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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 638 / 15.5.2018

Der Traum von Ambazonien

International Separatismus und soziale Proteste in Kamerun

Von Gisela Ewe

Ambazonien - was wie eine untergegangene Stadt oder ein mythischer Ort klingt, ist der Name, den die Separatist_innen im anglophonen (englischsprachigen) Teil Kameruns ihrem Landesteil gegeben haben. »Ambazonien« liegt im Westen des Landes an der Grenze zu Nigeria und ist eine der fruchtbarsten Regionen des zentralafrikanischen Landes. Der Name leitet sich von »Ambas Bay« ab, wie die Briten während der Kolonialzeit die Mündung des Flusses Mungo in den Atlantik genannt hatten. 1887 wurde die Region in die deutsche Kolonie Kamerun eingegliedert und blieb bis 1916 unter deutscher Kolonialherrschaft.

Von der Hauptstadt Yaoundé kommend führt eine achtstündige Busfahrt hierher. Es sind eigentlich nur 300 Kilometer Fahrt, doch die Fernstraße N3 führt mitten durch Douala, ein verkehrstechnisches Nadelöhr. Douala, die größere und urbanere Stadt, liegt direkt am Atlantischen Ozean und ist das wirtschaftliche und industrielle Zentrum von Kamerun. Die zahlreichen Polizeikontrollen auf den Landstraßen verlangsamen die Fahrt ebenfalls und erschweren die Mobilität im Land. Douala, nach der ortsansässigen Bevölkerung benannt, war in der deutschen Kolonialzeit lange Zeit Hauptstadt der Kolonie, wovon noch heute zahlreiche Gebäude zeugen. Von hier ist es nicht mehr weit nach Buea, einer Universitätsstadt am Fuße des 4.000 Meter hohen Vulkans Mount Cameroon in der anglophonen Provinz Southwest. Die Menschen hier wirken gelassen; auch von der nächtlichen Ausgangssperre ist wenig zu spüren. Doch die Region steckt seit Oktober 2016 in einem immer weiter eskalierenden Konflikt mit der Zentralregierung in Yaoundé.

Anglophone - »Bürger zweiter Klasse«

2016 hatten Gewerkschaften der Lehrer_innen und Anwält_innen in den anglophonen Regionen Northwest und Southwest die Protestwelle angestoßen. Nachdem frankophone (französischsprachige) Lehrer_innen und Anwält_innen im englischsprachigen Landesteil trotz fehlender Sprach- und Strukturkenntnisse eingesetzt wurden, organisierten die Gewerkschaften Streiks und kritisierten diesen Schritt als weitere Marginalisierung der englischsprachigen Bevölkerung des Landes. »Wir Anglophone werden als Bürger zweiter Klasse behandelt«, beklagt eine junge Studentin. In dem Land, dessen Bevölkerung zu 80 Prozent im frankophonen und zu 20 Prozent im anglophonen Teil lebt, ist der Bilingualismus (die Zweisprachigkeit) in der Verfassung festgeschrieben. Doch staatliche Dokumente, Gesetzestexte und Veröffentlichungen werden nicht einmal auf Englisch übersetzt, »alle wichtigen Ministerien sind in frankophoner Hand« kritisiert ein Aktivist.

Die Aufteilung in frankophon und anglophon hat - wie viele Konflikte weltweit - ihren Ursprung in der Kolonialzeit: Als Deutschland seine Kolonien im Zuge des Ersten Weltkriegs verlor, wurde der ehemals deutsche Kolonialbesitz Kamerun unter Großbritannien und Frankreich aufgeteilt. 1960 wurde das französische Kamerun unabhängig, 1961 folgte das britische Mandatsgebiet, welches wiederum nach Volksabstimmungen aufgeteilt wurde: Der nördliche Teil ging an Nigeria, der südliche an Kamerun. Die Beziehungen zwischen Nigeria und den anglophonen Provinzen sind bis heute eng. Nachdem Kamerun zunächst föderal strukturiert war, wurde 1972 der Zentralismus nach französischem Vorbild eingeführt. Eine Namensänderung des Staates 1984, bei der der Zusatz »vereinigt« gestrichen wurde, schrieb die Ausgrenzung der Anglophonen auch symbolisch fest. Diese Maßnahmen führten zu einer fortschreitenden Marginalisierung der anglophonen Landesteile. Die Abschaffung des Föderalismus wird von der dort ansässigen Bevölkerung bis heute als unrechtmäßige Annexion abgelehnt.

