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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 636 / 20.3.2018

Erinnerungsort der Niederlage

1968 Die »Märzereignisse« passen aus gutem Grund nicht in die große Erzählung vom widerständigen Polen

Von Andrea Genest

Mit Polen wird »1968« wenig in Verbindung gebracht. Dabei gehört die damalige politische Krise zu den wesentlichen Zäsuren in der Geschichte des Landes. Auch in Polen selbst finden die »Märzereignisse« weniger Beachtung als die politischen Geschehnisse anderer Jahre. Das Bild der niedergeschlagenen Studierendenproteste sowie die Tatsache, dass ein Großteil der polnischen Gesellschaft diesen indifferent bis distanziert gegenuber stand, ein kleinerer Teil sich sogar von der Partei gegen die Student_innen instrumentalisieren ließ, passt nicht in das Bild der Meistererzählung vom widerständigen und heroischen Polen. Die Erinnerung an 1968 müsste aber immer auch die Erinnerung an diejenigen einschließen, die die propagandistische Politik der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei (PZPR) unterstutzten, die sich zu diesem Zeitpunkt mit einer antisemitischen Kampagne schnell und konsequent ihrer Kritiker_innen entledigte.

Machtkampf mit Antisemitismus

Im polnischen »1968« sind drei Ebenen zu unterscheiden: die studentischen Proteste, der Machtkampf an der Spitze der PZPR sowie eine massive antisemitische Kampagne, in deren Folge Tausende Menschen aus dem Land vertrieben wurden.

1968 herrschte in Polen eine weit verbreitete politische und soziale Unruhe. Die Bevölkerung war unzufrieden mit der wirtschaftlichen Situation, über die politischen Restriktionen und staatlichen Repressionen. Innerhalb der Partei hatten sich nach 1956 Räume geöffnet, in denen ihre Mitglieder kritisch diskutieren konnten. Diese begannen sich entlang des schon lang anhaltenden und sich nun zuspitzenden Machtkampfes zwischen Staatspräsident Wladislaw Gomulka und seinem Innenminister Mieczyslav Moczar, der sich durch eine extrem nationalistische und antisemitische Einstellung auszeichnete, wieder zu schließen. 1967 behauptete Moczar, die Regierung Gomulkas sei von Juden unterwandert. Hintergrund war der Nahostkrieg von 1967. Die Unterstellung lautete, dass die polnischen Juden mit Israel sympathisieren würden. Die Partei organisierte so genannte antizionistische Demonstrationen und begann, den Staatsapparat von Juden zu säubern.

Moczar richtete sich mit seiner Politik des Machtausbaus in erster Linie gegen die Vertreter der Reformlinie von 1956, die zum Teil zu den Politikern der ersten Stunde nach dem Zweiten Weltkrieg gehört hatten. Dieses kritische Potenzial der sogenannten Revisionisten aus dem Innern der Partei wurde von Moczar und seinem Parteiflugel als besonders gefährdend wahrgenommen. In der ersten Hälfte der 1960er Jahre war es zu einer Reihe von kritischen Aktivitäten gekommen, die sich an den Ideen einer Demokratisierung des Systems von 1956 orientierten. Die Fraktion um Moczar, die so genannten Partisanen, hatte alle notwendigen Instrumente in ihrer Hand, um den Kurs der Partei im Jahr 1968 zu bestimmen. In ihrem Gestus populistisch und dogmatisch, griffen sie auf in der polnischen Gesellschaft verankerte Stereotypen und Vorurteile zuruck. In ihrer Kampagne richteten sie sich zunächst gegen liberale Politiker, Intellektuelle, Kunstler_innen und Medienangehörige aller Art, die scheinbar wahllos des Zionismus, des deutschen Revanchismus bzw. einer proamerikanischen Haltung bezichtigt wurden.

Unter Studierenden hatte sich schon seit Längerem eine dissidente Bewegung gebildet: Sie forderte mehr Freiheiten (Rede-, Pressefreiheit) und entwickelte besondere Techniken der Informationsverbreitung. Sie berichtete über die weltweiten Proteste gegen den Vietnamkrieg und über die Bürgerrechtsbewegung in den USA. Jacek Kuron und Karol Modzelewski, Studierende und Vertreter einer jüngeren Parteigeneration, schrieben ihren »Offenen Brief an die Partei«, der auch im Westen verbreitet und diskutiert wurde. Sie forderten einen demokratischen Sozialismus und eine »Politik der kontrollierbaren Freiräume«.

