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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 636 / 20.3.2018

Sichtbarkeit sehr willkommen

Deutschland We'll Come United sucht eine solidarische Perspektive auf Flucht und Bleiberecht

Von Robin Jensen

Seit dem »langen Sommer der Migration« 2015 haben in der europäischen Union über eine Million Menschen ihr Bleiberecht durchgesetzt. Eine weitere Million Menschen kämpft gegen die europäische Abschiebepolitik mit ungesichertem oder gänzlich ohne Aufenthaltsstatus. Alle kämpfen um ihre sozialen Rechte und werden dabei von zahlreichen Menschen unterstützt. Nach aktuellen Zahlen sind immer noch 19 Prozent der Bevölkerung aktiv solidarisch und leisten Unterstützung für Migrant_innen: Willkommensinitiativen haben sich gebildet, bestehende Gruppen haben sich erweitert. (1) Mehr und mehr Menschen organisieren sich im bundesweiten Netzwerk We'll Come United. Viele der hier Aktiven aus selbstorganisierten Geflüchtetengruppen, deren Communities, lokalen und überregionalen Gruppen gegen Abschiebungen selbstorganisierten solidarischen Beratungsstellen für Geflüchtete, sozialen Zentren, Willkommensinitiativen, Flüchtlingsräten, Seenotrettungsorganisationen und anderen kennen sich aus langjährigen gemeinsamen Kämpfen und Konferenzen wie Refugee Conference-Hamburg, Welcome2Stay-Leipzig und noborder last forever Frankfurt am Main. In 2016 fand erstmals eine lokale Parade vom Community Carneval in Berlin statt und am 16. September 2017, eine Woche vor den Bundestagswahlen, gingen hier über 7. 000 Menschen, die aus der ganzen Bundesrepublik angereist waren, in einer großen Parade unter dem Slogan »We'll Come United!« auf die Straße.

Die Themen der Parade waren entlang einer ganzen Reihe von extra dafür vorbereiteten Wägen sichtbar und zeigten deutlich, worum es den Beteiligten geht: um Recht auf Bildung, um Empowerment migrantischer Frauen, um Fähren über das Mittelmeer, um einen Stopp der Abschiebungen nach Afghanistan. Gemeinsam waren hier Tausende Menschen für Bewegungsfreiheit, gegen soziale Ausgrenzung und für gleiche Rechte für alle, gegen Abschottung des europäischen Grenzregimes und für offene Grenzen auf der Strasse. Die Parade geriet zu einem neuen und starken Ausdruck der Solidarität untereinander und zu einem Zeichen, dass es viele Menschen gibt, die alltäglich viel Zeit damit verbringen, für eine eigene bessere Zukunft und die Zukunft anderer zu kämpfen.

Diese Menschen zusammen zu bringen ist die Grundidee des We'll Come United-Netzwerks. Mehr und mehr werden transnationale Kontakte ausgebaut, auch mit denjenigen, die sich vom mörderischen Grenzregime nicht abschrecken lassen: Im Jahr 2017 kamen trotz der vorverlagerten »Grenzsicherung« der EU mit Frontex und seinen Kooperationen und der Kriminalisierung der Seenotrettung noch immer fast 170.000 Menschen über das Mittelmeer. Wie umkämpft die Routen bleiben, zeigt allein der 16. Januar 2018: An diesem einen Tag mitten im Winter starteten 1.400 Menschen von Libyen aus Richtung Italien.

Auch viele auseinander gerissene Familien versuchen weiterhin, Wege zu finden, zueinander zu gelangen. Noch immer kommen mehr als Tausend Menschen pro Monat über die Balkanroute in Deutschland an. Die Abschottungs- und Abschreckungspolitik kann sie nicht aufhalten.

Alte Kämpfe hoch aktuell

Gleichzeitig werden die Rechte von Geflüchteten in ihren Asylverfahren immer weiter beschnitten. Menschen werden von den Behörden nach einer »guten Bleibeperspektive« aussortiert - im Widerspruch zum individuellen Asylrecht. Nach der Statistik des Bundesamtes haben sich 2017 in Deutschland weitere 260.000 Menschen ein Aufenthaltsrecht erstritten (nach über 430.000 im Jahr 2016). Über 230.000 Asylanträge wurden vom Bundesamt 2017 abgelehnt: Eine »gesicherte Bleibeperspektive« gilt als minimale Voraussetzung. Wie sich diese definiert, entscheidet das Asylgesetz, (ak 630) das sich nach wie vor über die Diskriminierung und Kriminalisierung von Geflüchteten legitimiert: juristisch in Form von Zwangsmitteln, in der politischen Öffentlichkeit in Form rassistischer Stimmungsmache. Ähnlich ist es bei der staatlichen Abschiebepraxis: Die Konstruktion der »sicheren Herkunftsstaaten« schreitet fort, europäische Regierungen unterzeichnen immer mehr Rückübernahmeabkommen mit Diktatoren oder korrupten Machthabern. Neben Sammelabschiebungen finden Einzelabschiebungen, Kettenabschiebungen über die Dublin-Verordnung in andere europäische Staaten, von wo aus dann Abschiebungen in Herkunftsländer durchgeführt werden, sowie die erzwungene sogenannte freiwillige Ausreise, statt.

