Verhandeln ohne Gewerkschaften
Stau auf der Seidenstraße Eine Untersuchung über Fabrikalltag und Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken
Von Zhang Lu
Als ich Mitte Juni 2004 bei einem staatlichen LKW-Hersteller in China meine Untersuchung begann, erzählten mir Arbeiter_innen, dass es in der Fabrik eine Woche zuvor zu einem wilden Streik gekommen war. Mehr als 300 befristet Beschäftigte in der Montage hatten sich aus Protest gegen die verspätete Auszahlung der Monatslöhne geweigert, die Nachtschicht anzutreten, und waren in ihren Wohnheimen geblieben. Die Arbeiter_innen berichteten amusiert, wie die scheinbar endlos laufende Montagelinie auf einmal stillgestanden hatte und Manager auf der Suche nach Arbeitskräften herumgerannt waren. Die gesamte Montageabteilung war stillgelegt. Mit Unterstutzung der direkt beschäftigten (regulären) Arbeiter_innen konnte die Produktion 15 Stunden lang blockiert werden. Erst als die Streikenden ihren verspäteten Lohn erhielten, waren sie bereit, wieder an die Arbeit zu gehen.
Während meiner Untersuchung in einer anderen Automobilfabrik, einem chinesisch-amerikanischen Joint Venture, kam es im Juni 2008 zu einem wilden Sitzstreik. Etwa 400 reguläre Montagearbeiter_innen aus der Tagesschicht erschienen zwar wie gewohnt an ihren Arbeitsplätzen. An der Linie stehend weigerten sie sich jedoch, die Arbeit aufzunehmen. Als die Linie um acht Uhr fruh anlief, schlossen sich Arbeiter_innen aus dem Presswerk, dem Karosseriebau und der Lackiererei dem Streik an und brachten so das ganze Werk zum Stillstand. Auf Flugblättern, die rasch in der ganzen Fabrik verteilt wurden, forderten die ArbeiterInnen 500 Yuan mehr Lohn (im Jahr 2008 knapp 50 Euro), eine etwa 25-prozentige Erhöhung. Die besagte Fabrik produzierte mehrere der meistverkauften Kleinwagenmodelle, und der Juni gehörte zu den arbeitsreichsten Monaten. Eine Produktionsunterbrechung war das Letzte, was die Unternehmensleitung gebrauchen konnte. Zehn Stunden nach Beginn des Ausstands erklärte sie sich bereit, den Lohn um 300 Yuan (etwa 15 Prozent) zu erhöhen, wenn die ArbeiterInnen sofort wieder an die Arbeit gingen. Diese beschlossen, ohne in den Verhandlungen mit dem Management von der offiziellen Gewerkschaft unterstutzt worden zu sein, das 300-Yuan-Angebot anzunehmen, und die Produktion wurde wieder aufgenommen.
Dies sind nur zwei von vielen Beispielen fur Proteste von Automobilarbeiter_innen, zu denen es während meiner 20-monatigen Untersuchung in sieben großen Montagewerken in China zwischen 2004 und 2011 kam. Ich konnte verschiedene versteckte und offene Formen von Arbeiterwiderstand dokumentieren, darunter wilde Streiks, Sabotage, Bummeln, Diebstahl, Leistungszuruckhaltung, Klagen vor den Arbeitsgerichten und Akte kollektiven Ungehorsams.
Seit der Streikwelle der Automobilarbeiter_innen im Jahr 2010 wird den Arbeiterprotesten in China mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Wie die Streiks zeigten, sind chinesische Arbeiter_innen keine passiven Opfer von Repression und Ausbeutung, sondern in der Lage, durch abgestimmte, kollektive Aktionen höhere Löhne und bessere Arbeitsbedingungen durchzusetzen. Auch wenn Arbeiterproteste lokal begrenzt und unpolitisch waren, ihre Zunahme veranlasste die Zentralregierung, neue, landesweit geltende Arbeitsgesetze zu verabschieden. Um die Beziehungen zwischen Kapital und Arbeit zu festigen und fur soziale Stabilität zu sorgen, nahm die Regierung auch politische Veränderungen vor, durch die den Arbeiter_innen neue Rechte zugestanden und die Arbeitsbedingungen verbessert wurden.
