Ein neuer roter Kaiser
Stau auf der Seidenstraße Xi Jinping wird Präsident auf Lebenszeit - das Regierungssystem der Volksrepublik droht unflexibel zu werden
Von Pierre Rousset
Jüngste Verfassungsänderungen erlauben es Xi Jinping, dem Präsidenten der Volksrepublik China, so lange zu regieren, wie er will. Diese Maßnahmen vervollständigen ein politisches Regime, an dem Xi Jinping seit seinem Amtsantritt im Jahr 2013 gearbeitet hat.
Die Ankündigung der Verfassungsreform sorgte für großes Aufsehen in der KPCh. Ein junges Parteimitglied aus Chengdu sagte: »Es war ein Schock. Alle meine Freunde reden darüber. Einer sagt, dass die Partei ihre eigenen internen Mechanismen habe, um die Macht zu regulieren. Aber ich denke, dass wir einen Präsidenten haben, der nicht mehr gehen wird. Man sagt immer, dass Angestellte sich an die Regeln halten müssen, die Chefs aber sie nach Belieben ändern können. Genau das ist es, was gerade geschieht.«
Seit 2012 hat Xi Jinping Schlüsselpositionen im politischen System der Volksrepublik China besetzt: Vorsitzender der Zentralen Militärkommission, Generalsekretär der KP China und Präsident der Volksrepublik. Laut Verfassung kann das Präsidentenamt nicht länger als zwei aufeinanderfolgende Amtszeiten ausgeübt werden. So soll eine allzu große Machtkonzentration vermieden werden. Es war bekannt, dass Xi sich von dieser Begrenzung befreien wollte. Auf dem 19. Parteitag der KP China Ende Oktober 2017, kurz vor Beginn seiner zweiten Amtszeit, hatte er weder seine Nachfolge vorbereitet noch Vertreter_innen der nächsten Generation in den Ständigen Ausschuss aufgenommen.
Im Januar hob das Zentralkomitee die oben genannten Beschränkungen (die Beschlüsse wurden am 25. Februar veröffentlicht). Der Akt selbst kam nicht überraschend, wohl aber seine Radikalität. Die Verfassungsänderungen hätten begrenzt werden können; etwa hätte dem Präsidenten lediglich eine dritte Amtszeit von fünf Jahren erlaubt werden können. Oder man hätte das Amt des Generalsekretärs der Partei von der Präsidentschaft entkoppeln können (derzeit ist es in einer Person vereint). Nichts dergleichen ist geschehen: Xi kann all seine Ämter so lange behalten, wie er will - und wie er kann.
Lange haben in China drei Regierungsweisen nebeneinander existiert: die der Partei, der Regierung und der Armee (die auch eine bedeutende Wirtschaftsmacht ist). Hinzu kommt die verborgene Macht der Geheimdienste. Diese Konstellation hat dem Regime eine gewisse Flexibilität verschafft und ihm erlaubt, die verschiedenen Sektoren der Bürokratie einzubinden. Die Partei hatte zwar das Monopol auf die politische Macht, aber in dem riesigen Land kann die Umsetzung von Vorgaben sehr unterschiedlich ausfallen, je nach den regionalen oder lokalen Kräfteverhältnissen in der Partei. Dank solcher Risse und aufgrund von Differenzen in den Führungsorganen kann sozialer und demokratischer Protest immer wieder Spielräume finden.
Die »rote Blutlinie«
Xi Jinping tut nun alles, um eine persönliche Diktatur zu errichten, und versucht, die alleinige Kontrolle über die Partei zu übernehmen - die Partei wiederum übernimmt die alleinige Kontrolle über die Gesellschaft (auf Kosten der Regierung, der Verwaltung und der Armee). Wie aber kann eine solche zentralisierte Kontrolle in einem gigantischen, sich rasant wandelnden Land und einer Partei mit rund 90 Millionen Mitgliedern auf unbestimmte Zeit ausgeübt werden?
Xi Jinping und seine Anhänger versuchen, die Partei zur Kontrollinstanz auch in den entlegensten Dörfern zu machen. Hierfür wollen sie den ungeteilten Machtanspruch einer Fraktion und einer Generation durchsetzen. Das Machtzentrum der Partei ist der Ständige Ausschuss des Zentralkomitees mit sieben Mitgliedern (das Politbüro hat 25, das ZK 207 ständige Mitglieder). Diese sieben sind alle Männer, die in den 1950er Jahren geboren wurden. Sie sind zwischen 60 und 67 Jahre alt und gehören zur fünften Kadergeneration. Anders als üblich, wurde kein Vertreter der nächsten Generation aufgenommen. Dies ist umso bemerkenswerter, als nur drei Mitglieder des Ausschusses beim nächsten Parteitag 2022 erneut berufen werden können, wenn geltendes Recht eingehalten wird. Die Frage, wie es nach 2022 weitergeht, ist also völlig offen, was Xi Jinping und seinen Anhängern gut in den Kram passt.
