Tod einer Hoffnungsträgerin
International Mit der ermordeten Politikerin Marielle Franco stirbt auch ein Stück Zukunft für die Ausgeschlossenen Brasiliens
Von Niklas Franzen und Caren Miesenberger
Eine grüne Tür, mit bunten Stickern beklebt. Auf ihnen steht »Wir sind gegen den institutionellen Sexismus«, »Nein heißt Nein« und »Schluss mit der Gewalt«. Die Tür befindet sich in einem grauen Kolonialpalast im Zentrum von Rio de Janeiro und ist der Zugang zum Büro von Marielle Franco - und ein bunter Fleck in der Stadtratskammer, ein von innen tristes und von außen prunkvolles Bürogebäude. Zum Interview in der Stadtratskammer im Juni 2017 erscheint die Politikerin der linken Partei für Sozialismus und Freiheit (PSOL) verspätet, sie hetzt von Termin zu Termin. Als Franco eintrifft, strahlt die große, Schwarze Frau mit dem knallpinken Lippenstift mit ihrem Team um die Wette: Weiße, Heteros und cis-Personen, die den Großteil der Menschen in der Stadtratskammer ausmachen, sind in Francos Team in der Minderheit.
Kein Jahr später, am 8. März, dem internationalen Frauen*kampftag, geht die 38-Jährige für Frauenrechte auf die Straße. Bei der Demonstration mit 5.000 Teilnehmenden in ihrer Heimatstadt spricht sie im strömenden Regen darüber, wie bedeutend dieser Tag für alle Frauen ist. Wenige Tage später ist sie tot.
Es war der 14. März. Marielle Franco befand sich gerade auf dem Rückweg von einer Veranstaltung zum Empowerment Schwarzer Frauen, als plötzlich Unbekannte auf ihr Auto feuerten. Mindestens vier Schüsse trafen die Politikerin im Kopf. Franco starb noch vor Ort. Auch ihr Fahrer, Anderson Gomes, wurde im Kugelhagel getötet, eine Mitarbeiterin leicht verletzt. Die Mordkommission spricht von einer Hinrichtung.
Wer war Marielle Franco, und warum wurde sie hingerichtet? Ihre politische Karriere war so kurz wie sinnbildlich. Der bekannte linke Menschenrechtler und PSOL-Politiker Marcelo Freixo hatte sie noch als Studentin der öffentlichen Verwaltung an einer Eliteuniversität unter seine Fittiche genommen und dann als Parlamentsmitarbeiterin angestellt. Die PSOL entstand 2004 als Linksabspaltung der Arbeiterpartei PT. Die in studentischen und intellektuellen Kreisen beliebte Oppositionspartei kämpft nicht nur gegen den Neoliberalismus, sondern auch für Menschen- und LGBT-Rechte.
Kämpferin gegen Sexismus und Homophobie
2016 ließ sich Franco das erste Mal zur Wahl als Stadträtin der Kammer Rio de Janeiros aufstellen - vergleichbar mit Senator_innen in deutschen Stadtstaaten - und erhielt aus dem Stand 46.502 Stimmen. Gerechnet hatte sie mit lediglich 6.000 bis 6.500 Stimmen. Dass Franco in das Stadtparlament gewählt wurde, spiegelt auch das wachsende Aufbegehren historisch ausgeschlossener Gruppen in der parlamentarischen brasilianischen Politik wider: Bis heute sind in ganz Brasilien nur elf Prozent aller Politiker_innen Frauen, Schwarze Frauen sind in weniger als einem Prozent der Stadtratskammern vertreten. Francos Wahl hatte daher Symbolcharakter und mit zahlreichen parlamentarischen Mitteln setzte sie unmittelbar nach der Wahl ihre Versprechen um. Franco initiierte unter anderem Gesetzesentwürfe, die den Zugang zu Schwangerschaftsabbrüchen und die Vereinbarkeit von Lohn- und Reproduktionsarbeit verbessern sollten.