Produktionsmacht in der Automobilproduktion
Automobilarbeiter_innen sind in der Vergangenheit besonders erfolgreich gewesen, wenn es darum ging, ausgehend von lokalen Kämpfen weitreichende Triumphe uber ihre unmittelbaren Arbeitgeber und auch uber den Staat zu erringen. Die Soziologin Beverly Silver zeigte, dass Automobilarbeiter_innen aufgrund ihrer strategischen Position innerhalb des Produktionsprozesses uber ausgeprägte Produktionsmacht verfugen. (1) Genauer gesagt haben die Größe, die Kapitalintensität und die komplexe Arbeitsteilung der Automobilindustrie zur Folge, dass örtlich begrenzte Ausstände einer kleinen Gruppe von Arbeiter_innen die Produktion eines ganzen Werks oder sogar eines ganzen Konzerns zum Erliegen bringen können.
Die Form der Produktion an den Montagelinien fuhrt in der Automobilindustrie immer wieder zu starkem Unmut unter den Arbeiter_innen - etwa aufgrund der Monotonie der Arbeit, des hohen Produktionstempos und willkurlicher Machtausubung der Betriebsleitung -, daran ändern auch die vergleichsweise hohen Löhne der Automobilarbeiter_innen nichts. Dieser Unmut in Verbindung mit ausgeprägter Produktionsmacht fuhrte im 20. Jahrhundert zu Wellen von Automobilarbeiterprotesten in mehreren Ländern, von den USA in den 1930er Jahren uber Westeuropa in den 1960er Jahren bis hin zu Brasilien, Sudafrika und Sudkorea in den 1970er und 1980er Jahren. Diese erreichten erhebliche Zugeständnisse der Arbeitgeber, spielten jedoch auch eine wichtige Rolle in breiteren Arbeiterbewegungen, welche die Verhältnisse in Fabrik und Gesellschaft umfassend ändern konnten. Deutliche Fortschritte fur die Arbeiter_innen waren dabei oft Ergebnis einer Welle von Basismobilisierungen und entsprechenden Arbeiterkämpfen ohne vorherige, formelle Organisierung in Parteien oder Gewerkschaften. Die formelle Organisierung ist ein Ergebnis der Kämpfe, nicht umgekehrt.
Chinas Autoindustrie
Silver erkannte ein wiederkehrendes historisches Muster. Nach der geografischen Verlagerung der Automobilproduktion entstanden und erstarkten an allen gewählten neuen Standorten rascher Expansion neue Arbeiterklassen und -bewegungen. Da China sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts als neues Epizentrum der globalen Automobilproduktion herausschälte, wagte Silver die Prognose, dass es auch zum Epizentrum einer neuen Welle von Automobilarbeiterprotesten werden wurde.
Zu den wichtigen Aspekten, die China von anderen Ländern unterscheidet, zählen die späte, unter staatlicher Fuhrung vorangetriebene Industrialisierung und das schwerwiegende Vermächtnis von Revolution und Staatssozialismus. Im Kontext einer raschen kapitalistischen Entwicklung und der damit einhergehenden Kommodifizierung der Arbeitskraft verschärfte dieses Vermächtnis den Gegensatz zwischen dem Streben nach Profitabilität und der Wahrung der Legitimität noch weiter.