Die aktuellen Proteste wurden von Anfang an gewaltsam niedergeworfen, das Militär in der Region zusammengezogen und massenhaft Zivilist_innen verhaftet. Sicherheitskräfte töteten mindestens 56 Protestierende und verwundeten Hunderte weitere. Das 2016 neu gegründete zivilgesellschaftliche Konsortium CACSC (Cameroon Anglophone Civil Society Consortium) trat in Verhandlungen mit der Regierung unter Präsident Paul Biya ein, die allerdings von der wenig kompromissbereiten Regierung abgebrochen wurden, als das Konsortium auch die Freilassung der Verhafteten und die Eigenständigkeit der anglophonen Regionen forderte. Die Streiks weiteten sich daraufhin aus und Teile der Widerstandsbewegung radikalisierten sich. Unter dem Titel »Ghost Town« wurden Schulen, Märkte und Gerichte bestreikt und das gesamte öffentliche Leben in den anglophonen Regionen lahmgelegt.

Protest gegen Präsident Paul Biyas korruptes System

Die Regierung reagierte typisch autoritär: Die Anführer der Bewegung wurden verhaftet und des Terrorismus beschuldigt. Dieser Vorwurf, auf den die Todesstrafe steht, wurde inzwischen per Erlass fallen- und die Inhaftierten freigelassen. Parallel zu den juristischen, militärischen und polizeilichen Repressionen wurde das Internet im anglophonen Teil komplett abgeschaltet, um die Kommunikation über soziale Medien zu blockieren. Am 1. Oktober 2017 riefen die Separatist_innen symbolisch die Republik »Ambazonien« aus. Der Protest blieb allerdings nicht auf einige wenige Radikale beschränkt: Weite Teile der anglophonen Bevölkerung stehen hinter den Protesten, und auch im frankophonen Landesteil gab es Verständnis und Unterstützung für das Anliegen der Anglophonen. »Die haben doch Recht«, sagt ein Fotograf aus Yaoundé. »Wir haben hier im frankophonen Teil die gleichen Probleme. Der Unterschied ist nur, dass die Anglophonen die Probleme öffentlich ansprechen und sich wehren«.

Die Kritik an der mangelhaften Infrastruktur des Landes - schlechte Straßen, mangelnde Elektrifizierung, defizitäre Gesundheitsversorgung, unterfinanzierte Schulen - und das korrupte und unbewegliche System unter Biya wird landesweit von vielen Menschen geteilt. Die Sezession allerdings, die einige Teile der anglophonen Protestbewegung anstreben, wird in frankophonen Provinzen weitgehend zurückgewiesen.

Repressives Krisenmanagement

Ein Amalgam aus hoher Arbeitslosigkeit und gesellschaftlicher Gerontokratie (Herrschaft der Älteren) führt zu besonderer Perspektivlosigkeit der jüngeren Generation, die sich überdurchschnittlich an den Protesten beteiligt. Durch den anhaltenden Schulausfall musste eine ganze Jahrgangsstufe im anglophonen Teil das Schuljahr wiederholen. Für viele Familien bedeutet dies eine enorme finanzielle Zusatzbelastung, die nicht für alle zu tragen ist. Das repressive Krisenmanagement der Regierung führte indessen dazu, dass sich Teile der Bewegung mit US-amerikanischer und nigerianischer Unterstützung weiter radikalisierten und begonnen haben, paramilitärische Vereinigungen zu bilden.

Die Regierung hingegen betont: »Die Einheit Kameruns ist heilig.« Sie ignoriert die sozialen und politischen Forderungen aus der Bevölkerung weitgehend. Ein Grund für die Zuspitzung des Konflikts und der Vehemenz der Protestierenden ist die im Herbst anstehende Präsidentenwahl. Der 85-jährige Biya regiert das Land seit 1982 und will erneut zur Wahl antreten. Doch sein hohes Alter und Gerüchte um seinen Gesundheitszustand lassen die Bevölkerung hoffen, dass so oder so ein Wechsel bevorsteht. Auch wenn zahlreiche Oppositionsparteien, Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Gruppen Sympathie für die Forderungen der Protestbewegung zeigten, konnte die Opposition die Proteste nicht wirklich für sich nutzen. Sie kritisiert die Anglophonen dafür, dass sie ihre Forderungen auf den anglophonen Teil des Landes beschränken - während die genannten Probleme doch ebenso im frankophonen Teil existierten und alle Kameruner_innen beträfen. Eine Verbesserung der Verhältnisse ist für keinen Landesteil in Sicht. Ein selbstbestimmtes »Ambazonien« wird vorerst wohl ein Wunschtraum für viele Kameruner_innen bleiben.

Gisela Ewe interessiert sich für Kolonialismus und seine Auswirkungen und forscht im Bereich Globalgeschichte an der Universität Hamburg.