Dass ihr das Thema Schwangerschaftsabbrüche wichtig war, merkte man auch beim Interview im Sommer letzten Jahres. »Der brasilianische Staat ist moralistisch und konservativ eingestellt. Das ethische Gewicht des Privaten geht in das Politische über, weshalb der Staat versucht, das Problem der Abtreibungen individuell und privat anstatt kollektiv zu lösen«, sagte sie. In Brasilien sind Abtreibungen illegal. Straffrei sind sie, wenn die Schwangerschaft Resultat einer Vergewaltigung ist, das Leben der schwangeren Person in Gefahr ist oder Anenzephalie beim Fötus festgestellt wurde - eine Krankheit, die die Lebenserwartung nach der Geburt auf wenige Stunden verringert.
Der von Franco eingebrachte Gesetzesentwurf sollte den Zugang zu legalen Schwangerschaftsabbrüchen im Bundesstaat Rio de Janeiro garantieren, sie unterstützte aber auch die Forderung nach der vollständigen Legalisierung von Schwangerschaftsabbrüchen in Brasilien. Sie berichtete, dass das Thema im Wahlkampf nicht gern gesehen wurde. Dennoch gelang es ihr, mit klarer Haltung dazu in die Kammer einzuziehen. »Dieser Gesetzesentwurf ist wichtig, weil Frauen sterben, insbesondere Schwarze Frauen. Es ist ein fundamentales Thema, da es um den grundlegenden Zugang zu Gesundheit und die Autonomie des weiblichen Körpers geht«, erläuterte Franco. Deshalb sei Gesundheits- zusammen mit der Sicherheitspolitik und solidarischer Ökonomie eine Politik für Frauen. »Denn sie sind für das Leben der Frauen wichtig, während sie für Männer häufig nur ein Gesprächsthema bleiben.« Franco selbst war lesbisch, mit einer Frau verheiratet und kämpfte für die Rechte von queeren Menschen.
Franco war auch eine scharfe Kritikerin der Polizeigewalt und des institutionellen Rassismus in ihrer Heimatstadt. Einen Tag vor ihrer Ermordung postete sie auf Facebook: »Wie viele von uns müssen noch sterben, bevor dieser Krieg endet?« Der Anlass: Wenige Tage vorher hatte sie in sozialen Medien das Vorgehen des 41. Bataillons der Militärpolizei in der Favela Acari kritisiert und die berüchtigte Polizeieinheit ein »Bataillon des Todes« genannt. Franco wusste, wovon sie sprach. Sie selbst stammte aus einem Armenviertel, dem Favelakomplex Maré im Norden von Rio de Janeiro. Der Stadtteil besteht aus 16 Favelas, in dem fast 140.000 Menschen leben. Maré gilt als eines der gewalttätigsten Gebiete Rios. Drogengangs und Polizei liefern sich hier regelmäßig schwere Gefechte, bei denen viele unschuldige Bewohner_innen sterben. Anwohner_innen berichteten immer wieder von Menschenrechtsverletzungen vonseiten der Polizei.
Aufrüstung und Kriegslogik haben in den letzten Jahrzehnten in Brasilien einen Gewaltkreislauf in Gang gesetzt. Die Politik der Masseninhaftierung in chronisch überbelegten Gefängnissen hat den Drogenbanden Tausende neue Mitglieder Brasilien verschafft. In den letzten Monaten ist die Gewalt eskaliert. Über 20 Schießereien werden derzeit durchschnittlich pro Tag gemeldet. Über Apps warnen sich Bewohner_innen vor Schusswechseln. Das 2009 eingerichtete Modell einer bürgernahen »Befriedungspolizei« (UPP) gilt als gescheitert. Der Drogenhandel ist verbreitet wie nie. Neben den Drogengangs kontrollieren sogenannte Milizen viele arme Stadtteile. Diese kriminellen, paramilitärisch agierenden Gruppen setzen sich aus ehemaligen Polizisten, Soldaten, Feuerwehrleuten und Gefängniswärtern zusammen. Auch die Polizei agiert häufig außerhalb des Gesetzes: Die Grenzen zwischen Ordnungskräften und organisiertem Verbrechen sind fließend. Nirgendwo in Brasilien tötet die Polizei so häufig wie in Rio de Janeiro. Die meisten Opfer sind jung, arm und Schwarz. Auch Marielle Franco sprach daher von einem »Genozid an der Schwarzen Bevölkerung«.
