Sozialisten, Liberale, Grüne und Rechte zusammen »im Namen der Nation und des Volkes« gegen die »finanzkapitalistisch-parasitäre Mafiaregierung« und das »spekulative Finanzkapital« mit Viktor Orbán an der Spitze, der deshalb außer mit der antisemitischen Metapher der »Krake« nicht selten auch mit der des antisemitischen Stereotyps des »Judenschweins« oder der »Spinne« dehumanisiert wird: Das politische Links und Rechts zeigt sich durcheinander und vereint im antisemitischen Antikapitalismus, während der Rassismus nicht erkannt wird. Auch der Begriff »völkisch« hat in diesem Zusammenhang keine negative Konnotation. Der Kampf richtet sich gegen das gemeinsame Feindbild des »Finanzoligarchen Orbán«, statt für die Demokratie und Menschenrechte. Dabei vollkommen unbeachtet bleibt die spirituell-esoterische Dimension in der völkischen Ideologie der Regierung und von Jobbik.

Völkische Ideologien für alle

Sowohl die Regierungsparteien als auch Jobbik vertreten eine völkische Ideologie, wobei sich die Regierung »völkisch« (ungarisch: népnemzeti) und Jobbik »traditionalistisch« nennt. (1)

Das völkisch-nationale Konzept geht von der Existenz einer nationalen oder übernationalen »Volksgemeinschaft« als »Rassengemeinschaft« aus und hat gemäß der Palingenese das »nationale, volksgemeinschaftliche Erwachen« zum Ziel. Das Konzept des Traditionalismus geht von der Existenz eines übernationalen, »nordischen Ariertums« aus und hat das »Erwachen des weißen arischen Menschen als kulturüberlegene Rasse« (ebenfalls Palingenese) zum Ziel. Obwohl beide oft christlich argumentieren, haben wir es hier mit neuheidnisch-esoterischen Ideologien zu tun (quasi mit einer »Religion der Rasse«). Der Traditionalismus besteht sogar aus einer Mischung christlicher, buddhistischer und hinduistischer Elemente und Mythen aus vermeintlich urmagyarischen (in Deutschland: urgermanischen) Epochen. Beide Ideologien haben ihre geschichtlichen Wurzeln im Europa der Nachaufklärungszeit.

Die »völkische Ideologie« entwickelte sich aus dem Ethnonationalismus ab Anfang des 19. Jahrhunderts und verbreitete sich als Wissenstransfer aus dem deutschen Sprach- und Kulturraum nach Mittel-Osteuropa, so auch nach Ungarn. Hierher gehört auch der heute in Ungarn wieder aufflammende und von der Orbán-Regierung geförderte Turanismus als Erbe der sogenannten Panturkbewegung aus dem 19. Jahrhundert.

Der »Traditionalismus« bildet die Grundlage des Faschismus. Er entwickelte sich - ausgehend aus dem französischen und italienischen Sprachraum - ab der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts. Seine Protagonisten gehen davon aus, dass es eine »ewig gültige Philosophie«, mit einer »göttlichen Urwahrheit« und einem »Geheimwissen der alten Zeit« gäbe, das immer wieder für die Gegenwart aktualisiert werden müsste. Die Traditionalist_innen glauben, dass die Geschichte einen zyklischen Verlauf hätte: Die »Völker«, die sich vom »urgöttlich-arischen Spiritualismus« entfernen, degenerieren und versinken im »Reich der Finsternis«, im »Kali Yuga« (aus der hinduistischen Kosmologie), den sie nur durch den »arischen Kampf« überwinden können. Der »arische Kampf« bedeutet das »Erwachen«, oder die »Neugeburt« durch »Erleuchtung« und »Reinkarnation«, wodurch schon im Diesseits und mit Hilfe eines »göttlich-spirituellen Führers« der »urgöttliche Spiritualismus« mit dem »Neuen Menschen«, bzw. der »neuen arischen Rasse« erreicht werden könne. Sinnbild des »nordisch-arischen Kampfes« war im nationalsozialistischen Deutschland der »Heilige Gral«, während heute in Ungarn für dasselbe Motiv sinnbildlich die »Heilige Krone« steht - seit 2012 auch im Grundgesetz.

Gemeinsam ist beiden Ideologien ein heidnisch-okkulter Mystizismus, in dem »das Blut«, »der Boden«, »die Nation«, »das Volk«, »die Topographie«, »die Rasse« und das »Nordische Weiß-Sein« als Gottheiten spiritualisiert werden.