Seit den 1990er Jahren entstand durch enorme Auslandsdirektinvestitionen sowie die Expansion und Konzentration der chinesischen Automobilproduktion eine neue Generation von Automobilarbeiter_innen, die zunehmend uber Produktionsmacht verfugte. (2) China trat jedoch erst in den globalen Wettbewerb um die Massenproduktion von Automobilen ein, als sich der »Produktzyklus« des Automobils bereits in einer späten Phase mit stärkerem Wettbewerb und viel geringeren Profitmargen befand. Die staatlich gelenkte Umstrukturierung der Industrie und der intensive Wettbewerb seit den späten 1990er Jahren veranlassten die Automobilhersteller in China, sich stärker um Profitabilität zu bemuhen und eher auf ein »schlankes und gemeines« (lean and mean) Arbeitsregime zu setzen. Trotz ihrer relativ hohen Löhne äußerte infolgedessen die neue Generation von Automobilarbeiter_innen vernehmbar ihren Unmut, unter anderem wegen höherer Arbeitsintensität, geringerer Arbeitsplatzsicherheit, stagnierenden Löhnen, willkurlicher Machtausubung der Betriebsleitungen und einem Mangel an Aufstiegsmöglichkeiten fur ProduktionsarbeiterInnen in der Fabrikhierarchie.
Andererseits intervenierte die Zentralregierung stark in der Automobilindustrie, die sie zu einer industriellen Säule mit strategischer Bedeutung erklärte. Unter anderem kontrollierte sie die Arbeitsbeziehungen in großen Staatsunternehmen und Joint Ventures uber ein Beschäftigungssystem von Parteikadern und betrieblichem Fuhrungspersonal. Die Betriebsleitungen waren angehalten, die Profitabilität zu steigern und gleichzeitig die Legitimität gegenuber den Arbeiter_innen zu erhalten - also friedliche und kooperative Arbeitsbeziehungen zu garantieren.
Zweigeteilte Belegschaft
Aufgrund dieser gegensätzlichen Anforderungen setzten fuhrende Automobilhersteller in China auf eine Zweiteilung der Belegschaft, die eine Grenze zieht zwischen direkt (regulär) Beschäftigten einerseits und LeiharbeiterInnen andererseits. Der Begriff der Zweiteilung der Belegschaft steht hier fur einen Mechanismus zur Kontrolle der Arbeiter_innen, bei dem Direktbeschäftigte und Leiharbeiter_innen zwar Seite an Seite am Fließband stehen und ähnliche oder sogar identische Aufgaben erledigen, aber unterschiedlich behandelt werden. Direktbeschäftigte genießen höhere Löhne, großzugigere Zusatzleistungen und relativ sichere Arbeitsplätze, weil sich die Unternehmensleitungen so die Kooperation eines »Kern«-Segments der Belegschaft sichern wollen. Umgekehrt sind die Löhne der Leiharbeiter_innen niedriger, ihre Zusatzleistungen geringer und ihre Arbeitsplätze unsicherer, weil die Unternehmensleitungen so Kosten senken und die Profitabilität erhöhen wollen.
Zweigeteilte Arbeitsregimes bzw. zweigeteilte Belegschaften bestimmten seit den 2000er Jahren die Arbeitsbeziehungen in vielen großen, kapitalintensiven Unternehmen. Das hatte jedoch unbeabsichtigte Folgen. Einerseits wurden die Direktbeschäftigten von den Leiharbeiter_innen abgesondert und konnten erst einmal trotz erheblicher Missstände mehr oder weniger ruhig gestellt werden. Andererseits entstand eine neue Generation von Leiharbeiter_innen, die zunehmend aus den Städten kommen und besser ausgebildet sind. Diese Generation radikalisierte sich nun und protestierte gegen die ungleiche Behandlung bei der Arbeit. Eine meiner Thesen ist, dass die von den Unternehmensleitungen betriebene Spaltung innerhalb der Belegschaften sofort und dauerhaft Verärgerung hervorrief und zur Auflehnung der Leiharbeiter_innen fuhrte. Die entscheidende Frage ist, ob sich Direktbeschäftigte und Leiharbeiter_innen in Zukunft zusammenschließen können oder sich gegenseitig bekämpfen werden.
Der Widerstand der Automobilarbeiter_innen steht zudem im Kontext wachsender Arbeiterunruhe in China, die auf die seit Mitte der 1990er Jahre verschärfte Kommodifizierung der Arbeitskraft zuruckgeht. Die Hauptsorge der Zentralregierung in Beijing um gesellschaftliche Stabilität und politische Legitimität führte im Jahr 2007 zur Verabschiedung von drei neuen Arbeitsgesetzen. Diese neuen Arbeitsgesetze erweiterten den juristischen Schutz der Arbeiter_innen und gaben ihnen mehr Rechte, um so die Arbeitsbeziehungen zu stabilisieren und unzufriedene Arbeiter_innen zu befrieden.
