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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 637 / 17.4.2018

»Eine homosexuelle Bewegung musste für ihn stören«

Geschichte Antoine Idier über den Philosophen Guy Hocquenghem und das Erbe von 1968

Interview: Julian Volz

Im Jahr 1971 formten einige lesbische Aktivistinnen, die zuvor im Mouvement de Libération des Femmes (MLF, Bewegung der Frauenbefreiung) aktiv waren, in Paris die FHAR, die Front homosexuel d'action révolutionnaire (Homosexuelle Front für Revolutionäre Aktion). (1) Guy Hocquenghem war einer der ersten schwulen Männer, die sich ihnen anschlossen. 1946 geboren wurde er an einem Marxismus geschult, der sich in Opposition zur Kommunistischen Partei verstand. Als Journalist arbeitete er bei der maoistischen Tageszeitung Libération und unterrichtete Philosophie an der Universität von Vincennes. Der Vertraute von Gilles Deleuze, Michel Foucault und René Scherer veröffentlichte mehr als zwanzig Werke, bis er 1988 an AIDS starb. 2017 hat der Soziologe Antoine Idier eine Hocquenghem-Biografie veröffentlicht.

Wie hast du dich in deinem Buch der Person Hocquenghem genähert?

Antoine Idier: Ich wollte anhand seiner Biografie eine Geschichte der radikalen Linken und der homosexuellen Politik in Frankreich schreiben. Es ging mir dabei darum, herauszuarbeiten, wie aus einem politischen Aktivisten, der »nebenbei« auch homosexuell war, ein Schwulenaktivist wurde, das heißt jemand, der seine Sexualität als politische und soziale Identität dachte. Diese Verwandlung ist aufs Engste mit dem Mai 1968 verbunden. Mein Buch sollte auch eine Geschichte davon sein, wie der Mai 1968 unsere politischen Kategorien von Grund auf umgewälzt hat. Die Frage des Erbes von 1968 hat die Linke seitdem nicht mehr losgelassen.

Hocquenghems erstes Buch »Das homosexuelle Verlangen« ist hierzulande sein bekanntestes Werk. (2) Vielen gilt es sogar als einer der ersten Texte der Queer Theory. Hocquenghem schreibt dem homosexuellen Verlangen ein großes subversives Potential zu. Warum sieht er in der Homosexualität eine solche Subversivität angelegt, die dazu führt, dass sich die Lesben- und Schwulenbewegung von anderen politischen Bewegungen der Linken unterscheidet?

Hocquenghem vollzieht in dem Buch nach, wie die Homosexualität historisch als eine von der Heterosexualität abgegrenzte soziale Form konstituiert wurde. Um es in den auch von Hocquenghem gebrauchten Begriffen von Gilles Deleuze und Félix Guattari zu sagen: Wie wurden die Wunschströme in ein heterosexuelles und in ein homosexuelles Verlangen separiert? Er untersuchte die Diskurse, die diese gesellschaftliche Schöpfung des homosexuellen Verlangens begleiten. Das Buch ist ein sehr harscher Angriff auf die post-freudianische und Lacansche Psychoanalyse, die er als Instanzen der Normierung und der Repression betrachtete. Laut Hocquenghem haftet dem homosexuellen Verlangen etwas Subversives an, weil die sozialen Normen aus ihm eine »Perversion« gemacht haben: Dadurch, dass es besteht und gelebt wird, stellt es genau diese sozialen Normen in Frage. So ist beispielsweise dem Anus ein ganzes Kapitel gewidmet. Das auf den Anus gerichtete Verlangen bedroht den Phallus als dominanten sozialen Signifikanten und schwächt somit die von ihm verkörperte männlich-heteronormative Herrschaft. Aber man muss auch kritisch fragen: Findet in den Schriften Hocquenghems nicht eine Form der Essentialisierung der Homosexualität statt, wenn er diese als notwendigerweise randständig und subversiv begreift?