Die geplante Absetzung des Theaterstücks »Totenfeier« von Adam Mickiewicz zum Ende des Jahres 1967 mit dem Vorwurf, die Inszenierung von Kazimierz Dejmek trage antisowjetische Züge, führte im Januar 1968 zu spontanen, vor allem studentischen Demonstrationen, die von Arbeitermilizen (ORMO) brutal zusammengeschlagen wurden. Es gab Verhaftungen und Verhöre. Auch jetzt lautete der Vorwurf: Die Studierenden seien von Zionisten unterwandert und dem Staat gegenüber illoyal. Zwei Studenten, Adam Michnik und Henryk Szlajfer, die bereits seit Beginn der 1960er Jahre Diskussionsforen organisiert hatten, wurden am 6. März von der Warschauer Universität geworfen. Dies führte am 8. März zu einem universitätsweiten Protest, der sich schnell über die Stadt und in den nächsten Tagen auf andere Universitätsstädte ausbreitete. Studentische Sprecher, viele wurden später bekannte Dissidenten, landeten im Gefängnis, viele Hochschullehrer wurden entlassen. Erstmals solidarisierten sich Teile des katholischen Milieus Polens mit den Studenten.

Entlassung und Exil

Die Partei reagierte darauf mit Kundgebungen, die sie an Betrieben und auf öffentlichen Plätzen abhalten ließ. Diese Versammlungen wurden während der Arbeitszeit abgehalten, damit die Belegschaften möglichst geschlossen teilnahmen und im Anschluss eine Resolution unterzeichneten, die sich gegen die Proteste richtete. Die Polnische Presseagentur hatte den Auftrag erhalten, diese Manifestationen zu dokumentieren. Personen wurden gezielt unter Druck gesetzt, selbst wenn sie nicht zu den Reformern gehörten. Innerhalb einiger Wochen sollen mindestens 700 Personen aus zentralen Ämtern und Institutionen entlassen worden sein, in der Arbeiterverlagsgenossenschaft Prasa (Presse) sogar 800. Besonders groß war der personelle Aderlass an den Universitäten, die durch die so genannten Märzdozenten aufgefullt wurden, neu eingestellte Lehrkräfte, die den so entstandenen Leerraum als willkommene Chance fur ihren beruflichen Aufstieg nutzten. Sie bildeten damit zugleich den die Politik Moczars unterstutzenden intellektuellen Ruckhalt. Maßgebliche Wissenschaftler, unter ihnen Zygmunt Bauman, Leszek Kolakowski, Wlodzimierz Brus und Aleksander Smolar, die zugleich Vertreter der These eines reformierbaren Sozialismus waren, hatten die Universität verlassen müssen.

Unter den schätzungsweise 15.000 zur Emigration Gezwungenen sollen sich ca. 500 Wissenschaftler_innen, 1.000 Studierende, 200 Mitarbeiter_innen aus Presse und Verlagen, Filmschaffende, Schauspieler_innen und Schriftsteller_innen befunden haben, sowie 200 Mitarbeiter_innen des ehemaligen Ministeriums fur Staatssicherheit bzw. des Innenministeriums.

Die Rolle der Arbeiter_innen

Diese Auswanderungswelle schwächte die Protestierenden. Die staatlich forcierte Diffamierungs- und Ausgrenzungskampagne isolierte die Betroffenen. Sie hatten keine Möglichkeiten und keine Räume mehr, um sich auszutauschen, um eine Öffentlichkeit zu erreichen, so dass viele von ihnen sich fur den Gang ins Exil entschieden. Die antisemitische Propaganda endete relativ abrupt am 24. Juni 1968 mit einer Weisung des Presseburos der Regierung, die gehäuften Ausfuhrungen uber den Zionismus zu unterlassen. Viele der dagebliebenen Studierenden wurden ins Militär eingezogen oder mussten sich »in der Produktion bewähren«. Die Nachricht über die Niederschlagung des Prager Frühlings im August desselben Jahres hatte eine zusätzliche niederschmetternde Wirkung. Die Selbstverbrennung von Ryszard Siwiec während der zentralen Feierlichkeiten zum Erntedankfest in einem Warschauer Stadion war deren Fanal.

Die Märzereignisse lassen sich nicht auf studentische oder intellektuelle Proteste reduzieren. Den Arbeiter_innen kam, ob aktiv oder passiv, eine entscheidende Rolle zu. Es gab kleinere Gruppen und Einzelpersonen aus ihren Reihen, die die Studierenden in ihrem Protest unterstützten. Andere ließen sich von der Staatsmacht instrumentalisieren und beteiligten sich an den Kampfgruppen der Partei und mit der ORMO an der Niederschlagung der Proteste. Während der Ereignisse 1968 und in den folgenden Monaten gluckte es der polnischen Staatsmacht, der Öffentlichkeit weitgehend zu verheimlichen, dass es tatsächlich Solidaritätsaktionen unter den Arbeitenden gegeben hatte. Andrzej Friszke merkt an, dass die Aktionen aber nicht auf den Firmengeländen stattfanden, sondern außerhalb ihres beruflichen Umfeldes. Sie hätten nicht als Arbeiterklasse, sondern als Citoyens gehandelt. Es waren insbesondere junge Arbeiter_innen und Lehrlinge, die sich mit Einzelaktionen hervortaten oder die Studierenden bei ihren Demonstrationen unterstutzten. Kleinere Gruppen beteiligten sich an den Demonstrationszugen, und an Mauern tauchten Parolen auf, wie »Weg mit dem Kommunismus« oder »Arbeiter unterstutzen die Studenten.«