Das Ende des sozialistischen Sozialvertrags
Auch mehr als drei Jahrzehnte seit dem Bruch mit dem maoistischen Staatssozialismus ist China weiterhin ein leninistischer Parteienstaat unter der Fuhrung der Kommunistischen Partei. Unter Mao Zedong wurde die chinesische Arbeiterklasse zum »Herren des Landes« erklärt. Der Parteistaat, die Arbeiter_innen und ihre Arbeitseinheiten (danwei) hätten dieselben Interessen, hieß es. Ein Verhältnis von Arbeiter_innen und Kapital existierte überhaupt nicht, und die industriellen Beziehungen wurden im Wesentlichen vom paternalistischen Parteistaat bestimmt. Die Abhängigkeit der Arbeiter_innen vom Staat, der über die Arbeitseinheiten Beschäftigung, Löhne und Sozialleistungen bereitstellte, sicherte ihre politische Ruhigstellung und die Legitimität des Regimes im Staatssozialismus. (3)
Das stillschweigende politische und wirtschaftliche Übereinkommen zwischen einem kommunistischen Regime und seiner arbeitenden Bevölkerung ist als »sozialistischer Sozialvertrag« bekannt. Mit dem Übergang Chinas vom Staatssozialismus zur Marktwirtschaft wurde der sozialistische Sozialvertrag mit garantierter Beschäftigung durch ein Arbeitsvertragssystem ersetzt, so dass Arbeitskraft zu einer Ware wurde, die auf einem offenen Arbeitsmarkt uber Arbeitsverträge gekauft und verkauft werden konnte.
Oft wird gesagt, in der postmaoistischen Periode ruhe die Legitimität der Kommunistischen Partei auf zwei Säulen: auf anhaltendem Wirtschaftswachstum und der Garantie sozialer Stabilität. Zweifellos tat die Zentralregierung in Beijing in den letzten 30 Jahren alles, um das rasche Wirtschaftswachstum aufrechtzuerhalten, und unterstutzte Interessengruppen (Unternehmensleitungen und Kapitalist_innen), die zur Erreichung dieses Ziels beitragen konnten. Soziale Stabilität zu gewährleisten, war fur die politische Legitimität der Kommunistischen Partei jedoch von zentraler Bedeutung. Wirtschaftswachstum war nicht das eigentliche Ziel, sondern ein Instrument, mit dem die Legitimität des Regimes gestärkt und sein Machtmonopol erhalten werden sollte. Anders ausgedruckt, der wichtigste Anstoß fur die Wirtschaftsreformen und die Durchsetzung der Marktwirtschaft in den 1990er Jahren kam von hochrangigen Funktionären der Kommunistischen Partei, weil diese von der taktischen Notwendigkeit von Marktreformen uberzeugt waren. Nur so konnten ihrer Ansicht nach die staatliche Leitung der Wirtschaft effektiver gestaltet und die staatliche Macht ausgeweitet werden. Es ging also nicht um die Einfuhrung einer liberal-kapitalistischen Wirtschaftsordnung als solcher.
Das Vermächtnis des Staatssozialismus
In diesem Zusammenhang ist auch das Vermächtnis von Revolution und Staatssozialismus wichtig, das in China weiterhin die Arbeitsbeziehungen, das Verhältnis von Staat und Gesellschaft, die öffentliche Meinung und die Proteste der Bevölkerung entscheidend prägt. Auch wenn die chinesischen Arbeiter_innen ihr mit einem ausgeprägten Zynismus begegnen, sie profitieren von der offiziellen Ideologie der Kommunistischen Partei und deren öffentlicher Zusage, »legitime Rechte und Interessen von Arbeiter_innen zu wahren«, bietet sie ihnen doch ein fertiges Vokabular und legitime Anspruche, die der Staat nicht einfach zuruckweisen kann.
