»Der Ton hat sich verschärft«
Gender Eike Sanders und Ulli Jentsch über die wachsende »Lebensschutz«-Bewegung in Deutschland und die feministische Debatte über reproduktive Rechte
Interview: Tina Reis
Seit vielen Jahren beobachten Eike Sanders und Ulli Jentsch vom antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum e.V. (apabiz) die Aktivitäten von christlich-fundamentalistischen Abtreibungsgegner_innen: der sogenannten Lebensschutz-Bewegung. In ihrem neuen Buch »Kulturkampf und Gewissen« analysieren Sanders und Jentsch gemeinsam mit der Sozialwissenschaftlerin Kirsten Achtelik die medizinethischen Strategien der »Lebensschützer_innen«.
»Kulturkampf und Gewissen« ist euer zweites Buch über die »Lebensschutz«-Bewegung. Das erste, »Deutschland treibt sich ab«, habt ihr 2014 veröffentlicht. Was hat sich seitdem verändert?
Ulli Jentsch: Damals beschrieben wir das, was die »Lebensschützer_innen« jenseits von der Frage um Abtreibung tun, als Kulturkritik. Jetzt sprechen wir von Kulturkampf, weil wir finden, dass sie den Ton verschärft haben. Sie tragen mittlerweile ein stärkeres Selbstbewusstsein nach außen und sind aggressiver geworden. Da sehen wir eine Parallelentwicklung zu dem, was in der konservativen bis extremen Rechten passiert ist.
Wie ist das Verhältnis zu anderen rechten Bewegungen?
Eike Sanders: Aus unserer Sicht gibt es zwei Punkte, in denen sich die »Lebensschutz«-Bewegung und der rechte Aufschwung überschneiden. Das ist zum einen die Vorstellung, das Christentum sei durch die Säkularisierung und die vermeintliche Islamisierung bedroht. Der andere Punkt ist der Antifeminismus, die Verteidigung der heterosexuellen Familie. In der extremen Rechten war Familienpolitik eigentlich immer nur implizit Thema. Das hat sich in den letzten 15 Jahren verändert: Jetzt werden diese Themen intensiv öffentlich verhandelt.
Welche Rolle spielt die AfD im »Lebensschutz«?
E.S.: Die AfD ist die erste Partei abseits von einem linken Spektrum, die mit sexualpolitischen Themen Politik macht. Klar, das wichtigste Standbein der AfD ist der Rassismus. Aber das zweite Standbein ist der Antifeminismus. Hier gibt es eine ideologische Schnittstelle zur »Lebensschutz«-Bewegung. Aber die parteipolitische Heimat der »Lebensschützer_innen« war immer schon die CDU/CSU, und das ist immer noch so.
U.J.: Es gibt eine Bewegung hin zur AfD, aber eigentlich müssen sie sich erst einmal intern mit ihr auseinandersetzen. Da geht es dann um die Frage, ob die AfD christlich ist oder nicht, und ob christliche Nächstenliebe nicht eigentlich bedeuten müsste, Geflüchtete willkommen zu heißen. Diese Auseinandersetzung ist christlich und religiös, aber sie ist auch politisch und findet nicht nur zwischen Funktionär_innen der Amtskirchen und der AfD statt, sondern auch in den Gemeinden. Diese Fragen hat die AfD auf die Tagesordnung gesetzt.
Der Fokus eures Buches liegt auf den medizinethischen Strategien der »Lebensschützer_innen«. Warum müssen wir als feministische Bewegung über Medizinethik reden?
E.S.: Unser Ausgangspunkt war, dass die »Lebensschützer_innen« mittlerweile nicht mehr rein bibelfundiert argumentieren. Das ist zwar nach wie vor ihre Hauptmotivation, aber in einer säkularisierten Gesellschaft haben sie damit ein Vermittlungsproblem. Deshalb haben sie ihre Argumentation auf medizinethische Fragen ausgeweitet, zum Beispiel auf die Frage: Wo beginnt Leben? Da haben sie eine Leerstelle vorgefunden, auch in der feministischen Bewegung. Das nutzen sie aus und erklären die Einzigartigkeit des Menschen nicht mehr als gottgegeben, sondern durch die einzigartige DNA bestimmt. So gesehen gibt es überhaupt keinen Unterschied mehr zwischen einer befruchteten Eizelle, einem Fötus und einem geborenen Menschen.
Feminist_innen haben sich lange nicht getraut, eine gesellschaftliche Debatte über den Paragraph 218 anzustoßen, aus Angst, sie könnte zu einer Verschärfung führen.
E.S.: Wir brauchen auf jeden Fall eine Debatte, denn der Paragraph 218 ist so widersprüchlich, dass er den »Lebensschützern_innen« viele Einfallstore bietet. Es braucht eine rechtliche Klärung, ob es das Recht auf Abtreibung gibt. Dass es kein Politikfeld mehr ist, dieses Recht durchzusetzen, und die damit verbundene Tabuisierung haben zu der absurden Situation geführt, dass sehr viele Menschen irrtümlich glauben, in Deutschland gäbe es dieses Recht.