Das Buch »Das homosexuelle Verlangen« bedeutete auch gleichzeitig seinen Abschied vom Marxismus, aus dem er ja kommt. In Teilen der deutschen Homosexuellenbewegung der 1970er Jahre fand eine ähnliche Abgrenzung statt. Die Auseinandersetzung um den Marxismus wurde in der BRD als »Tuntenstreit« bekannt. Homosexuelle, die neomaoistischen Gruppen angehörten, wollten sich an ein verdinglichtes Bewusstsein des Proletariats anpassen und innerhalb dessen um Toleranz für Homosexuelle werben, während die sogenannten »Feministen« das heterosexuelle Zwangssystem zuerst durch eine individuelle Emanzipation bekämpfen wollten. Der Legende nach wurde der Bruch der beiden Lager nach den »Provokationen« von »feministischen« Homosexuellen aus Frankreich und Italien während der homosexuellen Pfingstdemonstration 1973 in Berlin offen vollzogen. Wie hat Hocquenghem seine Abkehr vom Marxismus begründet, und ist dir etwas über den Einfluss von Hocquenghem auf die deutsche Homosexuellenbewegung der 1970er Jahre bekannt?

Der »Anti-Ödipus« von Deleuze und Guattari richtete sich nicht nur gegen die Psychoanalyse, sondern auch gegen den Marxismus. Es stellt die ökonomistische Sicht auf die sozialen Verhältnisse in Frage: Die Gesellschaft ist auch von Wunschströmen und libidinösen Besetzungen durchzogen. Das Buch hat die Schwulenbewegung auch deswegen begleitet, weil sich die FHAR unaufhörlich gegen die Homophobie in der Linken und die linke Zurückweisung der homosexuellen Kämpfe engagiert hat. Wie zahlreiche weitere Aktivisten hat Hocquenghem ein doppeltes Leben geführt. Letztlich kam er zu dem Schluss, dass es nicht möglich ist, innerhalb der radikalen Linken homosexuell zu sein. Selbst nach 1968 wurde Homosexualität in der Linken abgelehnt. Begründet wurde dies mit einem arbeitertümelnden Denken, das meinte, innerhalb der Arbeiterklasse käme Homosexualität nicht vor. Und natürlich war auch die Idee sehr präsent, dass der Kampf gegen den Kapitalismus den wichtigsten Kampf darstellt und dass die anderen Kämpfe sekundäre seien, die sich mit dem Anbruch der Revolution von alleine erledigen würden. Zu der zweiten Frage: Ja, Hocquenghem war tatsächlich zusammen mit anderen französischen Aktivisten im Juni 1973 in West-Berlin. Hocquenghem schrieb später: »Eine Schwulendemo geht den Westberliner Kurfürstendamm entlang und ruft dabei Parolen gegen den sexuellen Rassismus, ach wie gerissen und neu das ist, sogar fast ein wenig unangepasst.« Für ihn muss eine homosexuelle Bewegung stören und durcheinanderbringen. Wenn sie für andere politische Kräfte zu einem anerkannten Verhandlungspartner wird, verliert sie diese subversive Kraft. Nur leider ist es nicht so leicht, den Moment zu erkennen, an dem eine Bewegung beginnt, anerkannt zu werden.

Hocquenghem schreibt in seinem Buch »Das homosexuelle Verlangen« auch, dass das homosexuelle Verlangen die gesamte repressive Zivilisation in Frage stelle und sich daher niemals ins System integrieren lasse. Heutzutage heiraten Schwule, adoptieren Kinder und werden als besonders kaufwilliges und kaufkräftiges Publikum von der Werbeindustrie fleißig umworben. Kurz: Schwule Männer sind angepasster denn je. Könnte man nicht ganz ketzerisch sagen, dass der in seiner Theorie angelegte Fokus auf die individuelle Emanzipation und Mikropolitik diese Entwicklung begünstigt hat, da so das Glück vor allem im privaten Bereich gesucht wurde?

