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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 636 / 20.3.2018

Traurige Revolutionäre

Diskussion Zu den Möglichkeiten und Problemen eines beziehungstheoretischen Revolutionskonzepts

Von David Doell

Mit dem sogenannten Ende der Geschichte nach 1990 ging auch ein vorläufiges Ende der Revolutionstheorie einher. Das bedeutete auch, dass linksradikale Strategien seitdem oftmals ohne theoretisches Revolutionsverständnis auskommen müssen - beziehungsweise implizit hauptsächlich auf Vorstellungen aus dem 19. und 20. Jahrhunderts aufbauen.

Brauchen wir für eine emanzipatorische Revolution im 21. Jahrhundert also auch eine Revolutionstheorie neuen Typs? Um diese Frage geht es Bini Adamczak in ihren Büchern »Beziehungsweise Revolution« (ak 633) und »Der schönste Tag im Leben des Alexander Berkman« (ak 634). Während »Der schönste Tag« mit einer konkrete Analyse einer konkreten historischen Situation die nicht realisierten Möglichkeiten in der Russischen Revolution auslotet, liefert »Beziehungsweise Revolution« das allgemeine Theorieprisma, vor dem diese Möglichkeiten für die Gegenwart leuchten können. Verkürzt gesagt vertritt Adamczak die These, dass Geschichte nicht eine Geschichte von Klassenkämpfen ist, sondern eine Geschichte von Kämpfen um Beziehungsweisen. Konkret: Wenn die Bolschewiki nicht alles unter der imaginären Totalität der Partei subsumiert und sich nicht auf die Übernahme der Staatsapparate fixiert hätten, sondern primär auf das Ausbilden von solidarischen und kritischen Beziehungsweisen, hätte der Revolutionsverlauf eine andere, emanzipatorischere Richtung nehmen können.

Das Ziel der Solidarität

Adamczaks Ausgangsfrage ist denkbar einfach: Warum sind Revolutionär_innen im nachrevolutionären Russland traurig, die Revolution von 1917 verpasst zu haben? Ist die Revolution nicht eigentlich nur eine Strategie, um die nachrevolutionäre Gesellschaft zu erreichen, in der wir leben wollen? Die Autorin diagnostiziert neben der naheliegenden Unzufriedenheit mit der Herrschaft der bolschewistischen Partei eine grundlegende Fetischisierung der Revolution, in der sich das Verhältnis von Mittel und Zweck verkehrt habe. Die Revolution diene nicht länger dazu, das Begehren nach einer anderen Welt zu befriedigen, sondern werde zum Selbstzweck, auf das sich das Begehren richte.

Dieser Befund motiviert das Unterfangen, die Revolution als militärischen Aufstand zu dekonstruieren und die Strategie der Revolution von der Utopie ausgehend zu denken. Die zentrale These von Adamczak lautet, dass es darauf ankommt, nun nicht auf der anderen Seite einem Utopiefetisch anheimzufallen, sondern Revolution und Utopie in ein stimmiges Verhältnis - eine günstige Beziehung - zu setzen. »Das gelingt, wenn die postrevolutionäre Gesellschaft als Ensemble solidarischer Beziehungsweisen gefasst wird und die Revolution als Knüpfen genau dieser Beziehungen.« (Beziehungsweise Revolution: 266) Solidarität, die laut Adamczak in bisherigen Revolutionskonzeptionen vernachlässigt wurde, kann diese Verbindung sein, nämlich einerseits als solidarische Gesellschaft das Ziel von Revolution, andererseits als solidarischer Kampf das Mittel, durch das Revolutionen passieren.

Damit werden grundlegende Weichenstellungen für ein beziehungstheoretisches Revolutionsverständnis getroffen. Die sich in der Revolution ausbildenden solidarischen Beziehungsweisen sind die Grundbedingung einer emanzipatorischen Revolution. Ohne sie kann es zwar militärische Erfolge und/oder die Übernahme von Staatsapparaten geben, aber gerade keinen Kommunismus. Revolutionen im so verstandenen Sinn sind primär konstruktiv und nur deswegen destruktiv, weil sie die gesellschaftlichen Bedingungen, die das Ausbilden von solidarischen Beziehungsweisen blockieren, aufsprengen müssen.