Um diese Machtkonzentration zu legitimieren, schuf Xi eine regelrechte Mystik. Er führte eine neue »Feudalität« ein, die »rote Blutlinie«: Die Macht stehe legitimerweise nur den Kindern hoher historischer Führer, den »roten Prinzen«, zu, wodurch Kader einfacher Herkunft verdrängt werden. Seit dreißig Jahren haben die Mitglieder dieser Generation immense politische und wirtschaftliche Macht angesammelt. Um ihre Position zu festigen, nutzen sie, jenseits politischer Differenzen, den Bezug zu ihrer Linie.
Xi tut dies geradezu hemmungslos. Die Presse verweist auf seine »angeborenen roten Gene« und begann schon drei Monate vor dem Kongress, ihn mit dem neuartigen Titel »Kern des Parteizentrums« zu bezeichnen. Der Parteitag hob ihn auf eine Stufe mit Mao und Deng Xiapong und nahm das »Xi-Jinping-Denken« in die Parteistatuten auf - eine Ehre, die Deng Xiaoping erst nach seinem Tod zuteil wurde. All dies verleiht Xi eine ideologische Stellung, wie es sie seit den 1980er Jahren nicht mehr gegeben hat. Xi Jinping muss sich sicherlich noch immer mit mächtigen Fraktionen in der Partei auseinandersetzen, aber er hat seine Legitimität entscheidend gefestigt.
Rückkehr zur maoistischen Vergangenheit?
Der Bruch mit dem früheren politischen Regime, den Deng Xiaoping in den 1980er Jahren vollzogen hatte, ist nun zurückgenommen. Es gibt jedoch keine Rückkehr zur maoistischen Vergangenheit, trotz mancher Andeutungen: Präsidentschaft auf Lebenszeit, ein Personenkult, der bisweilen wahnhafte Züge annimmt. ... Nicht nur die sozialen Grundlagen Chinas, das zu einer kapitalistischen Macht geworden ist, haben sich qualitativ verändert.
Xi Jinping wirft sich Maos Mantel über, spielt aber vor allem mit dem Nationalismus der Großmacht und dem Motiv des »chinesischen Erwachens«. Er beschwört Chinas Größe, seine Zentralität in der Welt. Um Widerspruch zu vermeiden, setzt Xi einerseits auf Wirtschaftswachstum, andererseits auf ein systematisiertes und verstärktes System sozialer Kontrolle, auf Säuberungen und präventive Repression.
Die Repression wirkt auf dem chinesischen Festland auf unterschiedliche Weise. Bei sozialen Bewegungen (in einem Unternehmen, einem Ort) sind ihre Führer_innen oft die einzigen, die verurteilt werden. Andere Beteiligte können durchaus auf die Erfüllung eines Teils ihrer Forderungen hoffen. Das Regime fördert auch eine bestimmte Form des Engagements, wobei die lokalen Behörden Menschen mit »gutem Willen« an Organisationen binden, die sie kontrollieren. Diese sogenannten »sozialen Organisationen« erbringen eine Reihe von Dienstleistungen - was zu Konflikten führen kann, wenn die »Gutwilligen« zum Beispiel den Kampf gegen Umweltverschmutzung zu ernst nehmen. Der erstaunliche Erfolg von Fundraisingkampagnen für wohltätige Zwecke (etwa dafür, Kindern den Schulbesuch zu ermöglichen) zeigt die Sensibilität der Öffentlichkeit für diese Themen - und ihre Wut, wenn sich bestätigt, dass die Fundraising-Bemühungen falsch gehandhabt oder umgeleitet wurden.