Einzelne Flugblätter kamen in Umlauf, die im Namen der Belegschaft bestimmter Betriebe ihre Solidarität mit den Studenten ausdruckten. Sie erinnerten an den gemeinsamen Kampf im Oktober 1956 um Freiheit und Demokratie und an die damals formulierten Forderungen nach Souveränität und Unabhängigkeit. Allerdings hat es von diesen Flugblättern und Solidaritätsbeweisen nicht viele gegeben. Den auf Seiten der Studierenden engagierten Arbeiter_innen gelang es nicht, sich eine vernehmbare Stimme zu verschaffen. Unter den 2.725 zwischen dem 7. März und 8. April verhafteten Personen befanden sich immerhin 937 Arbeiter_innen. Trotzdem werden sie kaum als Träger_innen der Proteste wahrgenommen.

Lech Walesa beschreibt die geschundenen Rucken der studentischen Praktikanten, die die Arbeiter in den Umkleideräumen sahen. Einen Studenten hätten sie auf den Hof gebracht und gerufen: »Wollen wir unsere Kinder, die Kinder der Arbeiter und Bauern, so prugeln lassen?« Dies war nicht nur als Kritik an der Staatsmacht zu verstehen, sondern auch als Anklage an die Kollegen, die in den Reihen von ORMO und Kampfgruppen auf den Demonstrationen die studentischen Proteste niederknüppelten.

Auf der Ebene der Teilnahme von Arbeiter_innen an der staatlichen Propaganda fand eine geschickte Mischung aus aktiver und passiver Teilnahme statt, da sie sich diesen Versammlungen schlecht entziehen konnten. Ihre Handlungsmöglichkeiten bestanden darin, die Schilder mit den antisemitischen Stereotypen hochzuhalten, den Rednern zuzustimmen oder zu versuchen, sich der Unterzeichnung der Resolution zu entziehen. Doch die Entlassungs- und Vertreibungswelle im Land konnte auch an den Arbeiter_innen nicht vorbeigehen - sie konnten sich nicht sicher sein, ob eine verweigerte Unterschrift unter eine Resolution, die die Unruhen verurteilte, den Verlust des Arbeitsplatzes hätte bedeuten können. Anders als andere Volkswirtschaften des Ostblocks stand Polen 1968 einer offen zutage tretenden Arbeitslosigkeit gegenuber.

Hatten sich 1956 noch Arbeiter_innen und Intellektuelle engagiert, gelang es der Staatsmacht in der erneuten politischen Krise zwölf Jahre später, das studentische Milieu von dem der Arbeiter_innen zu isolieren. Waren die Studierenden und Intellektuellen vor 1968 in die Kommunistische Partei eingetreten, um das politische System von innen zu demokratisieren, sahen sie nach den Märzereignissen des Jahres 1968 diese Perspektive für sich nicht mehr, sondern nur außerhalb der Partei. Die Zerschlagung der Proteste hat die Ereignisse 1968 in Polen zu einem Erinnerungsort der Niederlage werden lassen.

Andrea Genest arbeitet am Dokumentationszentrum NS-Zwangsarbeit in Berlin-Schöneweide. Eine längere Fassung des Beitrags erscheint im neu aufgelegten Band »1968 und die Arbeiter« (siehe Kasten).

Der Band »1968 und die Arbeiter«

»1968« gilt weithin als Revolte der Student_innen, als Jugendprotest. Doch was viele Erzählungen ausblenden: In zahlreichen Ländern Europas spielten die Kämpfe der Arbeiter_innen eine wesentliche Rolle für die Entwicklung. Dabei gab es ein Wechselverhältnis der Bewegungen von Arbeiter_innen und Student_innen, das von gegenseitigem Unverständnis bis zum Schulterschluss reichte. Nun erscheint die Neuauflage des 2007 erschienenen Versuchs, erstmals für West- und Osteuropa zusammen die Rolle der Arbeiter_innen in den Kämpfen um 1968 einem breiteren Publikum zugänglich zu machen. Das Buch enthält 13 Länderstudien, eine Einführung zum europäischen Vergleich und ein neues Vorwort zum aktuellen Forschungsstand, in dem die damaligen Ereignisse »50 Jahre nach 1968« mit seinen veränderten Verhältnissen »verortet« werden.

Bernd Gehrke und Gerd-Rainer Horn (Hg.): 1968 und die Arbeiter. Studien zum »proletarischen Mai« in Europa. Neuauflage, VSA Verlag, Hamburg 2018. .