Falsche Polarisierungen und richtige Fragen
Deutschland Was der Niedergang der SPD mit dem Richtungsstreit in der LINKEN zu tun hat
Von Sebastian Friedrich
Einstige Freunde werden zu Feinden, und gefeierte Helden fallen in Ungnade - das Drama, das sich derzeit abspielt, handelt von der SPD, jener Partei, die mehr als alle anderen Parteien in Deutschland in den vergangenen Jahren Wähler_innen und Mitglieder verloren hat. Aber anstatt den Hintergrund zu betrachten, vor dem sich das gerade abspielt, starren viele gebannt auf die beteiligten Personen. Dabei gäbe es darüber hinaus vieles zu analysieren. Erstmals in der Geschichte der Bundesrepublik kommen Union und SPD, immer noch »große Koalition« genannt, zusammen auf weniger als 50 Prozent. Am stärksten betroffen: die SPD. Sie liegt in Umfragen deutlich unter 20 Prozent und droht schon bald von der AfD als zweitstärkste Partei abgelöst zu werden. Wer liberalen Betrachtungen Glauben schenkt, findet, dass dies an mangelndem Willen und individuellen Fehlern liegt. Dabei hat der Untergang der SPD einen Grund, der auch mit noch so viel gutem Willen und richtigen Entscheidungen nicht einfach verschwunden wäre.
SPD - Partei des eingehegten Klassenkampfs
Die SPD war in der alten Bundesrepublik die Partei des eingehegten Klassenkampfs: Mehr als die anderen Parteien verwaltete sie den Klassenkompromiss der Nachkriegszeit. Die standardisierte, schnellere und günstigere Massenproduktion, die Möglichkeit des Massenkonsums, die durch die Alliierten kräftig unterstützte Wirtschaft gingen Hand in Hand mit steigenden Löhnen, starken Gewerkschaften und dem Ausbau eines Wohlfahrtsstaates. Die weißen Arbeiter genossen im Vergleich zu den Menschen im Globalen Süden, ihren Kolleg_innen aus Südeuropa und ihren Ehefrauen ein paar Privilegien - allerdings blieben sie Lohnarbeiter, mussten oftmals mehr als 40 Stunden die Woche arbeiten, weil ja auch irgendwer den Mehrwert produzieren musste. Es reichte, um sich einzurichten - das Auto stand in der Garage, jedes Jahr ging es in den Urlaub, und bei den Wahlen wurde brav SPD gewählt. Sicherheit, Stabilität, Sozialdemokratie.
Mit der strukturellen Krise des fordistischen Kapitalismus ab den 1970er Jahren und der Ratlosigkeit der Herrschenden trat der Neoliberalismus auf den Plan. Er kündigte den Klassenkompromiss auf. Gleichzeitig veränderte sich die Gesellschaft im Zeitraffer: Die traditionellen Arbeitermilieus fransten aus, neue Milieus und Bewegungen entstanden - und der Konflikt zwischen Kapital und Arbeit geriet in Vergessenheit. Eine Weile gelang es der SPD, auf die Veränderungen zu reagieren, ohne dabei mittelfristig Wähler_innen zu verlieren.
In den 1990er Jahren orientierten sich viele sozialdemokratische Parteien neu. Sie suchten nach einem dritten Weg zwischen Marktliberalismus und veraltet erscheinender traditioneller Sozialdemokratie. In den USA formte Bill Clinton die New Democrats, im Vereinigten Königreich entwickelte Tony Blair New Labour - und Gerhard Schröder setzte im Wahlkampf 1998 auf die »Neue Mitte«. Den Begriff verwendete Willy Brandt schon im Jahr 1972. Er machte sich für eine Öffnung der Partei in Richtung der gebildeten Mitte stark, denn bereits in den 1970er Jahren sank der Anteil der Arbeiter an der Bevölkerung.