Der Dualismus der aus dieser Spiritualisierung folgt, markiert das vermeintlich »urspirituell Göttliche« als »lebenswert« und dessen moralischen Gegenpol als »lebensunwert«. Menschen, die diesem Gegenpol zugerechnet werden, zählen dann als »Volksverräter« oder »Entartete« zu den nicht erhaltungswürdigen, durch »Rassenmischung« entstandenen kastenlosen »niederen Menschen«.

Jobbik gehört zum europäischen Netzwerk der Traditionalisten, die dieser Ideologie anhängen. Der Regierung Ungarns kann eine direkte Kooperation mit dem Traditionalisten-Netzwerk nicht nachgewiesen werden, aber die ideologische Nähe. (2) Die Chefideologin der Orbán-Regierung, die Historikerin Maria Schmidt, nennt in ihrem neuesten Buch den Traditionalismus als wünschenswerte »neue Gegenkultur« und lobt den Ministerpräsidenten 2017 in ihrer Publikation »Sprache und Freiheit«, weil er »ein stolzer Vertreter des gegenkulturellen Traditionalismus« sei. Als Leiterin des »House of Terror« und des Holocaust Gedenkjahrs in Budapest finden sich Schmidts Positionen schon seit Jahren in Ungarns gegenwärtige offizielle Geschichtsdeutung und -schreibung übersetzt.

Neuordnung Europas

Entgegen der gängigen Meinung sind weder die Fidesz-Regierung noch Jobbik europafeindlich. Sie wollen vielmehr die Neuordnung Europas nach dem Prinzip eines »Europa der Nationen«, mit der »Heiligen Krone« als Sinnbild des ethnisch-rassischen Zusammenhalts und einer kulturellen Hegemonie.

Beide streben einen gegenmodernen, antiuniversalistischen, antiindividualistischen, stark neuheidnisch-spirituell orientierten, männlich-hierarchischen Führerstaat an, in dem die Offenheit und der Liberalismus als »Feinde der Ordnung« mit dem Chaos gleichgesetzt werden. Der gemeinsame Feind dieser Ideologie ist der »Demos«, das heißt, die Diversität, der Pluralismus, die Menschenrechte, mit einem Wort: die Demokratie.

Sollten die Oppositionsparteien mit Jobbik eine »technische Wahlkoalition« schließen, würden sie die demokratiefeindlichen Tendenzen legitimieren.

Geschlossene Gesellschaft

Die in Ungarn weit verbreitete ethnische Homogenität automatisiert mit ihrer wesensimmanent exkludierenden Dimension sehr stark den herrschenden Rassismus, und zwar nicht erst, seit dem die Orbán-Regierung an der Macht ist. Nach dem Politikwissenschaftler Péter Tölgyessy ist Ungarn in der ganzen Region am stärksten antikapitalistisch eingestellt, viel stärker noch als die Ukraine oder Russland. Bereits 2009, also vor dem großen Wahlsieg der Fidesz-Regierung, hatten Erhebungen gezeigt, dass die ungarische Bevölkerung bis zu 80 Prozent kapitalismus- und bankenfeindlich eingestellt gewesen sei und allgemein den Wunsch nach einer »drastischen Bestrafung der Banken« gehabt hätte. Dies trägt starke Züge eines antikapitalistischen Antisemitismus. Auch die antiziganistische Einstellung liegt in Ungarn seit Jahrzehnten durchgehend etwa bei 80 Prozent. (3) Hinsichtlich der Menschenfeindlichkeit führt Ungarn in Europa, seine Gesellschaft dürfte als eine weitgehend geschlossene bezeichnet werden. Es braucht dringend Gegenstrategien zur Öffnung der Gesellschaft, ob in Form antirassistischer Sensibilisierung oder in Form von frei verfügbaren Aufklärungspublikationen. Ein als taktisch verklausulierter Koalitionsgang mit der Jobbik hingegen kann niemals ein Signal in diese Richtung sein.

Magdalena Marsovszky gebürtig aus Ungarn, arbeitet als freie Kulturwissenschaftlerin und ist Lehrbeauftragte der Hochschule Fulda. Zu ihrem Forschungsschwerpunkt gehören die integrale Tradition, die völkische Esoterik, der Antisemitismus und der Antiziganismus in Ungarn.

Anmerkungen:

1) Magdalena Marsovszky schreibt gerade das Buch Die Erfindung und Okkultisierung des Magyarentums. Entwicklung der völkisch-esoterischen Identitätssuche als Gegenkultur und Modernisierungsabwehr mit einem besonderen Blick auf zwei mitteleuropäische Parallelmythen: den Gralsmythos und den Kronenmythos.

2) www.zdf.de/assets/manuskript-russland-gegen-die-nato.

3) Magdalena Marsovszky: Verfolger und Verfolgte. Antiziganismus in Ungarn. Rosa-Luxemburg-Stiftung Sachsen, Leipzig, 2015.