Die queerfeministische Wende

Damit stellt sich die Frage, wie Beziehungen gesellschaftlich strukturiert sind, was solidarische Beziehungen blockiert und wie sie ermöglicht werden. In dieser Hinsicht bestimmt Adamczak das Geschlechterverhältnis als zentrale Matrix, auf der sich die Veränderungen von Beziehungsweisen abspielen.

Diese These entwickelt ihre Sprengkraft darin, dass das Verhältnis von »Haupt- und Nebenwiderspruch« nicht nur auf den Kopf gestellt wird, sondern ganz andere Beziehungen zwischen »Kopf« und »Füßen« entwickelt werden müssten. Adamczak konstatiert, dass sozialistische Materialist_innen, nicht zuletzt Marxist_innen, »obwohl sie von der objektiven materiellen Stellung des Proletariats ausgingen, die Basis ihrer Zusammenkunft häufiger in der Welt der Ideen, Theorien, Manifeste und Programme, im besten Fall in einer strengen Organisation, der Partei gesucht (haben) als in der Beziehungsweise von Rat, Kommune, Commons oder Assoziation, als im geteilten Grund einer gemeinsamen Praxis«. (76) Der Materialismus der Marxist_innen war unter anderem deshalb ein unvollständiger, weil der eigene Modus der Politik auf dem Rücken unsichtbarer Reproduktions- und Beziehungsarbeit immer schon idealistisch ist. Er klammert zentrale Fragen aus: Wer gebiert, füttert, erzieht, bekocht, umsorgt, pflegt die Revolutionäre, während sie die politische Arbeit machen?

Wenn heute also über neue Klassenpolitik gesprochen wird, müsste das zum Beispiel nicht nur heißen, Frauen* für alte Klassenpolitik zu gewinnen, sondern wesentlich auch eine Art des Politischen zu entwickeln, in der »Reproduktionsarbeit« und »politische Arbeit« grundlegend anders miteinander verknüpft werden.

Adamczak versucht dies an den beiden Revolutionssequenzen von 1917 und 1968 aufzuzeigen. In kritisch-solidarischer Absicht sollen durch eine queerfeministische Doppelbelichtung des historischen Scheiterns die zu aktualisierenden Potenziale eines »umfassenden Kommunismus« gewonnen werden. Denn beide utopisch-revolutionären Konstruktionen gäben Antworten auf das gleiche Problem: »die gesellschaftliche Spaltung in Produktions- und Reproduktionssphäre, Öffentlichkeit und Privatheit, Rationalität und Emotionalität«. (217) Während die Bolschewiki auf eine universelle Maskulinisierung setzten, also eine Gesellschaft projektierten, in der alle zu vollwertigen Menschen werden können, indem sie eine männlich codierte Sozialrolle im »Öffentlichen« annehmen, antizipierten die Bewegungen von 1968 eine Vervielfältigung von Geschlechtern in der Politisierung des »Privaten«. Laut Adamczak gehe es aber »nicht um ein gerechteres Verhältnis zwischen Männern und Frauen, sondern um die Abschaffung von Männern und Frauen. Allerdings weder indem alle Menschen zu Männern würden, noch indem eine allgemeine Fluidisierung zu permanenter geschlechtlicher Neuerfindung nötigte. Sondern durch Konstruktion sicherer sozialer Verhältnisse, das heißt stabiler Beziehungsweisen, die Anerkennung von Subjekten nicht an deren künstliche Verarmung koppeln.« (220)

Hartnäckige Objekte

Ein so gelagertes Revolutionsverständnis kann meines Erachtens auch als eine queerfeministische und reproduktionsorientierte Spielart des Rätekommunismus verstanden werden. Adamczak erwähnt zwar die anarchistische Position Gustav Landauers, setzt sich allerdings nur ganz am Rande mit Rätekommunist_innen wie Anton Pannekoek, Sylvia Pankhurst oder Cornelius Castoriadis auseinander. Auch die Tatsache, dass zentrale Akteur_innen des Mai 68 sich eher in einer rätekommunistischen Tradition begriffen und poststrukturalistische Autoren eher abgelehnt wurden, wird unter dem Bild der Abfolge Totalität-Singularität-Beziehungsweise ausgeklammert. Damit werden auch interessante gegenhegemoniale linke Erzählungen und Praxen unterrepräsentiert.