Ihr anhaltendes Bekenntnis zur revolutionären Tradition der »Massenlinie« erlaubte es der Kommunistischen Partei zudem, stärker als die meisten anderen autoritären Regime auf Forderungen der Bevölkerung einzugehen. Die Massenlinie ist eine Politik-, Organisations- und Fuhrungsform der Kommunistischen Partei, die »sowohl die Avantgarde-Rolle der Partei einschließt als auch eine starke, partizipative Rolle fur die Bevölkerung vorsieht«, wie Kenneth Lieberthal in seinem Buch »Governing China« schreibt.
Im Unterschied zur Partei der russischen Bolschewiki mit ihren aufruhrerischen Momenten mussten die chinesischen Kommunisten fast drei Jahrzehnte lang um die Unterstutzung der Bauernschaft kämpfen, bis sie 1949 die Macht ergriffen. Im Zuge dieses langwierigen Kampfes entwickelten die Kommunisten eine Philosophie, die es ihnen erlaubte, innerhalb der Grenzen einer einzelnen Partei auf die Bedurfnisse der Bevölkerung zu reagieren.
Das offizielle Bekenntnis zu Massenlinie und Massenmobilisierungen in der gesamten Geschichte der Volksrepublik China verschaffte den eingebundenen Massen zugleich, so Samir Amin, »ein Selbstbewusstsein und einen Kampfgeist, fur die es anderswo kaum Parallelen gibt«. Die lange Geschichte von Massenaufständen in China und der revolutionäre Weg zur Machtubernahme der Kommunistischen Partei lehrten die Parteieliten, dass verbreiteter Unmut unter Arbeiter_innen, Bauern und Bäuerinnen das Regime ernsthaft gefährden kann und Repression allein keine Lösung bringt. Die Verabschiedung neuer Gesetze, die den Interessen der Arbeiter_innen entgegenkommen, und die Einleitung sozialpolitischer Reformen durch die Zentralregierung seit Mitte der 2000er Jahre waren vor allem Ergebnis dieses Drucks von unten. Dabei spielte auch die Neuausrichtung der Entwicklungsstrategie durch die Zentralregierung in Beijing eine Rolle, welche die Wirtschaft wieder ausgleichen und den Binnenkonsum fördern wollte.
Legitimität als Druckmittel
Ausgehend von den obigen Erörterungen erkenne ich im Einsatz von Legitimität als Druckmittel eine spezifische Machtform der Arbeiter_innen im heutigen China. Der Einsatz von Legitimität als Druckmittel ist im Grunde eine Form ideologischer Macht. Er setzt auf die »glaubhafte Drohung« mit der »Störungsmacht« der Arbeiter_innen - auf den Straßen oder in Form von Streiks - gegenuber der Kommunistischen Partei, die vor allem um die Aufrechterhaltung sozialer Stabilität und ihre politische Legitimität bangt. Der Einsatz von Legitimität als Druckmittel zielt auf die offizielle Ideologie des Parteistaats und seine öffentliche Anerkennung der legitimen Rechte und Interessen der Arbeiter_innen, wendet die herrschende Ideologie jedoch in eine gegenhegemoniale Waffe zur Durchsetzung von Arbeiterforderungen.
Da es keine herkömmlichen Tarifverhandlungen oder unabhängigen Gewerkschaften gibt, welche die ArbeiterInnen wirksam vertreten und Verhandlungen am Arbeitsplatz fuhren könnten, setzten chinesische Arbeiter_innen ironischerweise häufig direkt auf wilde Streiks und Straßenproteste, um so eine Intervention der Regierung zu provozieren und die Probleme rasch zu beheben. Infolgedessen eskalierten betriebliche Konflikte zwischen ArbeiterInnen und Kapital leicht und wurden zu Konflikten um soziale Gerechtigkeit und um die Legitimität des Regimes aus Sicht der Arbeiter_innen. Tatsächlich »verhandeln« chinesische Arbeiter_innen »ohne Gewerkschaft«. Der Einsatz von Legitimität als Druckmittel ist im heutigen China fur die ArbeiterInnen eine bedeutende Quelle von Verhandlungsmacht.