Die Regierung der Zivilgesellschaft
In den letzten Jahren hat das Regime einen raschen Ausbau sozialer Dienstleistungen in verschiedenen Bereichen gefördert: extreme Armut, Gewalt gegen Frauen und Kinder, schwindende Solidarität zwischen den Generationen aufgrund des Konsumverhaltens und der Folgen der (aufgegebenen) Ein-Kind-Politik. Während ein Ausbau der staatlichen Dienste und die Professionalisierung der Sozialarbeiter_innen (hauptsächlich Frauen) zu beobachten ist, wird der größte Teil dieser Dienste über NGO-Aufträge abgewickelt. Traditionelle, oft als ineffizient bekannte »Massenorganisationen« oder Frauen- und Kinderschutzkomitees verlieren ihre zentrale Rolle in der sozialen Kontrolle und Konfliktvermittlung.
Die NGOs, die ihren Platz einnehmen, stehen unter widersprüchlichen Spannungen - Ausbau des Staates und Ausweitung der sozialen Kontrolle auf der einen, genehmigte und anerkannte autonome Tätigkeit auf der anderen Seite. Seit Anfang 2017 sind alle Finanzhilfen aus dem Ausland an chinesische Verbände verboten. Die Regierung will die Bildung einer autonomen »Zivilgesellschaft« verhindern, indem sie diese kooptiert oder überwacht. Nur ein Verein (nicht zwei) kann an einem bestimmten Ort für eine bestimmte Tätigkeit offiziell anerkannt werden, die anderen stehen mit einem Bein in der Illegalität. Netzwerke von Rechtsanwält_innen, die Menschenrechte verteidigen oder Beschäftigte über ihre Rechte aufklären, existieren noch, werden aber immer wieder verfolgt. Eine rote Linie ist für das Regime das Entstehen dauerhafter autonomer Organisationen und unabhängiger politischer Aktivitäten.
Xi Jingpings Ambitionen wecken Angst, aber auch viel Spott im Web in China. Die Zahl der Anfragen bei der Suchmaschine Baidu, die das Wort »yimin« (emigrieren) enthielten, stieg nach den Verfasungsänderungen explosionsartig an, und die Ergebnisse »lösten ein schönes Durcheinander aus«, wie der Le-Monde-Korrespondent Brice Pedroletti schreibt: »Baidu hörte auf, die Suchergebnisse zu listen. Auf Weibo, dem chinesischen Twitter, war das Wort teilweise zensiert - wie auch etwa hundert weitere Begriffe, die sich auf die imperialen Herrschaftsambitionen des 64-jährigen Generalsekretärs Xi beziehen lassen.« Es handelte sich um Worte wie »Xi Zedong« (eine Referenz auf Mao Zedong) oder »Thronbesteigung«. Xi wurde sogar mit dem Bären Winnie the Pooh verglichen, der sich in einer Geschichte für einen Kaiser hält - bis das soziale Netzwerk schließlich auch jeden Hinweis auf diese Zeichentrickfigur zensierte.
Repressive Flucht nach vorn
China ist kein Monolith, aber es ist ein äußerst repressiver Staat. Die Sicherheitsdienste überwachen alles. Xi Jinpings Macht ist vorerst nicht bedroht, aber die Reaktionen auf die Maßlosigkeit seiner Ambitionen zeigen, dass er keine breite Unterstützung in der Bevölkerung genießt. Präventive Repression wird nicht ausreichen, um das Regime in Zukunft vor großen kulturellen, sozialen und wirtschaftlichen Krisen zu schützen.
Xis repressive Flucht nach vorn könnte sogar zu einem eigenen Widerspruch werden, kann sie die Führung der Volksrepublik doch nur unflexibel machen. Xis Fraktion hat ihre Vorherrschaft gefestigt, indem sie alle potenziellen Pole politischer und sozialer Autonomie angegriffen oder zum Schweigen gebracht hat. Wenn sie die Zügel lockert, öffnet sie die Büchse der Pandora. Sie wird zudem mit Krisenherden konfrontiert sein, die eine flexible Steuerung im wirtschaftlichen Bereich (Schuldenkrise, Überproduktion) erfordern - und damit auch im Sozialen: Die Kontrolle durch die Partei ist für die Bevölkerung nur dann erträglich, wenn sie Stabilität und Wachstum des Lebensstandards garantiert. Das Gleiche gilt international, insbesondere im Nordpazifik, wo die USA in der Koreakrise ihre Hegemonie festigen. Ist es zu starr, wird das von Xi Jinping und seinen Anhängern errichtete System selbst zum Krisenfaktor.
Pierre Rousset schreibt für die Website Europe Solidaire Sans Frontières. Der Text ist eine redaktionell bearbeitete Version des Artikels »Xi Jinping s'accorde une présidence à vie, sans convaincre« vom 11. März 2018. www.europe-solidaire.org.
Übersetzung: Jan Ole Arps