Krieg gegen Selbstbestimmung
International Der türkische Einmarsch in Afrin richtet sich gegen die Versuche, ein alternatives Gesellschaftsmodell voranzubringen
Vom Kurdischen Frauenbüro für Frieden CENÎ e.V.
Ende Januar starb die 23-jährige YPJ-Kämpferin Barîn Kobanê (Emine Mustafa Ömer) im Dorf Qurde im Kanton Afrin im Kampf gegen Verbündete des NATO-Partners Türkei. In den sozialen Medien verbreitete sich kurze Zeit später ein Video von der Verstümmelung und Verbrennung ihres leblosen Körpers durch die beteiligten Jihadisten. Der Fall zeigt, dass der IS, islamistische Gruppen und die türkische AKP-Regierung sich in Ideologie und Methode ähneln: Sie alle stehen für Männerherrschaft, sunnitischen Islam mit Hegemonieanspruch, Frauenunterdrückung und Sexismus. (1) An der Reaktion des Westens auf den türkischen Krieg in Afrin offenbaren sich die patriarchalen Grundlagen, auf denen moderne Nationalstaaten aufgebaut sind. Während die angebliche Verteidigung von Frauenrechten als Gründe für rassistische Hetze gegen den Islam und Kriegstreiberei im Mittleren Osten vorgeschoben werden, bleibt der Westen beim völkerrechtswidrigen Angriffskrieg gegen ein demokratisches und frauenbefreiendes Gesellschaftsmodell still.
Die Grenzen, die vor hundert Jahren von den Siegermächten des Ersten Weltkriegs gezogen worden sind, reproduzieren kontinuierlich Krisen. Aber neue Grenzziehungen können das Problem nicht beheben. Der Demokratische Konföderalismus, wie er in Rojava und Nordsyrien unter der führenden Rolle von Frauen aufgebaut wird, strebt die gleichberechtigte Selbstverwaltung und demokratische Selbstbestimmung von Ethnien, Religionen und Geschlechtern an.
Wie diese Alternative in der Praxis aussieht, zeigen auch die Beispiele autonomer Frauenorganisierung. Die Frauen in Afrin und in ganz Rojava organisieren sich kommunal, städtisch und kantonal seit 2005 in der Frauenbewegung Kongreya Star. Ihre Aktivistinnen waren massiven Repressionen wie Verhaftung und Folter durch das Baath-Regime ausgesetzt. Trotz schwerster Bedingungen haben sie mit ihrer Arbeit Grundlagen für Frauenorganisierung geschaffen, indem sie in allen nordsyrischen Städten mit dem Aufbau von Frauenräten und -kommunen begannen. Dabei konnten sie auf die 30-jährige Erfahrung der kurdischen Frauenbewegung aus allen Teilen Kurdistans zurückgreifen. In Kongreya Star organisieren sich Frauen und Frauenorganisationen autonom und übernehmen ebenso engagierte Verantwortung in der gesamtgesellschaftlichen Organisierung. Durch dieses doppelte Engagement bringt die Frauenbewegung in alle Lebensbereiche ihre Perspektiven ein.
In Afrin und der Föderation Nordsyrien gibt es ein ganzes Netz von Kooperativen, die auf einer lokalen Produktion derjenigen Güter beruht, die von der Gesellschaft im täglichen Leben und unter den jeweiligen Bedingungen gebraucht werden. Die Inanna-Landwirtschaftskooperative in der Kleinstadt Rajo in Afrin wurde 2016 gegründet und baut Weizen, Bohnen, Kichererbsen, Zwiebeln und Knoblauch an. Die Frauenkooperativen sollen besonders darauf hinwirken, Frauen auch wirtschaftlich unabhängig zu machen und Vertrauen in die eigenen sowie die Fähigkeiten ihrer Partnerinnen zu entwickeln. Mit der kooperativen Produktionsform soll Ausbeutung, Konkurrenz und Missgunst durch gemeinsames, nachhaltiges, an den Bedürfnissen orientiertes und ökologisches Produzieren ersetzt werden.