Das letzte Mal, dass die SPD ein Bündnis aus Arbeiter_innen und der »gebildeten Mitte« vereinen konnte, war 1998. Anfang der 2000er Jahre wandte sich ein großer Teil der unteren Klassen ab. In den vergangenen 20 Jahren hat die SPD die Hälfte ihrer Mitglieder und sogar mehr als die Hälfte ihrer Wählerschaft verloren. Diese Entwicklung ist wohl unumkehrbar. Der Parteienforscher Franz Walter, der selbst SPD-Mitglied ist, prognostiziert: »Die Sozialdemokratie wird eine von mehreren Parteien irgendwo in der weit gestreuten Mitte der Republik sein, nunmehr ohne das Ethos und die historische Aura von ehedem, aber eine Interessenpartei gemäßigt sozial, moderat kosmopolitisch, gebremst ökologisch, behutsam partizipatorisch eingestellter Bürger.« (FAZ, 3.1.2018)
Der angebliche »Zickenkrieg« in der Linkspartei
Für Arbeiter_innen mit formal niedriger Bildung hat die SPD nicht viel zu bieten - und mit der Einführung von Hartz IV, dem Ausbau des Niedriglohnsektors und der Leiharbeit alle Hoffnungen begraben, die Sozialdemokratie könnte sich für die »kleinen Leute« einsetzen. Die Working Poor und die Langzeitarbeitslosen sind die deutlichsten Verlierer_innen des aufgekündigten Klassenkompromisses - sie haben nicht nur soziale Sicherheit verloren, sondern auch ihre politische Vertretung. Dann verbündete sich ein Teil des linken SPD-Flügels mit der PDS - Mitte der 2000er Jahre kam DIE LINKE.
Die Linkspartei beschäftigt seit Monaten die Politikressorts. Auch hier interessieren sich viele Journalist_innen nur für Personen. Im Mittelpunkt des Interesses: die Auseinandersetzung zwischen Katja Kipping und Sahra Wagenknecht. In der Linkspartei befänden sich »zwei Frauen im Clinch«, wie die Berliner Zeitung vor ein paar Wochen titelte. Die Bildzeitung spricht gar vom »Zickenkrieg«. Ähnlich wenig erkenntnisfördernd ist die Strategie vieler Linker, den Konflikt zu individualisieren: Sie winken bei allem ab, was Sahra Wagenknecht sagt, und werfen ihr Rassismus vor. Dabei muss man ihren Aussagen zu Geflüchteten und Integration keineswegs zustimmen, um sich mit dem Kern des Problems zu befassen, um den sich der Richtungsstreit dreht: Es gibt Parallelen zwischen dem heutigen Problem der LINKEN und dem der SPD.
Wagenkecht redet seit Wochen von einer linken Sammlungsbewegung und möchte damit vor allem die ehemalige Wählerschaft der SPD ansprechen. Das kurzzeitige Umfragehoch der SPD vor einem Jahr macht sie zuversichtlich, dass jenseits der zehn Prozent, die ihre Stimme der Linkspartei geben, noch deutlich mehr Unterstützer_innen zu gewinnen sind. So hat sie jene im Blick, die zwischen der medialen Heiligsprechung von Martin Schulz und seiner anschließenden Verdammung Hoffnungen hegten, die SPD würde wieder für mehr Gleichheit kämpfen.
Jenseits des parteiinternen Machtkampfs geht es hier tatsächlich um die Zukunft der LINKEN. Die Linkspartei-Klientel hat sich in den vergangenen Jahren massiv gewandelt. Die Partei punktet bei jüngeren Akademiker_innen und Studierenden in den Städten. Bei den ärmeren Teilen der Gesellschaft hat die Partei indes massiv verloren. Einer aktuellen Studie der Hans-Böckler-Stiftung zufolge hat die Partei vor allem beim »abgehängten Prekariat« verloren. Noch vor gut zehn Jahren kam die Linkspartei bei dieser Gruppe auf über 30 Prozent. Jetzt liegt sie hier unter zehn Prozent. Stärkste Partei beim abgehängten Prekariat ist übrigens die AfD - mit 39 Prozent. (1)
Hier treffen sich der Niedergang der SPD und das Problem der Linkspartei. Die LINKEN verlieren die Klientel, die einst von der SPD kam, nun an die AfD: weiße Männer mit formal niedrigen oder mittleren Bildungsabschlüssen, die als Facharbeiter oder An- bzw. Ungelernte in mittelgroßen Betrieben der Produktion, im Logistikbereich oder in der Sicherheitsbranche arbeiten. Wagenknecht bemüht sich um dieses Milieu. Sie koppelt eine traditionell sozialdemokratische Wirtschafts- und Sozialpolitik mit Kulturkonservativismus. Sie ist nicht Erfinderin dieses Programms: In Großbritannien gibt es »Blue Labour«, auch bei anderen sozialdemokratischen Parteien in Europa existieren ähnliche Ansätze. Und auch in der eigenen Partei erhält Wagenknecht dafür durchaus Zustimmung - von unerwarteter Seite. Der ostdeutsche Reformerflügel wirbt ebenfalls dafür, offensiv um die »Modernisierungsverlierer« zu kämpfen. (2) Andere in der Partei freuen sich klammheimlich darüber, dass sie diese Klientel endlich los sind.