Zhang Lu ist Professorin für Soziologie an der Temple University in Philadelphia. Der Text ist ein gekürzter Auszug aus dem Einleitungskapitel zu ihrem Buch »Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken«, herausgegeben und übersetzt von Ralf Ruckus. Veranstaltungen zum Buch gibt es am 9. Mai in Wien (19 Uhr Amerlinghaus), am 16 Mai in Dortmund (19 Uhr Taranta Babu) und am 17. Mai in Köln (19 Uhr Allerweltshaus).
Anmerkungen:
1) In ihrem Buch »Forces of Labor: Arbeiterbewegungen und Globalisierung seit 1870« (Assoziation A, 2005) unterscheidet Beverly Silver zwischen drei Formen der Arbeitermacht: Produktionsmacht, die »der strategischen Stellung einer bestimmten Arbeitergruppe innerhalb eines industriellen Schlüsselsektors« entspringt; Marktmacht, die durch Knappheit auf dem Arbeitsmarkt entsteht; sowie Organisationsmacht, die aus der Selbstorganisierung der Arbeiter_innen in Gewerkschaften, politischen Parteien oder anderen Formen kollektiver Organisation resultiert.
2) Mit der Umstrukturierung des chinesischen Automobilsektors ab Mitte der 1990er Jahre veränderte sich die Zusammensetzung der dort Arbeitenden. Bis Mitte der 2000er Jahre verschob sich dadurch auch die soziale Zusammensetzung der Leiharbeiter_innen von den »alten Befristeten«, den Bauernarbeiter_innen, zu den neuen Leiharbeiter_innen (etwa 70 Prozent) und Praktikant_innen (etwa 30 Prozent). Die meisten Befristeten waren nun unter 25 Jahre alt, viele kamen nun aus der Stadt und hatten neun bis zwölf Jahre Schule oder Berufsausbildung hinter sich. Damit verschwamm die alte Trennlinie zwischen städtischen Direktbeschäftigten und ländlichen Leiharbeiter_innen. Insgesamt arbeiten in der chinesischen Automobilindustrie etwa drei Millionen Menschen.
3) Danwei (»Arbeitseinheiten«) sind die kleinsten sozialen Einheiten. Über sie wurden seit den 1950ern soziale Versorgungsleistungen organisiert, sie sollen aber auch die politische Disziplin kontrollieren. Eine danwei kann eine Fabrik sein oder auch eine Universität oder Fakultät.
Arbeitskämpfe in Chinas Autofabriken
Die deutsche Übersetzung von Zhang Lus Untersuchung über Alltag und Widerstand im chinesischen Automobilsektor ist im März im Mandelbaum Verlag erschienen. Die Arbeit beruht auf einer 20-monatigen ethnografischen Forschung, die Zhang Lu zwischen 2004 und 2011 in sieben großen Automobilfabriken - Staatsunternehmen und Joint Ventures mit deutschen und US-Konzernen - in sechs chinesischen Städten durchführte. Zugang zu den Fabriken zu erhalten, ist nicht einfach: »Meine Untersuchung begann im Juni 2004 bei einem staatseigenen LKW-Hersteller in meinem Heimatort. Ein enger Verwandter von mir war mit einer leitenden Führungskraft des Werkes gut befreundet und half mir, in die Fabrik zu gelangen.« Zhang Lu verbrachte in jedem Werk mindestens zwei Monate, untersuchte die Organisation der Produktion und versuchte, Kontakt zu den Beschäftigten herzustellen. Insgesamt führte sie 120 Interviews mit regulär beschäftigten Arbeiter_innen, 80 mit Leiharbeiter_innen und Praktikant_innen, 48 mit Manager_innen und 30 mit Partei- und Gewerkschaftsfunktionär_innen.
Das Buch hat 436 Seiten und kostet 20 Euro.