Frauenkooperativen und Schlichtungszentren
Eine weitere Struktur ist das Netz der »Mala Jin«. Übersetzt bedeutet das »Frauenhaus«, allerdings liegt dem ein anderes Konzept zugrunde als den Frauenhäusern in Deutschland. In die Mala Jin kommen Frauen, die in ihrer Familie oder in ihrer Kommune patriarchale Gewalt erleben. Im Mala Jin erhalten sie Beratung, und es finden Gespräche mit allen Seiten statt, auch mit Menschen aus dem weiteren Umfeld. Patriarchale Gewalt wird nicht als individuelles, sondern gesellschaftliches Problem gesehen, und deshalb wird auch die Frage an die Nachbarschaft und die Kommune gestellt, weshalb sie zu Vorfällen geschwiegen haben. Die Mala Jin fungieren als Streitschlichtungszentren und als Institution, welche die neuen Frauenrechte in die Gesellschaft einbringt und erklärt. Ohne die HPC Jin (»Fraueneinheiten zur Verteidigung der Gesellschaft«) und die Asayisha Jin, die als Selbstverteidigungskräfte auf kommunaler und städtischer Ebene ebenfalls dafür sorgen, dass Streit geschlichtet und Täter von der Familie ferngehalten werden, kann die Verteidigung gegen patriarchale Gewalt jedoch nicht erfolgreich sein. Ein weiterer Baustein sind die Gerichte, in denen Frauen von Frauen befragt werden und Urteile Frauenbefreiung und soziale Gerechtigkeit zum Maßstab haben.
»Jineolojî«: Frauenbefreiung als Unterrichtsfach
Mit der Frage, wie Frauen zu Subjekten, zu freien Frauen werden und wie sie über Jahrtausende unterdrückt wurden, beschäftigt sich die Jineolojî, die Wissenschaft der Frau und des Lebens. Ziel der Jineolojî ist es, vor allem in den Bereichen Ökonomie, Ökologie, Gesundheit, Ethik und Ästhetik, Politik, Geschichte und Bildung antipatriarchale, Befreiung möglich machende Vorstellungen zu entwickeln und in die Praxis umzusetzen. Neben regionalen Komitees wurden in den Städten Afrîn, Minbic und Dêrik Forschungszentren aufgebaut. In Qamishlo hat im Herbst 2017 die Jineolojî-Fakultät den ersten Jineolojî-Studiengang begonnen. Außerdem wird Jineolojî als antipatriarchale Grundlage in allen Schulen und Akademien der Demokratischen Föderation Nordsyrien unterrichtet. Bildung wird in der demokratischen Föderation Nordsyrien als wesentlicher Motor der Veränderung hin zu einer freien Gesellschaft gesehen und basiert konsequent auf der Perspektive der Frauenbefreiung.
Ein wichtiges Projekt zur Umsetzung der Vorstellungen eines freien Lebens in die Praxis ist Jinwar, das Dorf der freien Frauen. Frauen, die hier ihre Häuser aus Lehm bauen und versuchen, in ihrem großen Gemeinschaftsgarten ökologisch vielfältig anzubauen, sind besonders betroffen von Krieg und patriarchaler Gewalt oder wollen einfach nur ein kollektives Leben mit anderen Frauen teilen.
Dies ist nur ein kleiner Einblick in die Bemühungen einer Gesellschaft, die sich zur Frauen- und Geschlechterbefreiung bekennt und sie in allen Bereichen des Lebens umzusetzen versucht. Es muss verstanden werden, dass die Angriffe des türkischen Regimes und seiner islamistischen Verbündeten sich insgesamt gegen diese Vorstellungen einer freien Gesellschaft richten.
Das Kurdische Frauenbüro für Frieden CENÎ e.V. wurde im Mai 1999 von in Europa lebenden kurdischen und türkischen Frauen mit dem Ziel gegründet, die internationale Solidarität von Frauen für Friedensprozesse in der Türkei und Kurdistan, im Mittleren Osten und weltweit zu stärken.
Anmerkung:
1) Gleich zu Beginn wurden außerdem jesidische und alawitische Dörfer Ziel der Angriffe. Die Wahl der Angriffsziele muss im Zusammenhang mit dem Genozid an den Jesid_innen in Singal (Sindschar) durch den Islamischen Staat und der Verfolgung von Alawit_innen in der Türkei gesehen werden.