Kosmopolitismus und Kommunitarismus
In dem aktuellen Streit in der Linkspartei kommt ein strategischer Konflikt zum Ausdruck, der im Grunde auch die Sozialdemokratie vor 20 Jahren beschäftigt hat. Heute hat die Auseinandersetzung einen Namen: Es ist der Konflikt zwischen Kosmopolitismus und Kommunitarismus. Die Kosmopolit_innen sind idealtypisch formal hoch gebildet, für offene Grenzen, kämpfen gegen den Klimawandel, nehmen den Nationalstaat als beklemmend wahr und setzen stattdessen auf multi- und supranationale Instanzen. Die Kommunitarist_innen sind das Gegenstück: formal niedriger gebildet, kaum außerhalb des Staats mobil, staatszentriert. (3)
Entsprechend stehen sich zwei gegensätzliche Lebensweisen gegenüber: Die einen pflegen Freundschaften über Staatsgrenzen und Weltmeere hinweg, sprechen mehrere Sprachen, leben am Puls der Zeit, immer auch ein bisschen an der Schwelle zur Überforderung, aber immer in Bewegung. Die anderen sehnen sich nach Sicherheit, mögen es überschaubar und sind gemeinschaftsorientiert. Sie verreisen lieber nahe des Wohnorts und sorgen sich, in allen gesellschaftlichen Bereichen abgehängt zu werden. Es geht aber keineswegs nur um Kultur: Entlang der Kosmo-Kommu-Linie überlappen sich kulturelle Fragen (Vielfalt, Integration, Sexualität) mit sozialen. Die Kosmopolit_innen sind zwar auch von Prekarität betroffen - man denke an die Situation des Mittelbaus an den Universitäten - aber genießen mehr Anerkennung, haben eine positive Zukunftsperspektive, können sich häufig im Notfall auf besser gestellte Verwandte und Freund_innen verlassen und haben wahrscheinlich am Ende des Monats doch mehr Geld in der Tasche als die »Abgehängten«.
Die Antworten, die Sahra Wagenknecht präsentiert, mögen in Teilen falsch sein. Nicht falsch ist die Frage, wie LINKE und Linke mit jenen umgehen sollen, die die großen Verlierer_innen der ökonomischen, sozialen und kulturellen Veränderungen der vergangenen Jahrzehnte sind. Es reicht jedenfalls nicht mehr aus, einfach nur augenrollend und verächtlich von den alten, weißen Männern zu reden und es sich in der kosmopolitischen Blase schön einzurichten. In einem lesenswerten Artikel schrieb der Soziologie Oliver Nachtwey kürzlich vom Verlust der dialektischen Denkweise. (4) Statt dieser dominiere in der Linken der Dualismus, bei dem es darum gehe, die realen Widersprüche in eine Richtung aufzulösen. Es gehe nicht darum, sich für eine von zwei Polen zu entscheiden, sondern den Widerspruch selbst anzugehen.
Sebastian Friedrich ist kommunitaristisch sozialisiert und hat sich später im kosmopolitischen Milieu eingerichtet.
Anmerkungen:
1) Rita Müller-Hilmer und Jérémie Gagné: Was verbindet, was trennt die Deutschen? Werte und Konfliktlinien in der deutschen Wirtschaft im Jahr 2017. Hans-Böckler-Stiftung, Düsseldorf 2018.
2) Jan Marose und Malte Heidorn: Ohne die Verlierer gewinnen wir nicht. Um die Stagnation der Partei und die gesellschaftliche Rechtsentwicklung zu stoppen, muss die LINKE Politik für Modernisierungsverlierer machen. www.neues-deutschland.de/artikel/1078467.html.
3) Wolfgang Merkel: Kosmopolitismus versus Kommunitarismus - ein neuer Konflikt. In: Michael Bröning und Christoph P. Mohr (Hg.): Flucht, Migration und die Linke in Europa. J.H.W. Dietz, Bonn 2017.
4) Oliver Nachtwey: Die Linken: Für die vielen, nicht die wenigen. In: Die Zeit 6/18.