U.J.: Und eigentlich war es ja die »Lebensschutz«-Bewegung, die den Burgfrieden aufgekündigt hat. Sie weist regelmäßig darauf hin, dass der Paragraph 218 nicht das leistet, was er sollte, nämlich die Zahl der Abtreibungen niedrig zu halten. Von daher war das eigentlich nur eine Frage der Zeit, und es ist ganz gut, dass die Debatte jetzt über den Paragraph 219a aufgekommen ist, weil sie das auf dem falschen Fuß erwischt hat.
Inwiefern?
U.J.: Sie war nicht darauf vorbereitet, dass aus der feministischen Bewegung plötzlich eine so vehemente Kampagne kommt. In den letzten zehn bis zwölf Jahren waren immer sie diejenigen, die die Debatte bestimmt haben. Sie mussten nie reagieren, und jetzt, da sie dazu gezwungen sind, tun sie das sehr träge und ohne große Wucht.
Ihr geht auch auf die Debatte um Pränataldiagnostik (PND) und Präimplantationsdiagnostik (PID) ein. In ihrer Argumentation gegen PND/PID übernehmen »Lebensschützer_innen« oft feministische und behindertenpolitische Argumente, sodass es zunehmend schwierig ist, sich abzugrenzen.
E.S.: Im Detail mag die Kritik vielleicht gleich sein, aber nicht in der Herkunft und nicht in der Konsequenz. Diese Widersprüche sollten uns aber nicht davon abhalten, Stellung zu beziehen. Aus einer feministischen und kapitalismuskritischen Position heraus müssen wir PND kritisieren, weil sie behindertenfeindliche Züge trägt.
U.J.: Es wird immer dann schwierig, wenn es plakativ wird. Plakative Slogans zu PND können gleichlautend sein, aber wenn es in die Argumentation geht, müssen die Unterschiede deutlich werden. Problematisch wird es, wenn plakative Forderungen erhoben werden, ohne sich die Mühe zu machen, sie auch zu argumentieren.
Was ist momentan der strategische Fokus der »Lebensschutz«-Bewegung?
E.S.: In Italien und den USA haben die »Lebensschützer_innen« ein Vorbild gefunden und gesehen, dass sie nicht von einer restriktiven Gesetzgebung abhängig sind. Stattdessen profitieren sie davon, wenn Schwangerschaftsabbrüche als so moralisch verdammenswert gelten, dass niemand daran teilhaben will. Und da kommt der Paragraph 12 des Schwangerschaftskonfliktgesetzes ins Spiel, das Recht auf Weigerung. Sie versuchen, Ärztinnen und Ärzte dazu zu bringen, die Mitwirkung an Schwangerschaftsabbrüchen zu verweigern. Es gab einen Fall in Dannenberg, wo ein Chefarzt seiner ganzen Klinik Abbrüche untersagen wollte. Und schon hätten ungewollt Schwangere 100 Kilometer weit fahren müssen.
U.J.: Dazu kommt noch die internationale Dimension: Es gibt eine strategische Zusammenarbeit mit finanzstarken Lobbyorganisationen, die juristische Präzedenzfälle schaffen wollen. Zum Beispiel wollen sie gegen Antidiskriminierungsgesetze vorgehen und durchsetzen, dass manche Leute unter Verweis auf ihren christlichen Glauben weiter diskriminieren dürfen, etwa wenn ein Bäcker sich weigert, einem schwulen Paar eine Hochzeitstorte zu backen. Das war in den USA zum Teil sehr erfolgreich, und die deutsche »Lebensschutz«-Bewegung arbeitet mit diesen Organisationen zusammen.
In welche Richtung sollte die feministische Debatte jetzt weitergehen?
E.S.: Es ist wichtig, die Argumentation der »Lebensschutz«-Bewegung zu kennen und zu wissen, welches Weltbild dahinter steht. In vielen Bereichen wurden sie bisher nicht ernst genommen. Das war ein Fehler. Nur wenige verfolgen Bundestagsdebatten über neue Reproduktionstechnologien. Dazu konnte Kirsten Achtelik, mit der wir das Buch geschrieben haben, viel beitragen, weil sie eine der wenigen ist, die diese Debatte in die feministische Bewegung hineingetragen hat. Wir brauchen einen intersektionalen Ansatz, wenn es um die Überschneidungen mit Rassismus und Behindertenfeindlichkeit geht. Wenn diese Bewegung erstarkt, greift das nicht nur ungewollt Schwangere an, sondern alle, die vom heteronormativen Bild abweichen, und Freiräume, die die feministische und queere Bewegung erkämpft hat.
U.J.: Eine weitere Leerstelle ist die Auseinandersetzung mit Religion. Viele rechte Strömungen berufen sich momentan auf das Christentum. Oft wird das, was in den Amtskirchen passiert, als marginal abgetan, als hätte es keine gesellschaftlichen Auswirkungen. Dabei geht es da um ganz grundlegende Fragen von Ethik: Welche Werte hat eine Demokratie, wenn sie sich nicht auf die Bibel stützt? In dieser Hinsicht ist die feministische und linke Argumentation teilweise brüchig und traut sich nicht, offensiv säkulare Werte zu vertreten.
Tina Reis lebt in Berlin und ist dort in queer-feministischen Kontexten aktiv, vor allem im Bereich reproduktive Rechte und Netzpolitik.