Eskalation der Gewalt
Als Reaktion auf das Chaos in Rio de Janeiro ordnete der rechtsgerichtete Präsident Michel Temer Mitte Februar per Dekret eine Militärintervention an, die der Kongress wenige Tage später abnickte. Zum ersten Mal seit der Verkündung der Verfassung von 1988 übernehmen damit Streitkräfte die Kontrolle in einer brasilianischen Stadt. Franco kritisierte die Militärintervention scharf und wurde zur Vorsitzenden einer Kommission ernannt, die die Militäraktionen in den Favelas überwachen sollte. Für viele Aktivist_innen steht fest, dass Franco einem Rachemord der Polizei, des Militärs oder der Milizen zum Opfer fiel. Eine ballistische Untersuchung ergab: Die verwendete Munition kam aus dem Bestand der Bundespolizei. Kugeln mit der gleichen Seriennummer wurden auch beim Massaker von Osasco benutzt. Im August 2015 hatten Polizisten im Zuge eines Racheakts 21 Menschen im Randgebiet von São Paulo getötet.
Was bei Francos Tod auffällt: Auch wenn sie Vorsitzende der parlamentarischen Kommission war und ihren Unmut über die Sicherheitslage in den Favelas laut und deutlich artikulierte - bisher wurde nur sie zur Zielscheibe. Ihr Protegé Freixo und andere Politiker_innen der linken PSOL äußerten sich ebenso kritisch zu vergleichbaren Vorkommnissen. Aber es war sie, die queere, Schwarze Favelada, die dafür mit ihrem Leben bezahlte.
Und selbst noch nach ihrem Tod wurde Marielle Franco Opfer einer rechten Verleumdungskampagne. In sozialen Netzwerken wurde ihr Tod fälschlicherweise mit Verstrickungen in den Drogenhandel in Verbindung gebracht. Andere Falschmeldungen lauten, dass sie die Ex-Freundin eines bekannten Drogenbosses gewesen sei. Der tief greifende Rechtsruck, den Brasilien derzeit erlebt, wird eben auch im Internet ausgetragen.
Und abseits des World Wide Webs häufen sich die Hassverbrechen. Brasilien zählt mittlerweile zu den vier Ländern mit den meisten Morden an sozialen Aktivist_innen. Auch die politische Debatte wird zunehmend mit Gewalt geführt: Am 28. März wurde der Bus von Ex-Präsident Luiz »Inácio« Lula da Silva beschossen, verletzt wurde nur durch Glück niemand. Lula befand sich gerade auf einer Wahlkampftour im Süden von Brasilien. Bei den Präsidentschaftswahlen im Oktober 2018 führt Lula die Umfragen an. Doch ob er tatsächlich antreten kann, ist nach seiner Verurteilung wegen Korruption und seinem Haftantritt noch unklar. Sollte er nicht antreten, hat der faschistische Kandidat, Jair Bolsonaro, realistische Chancen auf einen Sieg.
Brasiliens Linke hat der Mord an Marielle Franco in eine Schockstarre versetzt. Für viele steht dieser Mord sinnbildlich für die strukturelle Gewalt an der armen, Schwarzen Bevölkerung. »Eine von uns wurde ermordet«, sagte Fernanda Machado, Aktivistin der Schwarzenbewegung Unegro aus Rio de Janeiro, gegenüber ak. »Marielle ist ein weiteres Opfer des Rassismus, des Sexismus und der Homophobie in Brasilien.« In ganz Brasilien gingen nach dem Mord Zehntausende auf die Straße. Auch außerhalb von Brasilien kam es zu Spontandemonstrationen. Bei vielen Konzerten, Veranstaltungen und sogar Partys wurde der Ermordeten gedacht. Das Konterfei von Franco und die Botschaft »Marielle ist bei uns« schmücken viele Wände, T-Shirts und Profilfotos in sozialen Medien. Ob daraus eine Massenbewegung entstehen kann, ist fraglich. Die brasilianische Linke ist verunsichert und kämpft an vielen verschiedenen Fronten. Dennoch: Die Proteste zeigen, dass der Widerstand gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie in Brasilien lebt - und dass das Erbe von Marielle Franco weitergetragen wird.
Niklas Franzen und Caren Miesenberger sind Journalist_innen und berichten als freie Korrespondent_innen aus und über Brasilien, zu sozialen Bewegungen, Feminismus und öffentlicher Sicherheit.