Hocquenghem hat sich sehr früh die Frage gestellt, ob es sinnvoll ist, die Kategorie der »Homosexualität« zu verwenden. Einige Monate nach seinem Coming-out ruft er zum Misstrauen auf. Denn die eigene Homosexualität zu bekräftigen, bedeutet auch die Kategorien der Psychoanalyse anzuerkennen. In der Mitte der 1970er Jahre schreibt er sehr heftige Streitschriften gegen die Schwulenbewegung und ihren gewandelten Lebensstil. Aber auch er hat Kampagnen zur Änderung der Gesetzgebung unterstützt. Er war trotzdem der Meinung, dass jede fortschrittliche Gesetzesänderung von reaktionären Wandlungen begleitet sein kann: Man muss daher nachspüren, wie das Recht durch seine Neuzusammensetzung zu neuen Ausschlüssen führt und neue Grenzen zwischen toleriertem und unterdrücktem Verhalten errichtet. Zur »Integration ins System«: Diese Frage hat Hocquenghem keine Ruhe gelassen und nicht nur auf dem Gebiet des Sexuellen. In welchem Maße war er »integriert«, als Journalist, als jemand, der Bücher bei anerkannten Verlagen publiziert und ein mehr oder weniger bürgerliches Leben führt? Aber kann man überhaupt »nicht integriert« sein? Ist es möglich, komplett außerhalb zu stehen? In einigen Texten kommt er mit einigem Pessimismus zu dem Ergebnis, dass dies nicht möglich ist.

Du schreibst in deinem Buch, dass es dir auch darum geht, dem mit 1968 verbundenen Erbe nachzuspüren. Welches Erbe hast du gefunden und vielleicht auch angetreten, während du das Buch geschrieben hast?

Mein Buch versteht sich als eine Intervention in eine intellektuelle Debatte. Der Mai 1968 wurde in den 1980er Jahren extrem entpolitisiert. In den herrschenden Diskursen wurde daraus eine gigantische Party und lustige Bewegung ohne wirkliche Konsequenzen. Im besten Falle wird gesagt, dass es vor allem um eine Wandlung der Lebensweisen und die Befreiung der Sexualität ging. Manche Autoren und Autorinnen wie Kristin Ross in ihrem Buch »May 68 and it's Afterlives« wollten dem Mai 1968 eine grundlegende politische Bedeutung zurückgeben. Aber sie macht dabei eine Hierarchie der Kämpfe auf und stärkt die Idee, dass die sozialen Bewegungen im Gegensatz zu den feministischen und homosexuellen Kämpfen die wahren politischen Kämpfe darstellen würden. Die Frage des Erbes stellt sich in der Tat seit 50 Jahren. Der Werdegang von Hocquenghem zeigt, dass sie bereits seit dem Sommer 1968 gestellt wurde! Und ja, es wurden nicht wenige, sich oftmals widersprechende Antworten auf diese Erneuerung der politischen Formen gegeben. Besonders die feministische und homosexuelle Bewegung entstammen ihr. Innerhalb der radikalen Linken erleben wir heute die Wiederkehr einer bestimmten autoritären Form des Marxismus. Diese will eine Hierarchie zwischen »politischen« und »ökonomischen« Kämpfen auf der einen und »kulturellen« und »identitären« Kämpfen auf der anderen Seite wiederherstellen und den sogenannten »Individualismus« zurückweisen. Wenn man aber darauf zurückkommt, was nach dem Mai 1968 in Frankreich passiert ist, kann man ein anderes Politikverständnis entwickeln. Eine Politik, die sich vielfältig und libertär begreift, die niemals auf einen einzigen Widerspruch und eine einzige Linie des Bruch beschränkt werden kann, stattdessen von Spannungen durchkreuzt ist und mit einem dynamischen Denken über soziale Gruppen und subjektive Zugehörigkeiten operiert.

Julian Volz lebt in Brüssel und organisiert dort beruflich Kulturveranstaltungen.

Übersetzung aus dem Französischen: Julian Volz

Anmerkungen:

1) Ein englisch untertitelter Ausschnitt aus dem Film »Le F.H.A.R.« von Carole Roussopoulos vermittelt einen Eindruck von der Gruppe. Online unter www.carole-roussopoulos.fr/?slide=avoir&lang=english.

2) Guy Hocquenghem: Das homosexuelle Verlangen, München 1974.

Antoine Idier

hat bei Didier Eribon über Hocquenghem promoviert und ist Autor des Buchs »Les Vies de Guy Hocquenghem. Politique, sexualite, culture«. Er hat 2017 einen Sammelband mit Artikeln von Guy Hocquenghem herausgegeben. Momentan ist er Leiter für Studien- und Forschungsangelegenheiten an der Ecole nationale superieure d'arts in Paris-Cergy.