Die Theorie-Praxis-Gruppe Socialisme ou barbarie hatte zum Beispiel bereits in den 1950er Jahren ein gewissermaßen beziehungstheoretisches Revolutionsverständnis ausbuchstabiert. Castoriadis schreibt in Bezug auf die ungarische Revolution von 1956: »Die Dinge werden noch klarer, wenn man Revolte als Explosion und Zerstörung der alten Ordnung, die Revolution als selbstorganisierte Tätigkeit im Hinblick auf die Errichtung einer neuen Ordnung betrachtet.« (Castoriadis: 86) Gerade hierin läge, die »Bedeutung der Forderung der ungarischen Arbeiterräte nach Selbstverwaltung und Bildung von Räten in allen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens«. Gegen Marx und Lenin gelte es deshalb, das Politische, Verbindende, Aufbauende der Revolution zu betonen. Auch im Kommunismus wird Konflikt und ein Streit über Existenzweisen zu führen sein: »Politik hieß für Marx, Lenin usw. Kampf gegen die Bourgeoisie, Bündnis mit anderen Klassen usw.; kurzum, Beseitigung der Relikte der alten Welt, nicht positive Institution und Organisation einer neuen Welt. Für Marx sollte und konnte es in einer hundertprozentig proletarischen Welt keine politischen Fragen geben.« (ebd.: 95)

Lohnend wäre eine Auseinandersetzung mit diesem Rätekommunismus auch dahingehend gewesen, sich mit Fragen der Technologie und Re-Produktionsinstrumente auseinanderzusetzen. Denn gesellschaftliches Leben wird auch durch materiell-technologische Faktoren organisiert, die selbst ein Ausdruck der jeweiligen Gesellschaft sind: »Ein radikaler Wandel in den Beziehungen der Arbeiter zur Arbeit impliziert eine radikale Veränderung der Produktionsinstrumente. (...) Ein Fließbandsozialismus wäre ein Widerspruch in sich, wenn er sich nicht um eine grauenvolle Mystifikation handeln würde.« (ebd.: 93)

In Adamczaks konstruktivistischer Revolutionstheorie, in der das Knüpfen von anderen Beziehungsweisen im Mittelpunkt steht, scheint der Aspekt der materiellen Zerstörung vorschnell aufgegeben. Doch es müsste darum gehen, auch der Revolte einen Platz in der Revolution zu geben. Dass gewisse materielle, technologische und architektonische Verhältnisse zerstört werden müssen, ergibt sich daraus, dass sie selbst wesentlich Destruktionsmittel sind.

Auch käme es darauf an, das Verhältnis von 1917 und 1968 nicht so gegeneinander zu wenden, dass deren Begriffe im Prinzip keine Rolle mehr spielen. Konkret würde das etwa bedeuten, etwa die Begriffe der Totalität und der Partei nicht preiszugeben, sondern kritisch anzueignen: Dass das Parteikonzept der Bolschewiki emanzipativ nicht tragfähig war, heißt nicht, dass gar kein Parteikonzept das sein könnte. Was wir brauchen, ist eine solidarische Partei, in der es nicht nur um Ideen und strenge Organisation geht, sondern um die Organisation von solidarischen Re-Produktionsweisen, die kommende Kämpfen begünstigen. Nicht neoleninistisch staatsfokussiert, nicht postmodern identitätsfokussiert, nicht postautonom kampagnenfokussiert, sondern solidarisch re-produktionsorientiert müsste diese Partei aus grundsätzlich heterogenen Kräften bestehen. Aus Kräften, die heterogen bleiben können und dennoch auf die Totalität zielen, ohne zu glauben, diese endgültig erreichen zu können - eine offene Totalität.

David Doell schrieb in ak 632 über Didier Eribons »Gesellschaft als Urteil«.

Bini Adamczak: Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende. Suhrkamp Verlag, Berlin 2017.

Cornelius Castoriadis: Ungarn 56. Die ungarische Revolution. Verlag Edition AV, Lich 2016.