Kämpfe gegen Abschiebungen sind aus diesen Gründen weiterhin hoch aktuell. Die Initiativen in We'll Come United setzen sich für die Rechte aller Geflüchteten ein, egal woher sie kommen. In Osnabrück gelang es durch Selbstorganisation erfolgreich, zahlreiche Dublin-Abschiebungen zu verhindern: Die sudanesischen Geflüchteten in einer Lagerunterbringung machten es der Polizei unmöglich, einzelne Menschen zu identifizieren, indem sich alle Mitbewohner_innen bei Ankunft der Polizei außerhalb vom Lager befanden. Abschiebungen gelingen reibungsfreier, wenn sie heimlich, still und leise geschehen. Die Erfahrung der Bewohner_innen in Osnabrück und der Berufschüler_innen in Nürnberg, die die Abschiebung ihres afghanischen Mitschülers verhinderten, zeigt, dass dieser reibungslose Ablauf gestört werden muss und kann. An dieser Stelle muss aber auch darauf hingewiesen werden: Über 300 Abschiebungen sind 2017 allein deshalb gescheitert, weil sich das Flugpersonal weigerte, diese durchzuführen.

In mehreren Städten entwickeln sich Kampagnen gegen Abschiebungen im Zusammenhang mit einem sogenannten Bürgerasyl. Dabei geht es um den Aufbau und die Erweiterung von Schutzstrukturen gegen Abschiebungen und um einen öffentlichkeitswirksamen Mechanismus, um politischen Druck aufzubauen. Durch die verschärfte Abschiebepolitik der europäischen Staaten erhöht sich die Nachfrage nach Kirchenasyl, dessen Kapazitäten begrenzt sind. Das Bürgerasyl versucht, zu verstärken und zu unterstützen, was eh schon stattfindet, nämlich Menschen für einen begrenzten Zeitraum zu verstecken. (2)

Selbstbestimmung und Teilhabe

We'll Come United versucht die alltäglichen Kämpfe, die ständig überall stattfinden, sichtbar zu machen. Ob beim Besuch bei der Ausländerbehörde, beim Arzt oder beim Jobcenter: Es geht darum, die besten Erfahrungen auszutauschen, Menschen über ihre Rechte aufzuklären und ein Bewusstsein für die Unmenschlichkeit der deutschen Behörden, der Lagerunterbringung und der Ausgrenzung zu schaffen. Immer mehr Menschen überall in Europa leben in schlechten Wohn-, Arbeits- und sozialen Verhältnissen.

Um die hier stattfindenden Kämpfe aus der Prekarität herauszuholen, müssen die Bedürfnisse der Ausgegrenzten, der Unterschichten und der Illegalisierten im Fokus stehen. An ihren Forderungen muss praktische Solidarität ansetzen, wie es die Kampagnen der Gruppen »Recht auf Stadt«, »Solidarity Cities«, »Recht auf Bildung«, »Recht auf Gesundheitsversorgung« tun. Diese Solidarität kann der neoliberalen Austeritätspolitik wie auch dem Rechtspopulismus als gesellschaftliche Alternative entgegengestellt werden.

So zahlreich die oben genannten Kämpfe vorhanden sind, werden sie gesellschaftlich nicht wahrgenommen. Diese Sichtbarkeit versucht We'll Come United herzustellen, als eine Stimme derer, die nicht gehört werden, über deren Schicksale aber weiterhin von anderen entschieden wird.

Im Jahr 2018 soll es Einzelpersonen, Gruppen und Initiativen leichter gemacht werden, bei We'll Come United dabei zu sein. Dafür befindet sich das Netzwerk nun in der »Swarming Out Phase«: Viele schon beteiligte Gruppen schwärmen mit einem gemeinsamen Konzept aus, um Aktive und Interessierte in Städten und Dörfern, in Camps und in Communities zu erreichen, die bislang noch nicht dabei waren. Ergänzt wird dies durch eine Konferenz der großen Koalition des Antirassismus vom 10. bis 13. Mai 2018 in Göttingen, wohin das Netzwerk für kritische Migrations- und Grenzregimeforschung (kritnet), der Gesprächskreis Migration der Rosa-Luxemburg-Stiftung, das Solidarity Cities Netzwerk und We'll Come United zusammen einladen. Für den 29. September 2018 ruft We'll Come United zur zweiten großen antirassistischen Parade in Hamburg auf. Sie findet im September statt, in Anlehnung an den »March of Hope« vom Bahnhof Budapest nach München am 4. September 2015, der einmal mehr markierte, das und wie das Recht auf Bewegungsfreiheit durchgesetzt werden kann.

Robin Jensen ist aktiv bei We'll Come United. Infos unter: www.welcome-united.org.

Wer für We'll Come United spenden möchte, kann das an folgendes Konto: Kontoinhaber: borderline-europe Stichwort: welcome united, IBAN: DE81 4306 0967 4005 7941 01, BIC: GENODEM1GLS.

Anmerkungen:

1) www.bmfsfj.de/bmfsfj/studie-zeigt--viele-menschen-engagieren-sich-freiwillig-fuer-fluechtlinge/121758

2) z.B. buerger-innen-asyl-goettingen.info