Vom rassistischen Mordfall zur Staatsaffäre
International Vor 25 Jahren schlug in Großbritannien der Tod von Stephen Lawrence hohe Wellen -- Reformen brachten wenig
Von Helge Petersen
Die tödlichen Konsequenzen rassistischer Gewalt gehören in Großbritannien seit Jahrzehnten zum Kernbestandteil politischer Auseinandersetzungen. Bereits 1958 wurden der Londoner Stadtteil Notting Hill und die mittelenglische Stadt Nottingham von pogromartigen Ausschreitungen erschüttert. Ganze Straßenzüge wurden verwüstetet und Dutzende Migrant_innen teilweise schwer verletzt. Ein Jahr später wurde der britisch-antiguanische Handwerker Kelso Cochrane in Notting Hill auf offener Straße ermordet. Ein rassistisches Motiv wurde von der Polizei ausgeschlossen, die Täter_innen sind bis heute nicht identifiziert worden.
Seitdem zieht sich das Problem wie ein roter Faden durch die britische Nachkriegsgeschichte. Auch wenn die Dokumentation rassistischer Morde für die Zeit vor den 1990er Jahren äußerst lückenhaft ist, muss von Dutzenden Fällen ausgegangen werden. Überliefert sind vor allem jene Fälle, die politische Proteste gegen rassistische Gewalt und staatliches Versagen ausgelöst haben - so etwa die in London verübten Morde an Tosir Ali im April 1970, Gurdip Singh Chaggar im Juni 1976, Altab Ali im Mai 1978, Akhtar Ali Baig im Juli 1980, Eustace Pryce im November 1984 oder Kuldip Singh Sekhon im Dezember 1988. Auch die tödliche Polizeigewalt wurde immer wieder zum Gegenstand antirassistischer und migrantischer Proteste. Die Fälle von Colin Roach, Cynthia Jarrett, Joy Gardner, Wayne Douglas oder Christopher Alder, die allesamt unter polizeilicher Gewalteinwirkung ums Leben kamen, sind nur einige Schlaglichter aus den 1980er und 1990er Jahren.
Trotz Reformen neue Skandale
Der Mord an Stephen Lawrence am Abend des 22. April 1993 war somit kein Ausnahmefall. Während der 18-jährige Schwarze Student im Londoner Stadtteil Eltham auf den Bus wartete, wurde er von einer Gruppe von fünf bis sechs Jugendlichen rassistisch beleidigt und mit einem Messer niedergestochen. Wenige Minuten später erlag er seinen Verletzungen. Auch die anschließende Strafverfolgung folgte einem altbekannten Muster. Obwohl es mindestens einen Augenzeugen gab, erwiesen sich die polizeilichen Ermittlungen als ergebnislos. Zwar konnten fünf Tatverdächtige ausgemacht werden, es kam jedoch in keinem Fall zu einer Verurteilung. Das rassistische Motiv spielte während der Ermittlungen kaum eine Rolle.
Ungeachtet dessen entwickelte der Fall in den späten 1990er Jahren eine außergewöhnliche Brisanz. Das ist in erster Linie auf die langjährigen Kämpfe der Angehörigen von Stephen Lawrence zurückzuführen. Auf Drängen der Eltern Doreen und Neville leitete das britische Innenministerium 1997 eine offizielle Untersuchung des Falls ein. Die zwei Jahre später im sogenannten Macpherson-Bericht veröffentlichten Ergebnisse waren bahnbrechend. Nicht nur wurde ein umfassendes Versagen der Ermittlungsbehörden festgestellt, sondern auch Rassismus gegenüber Opfer und Angehörigen als zentrale Ursache angeführt. Die Schlussfolgerung lautete: Die Ermittlungen waren »durch eine Kombination aus fachlicher Inkompetenz, institutionellem Rassismus und Versagen der polizeilichen Führungskräfte« behindert worden. Diese Kritik wurde darüber hinaus auf die gesamte Londoner Metropolitan Police und weitere britische Polizeibehörden ausgedehnt. Die Autoren des Berichts empfahlen schließlich weitreichende Reformen der britischen Strafverfolgungsbehörden. Und zumindest formal wurden von diesen zahlreiche umgesetzt.
Das Problem des staatlichen Rassismus ist nicht vom Tisch
Für den Fall Lawrence war die Strafrechtsreform aus dem Jahr 2003 am bedeutsamsten. War es bis dato nicht möglich, eine Person auf Grundlage derselben Anklage mehrfach vor Gericht zu stellen, ist dies nun unter der Bedingung möglich, dass neues und hinreichendes Beweismaterial vorliegt. Dies ebnete den Weg für ein zweites Gerichtsverfahren. Nachdem eine Ermittlungsgruppe 2006 neues forensisches Beweismaterial gefunden hatte, konnten zwei der ursprünglichen Tatverdächtigen, Gary Dobson und David Norris, erneut angeklagt werden. Im Januar 2012 schließlich wurden beide wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt.
Insgesamt hat sich der Reformprozess jedoch als äußerst unwirksam erwiesen. Polizeistatistiken zufolge wurden in England und Wales in den Jahren 2016/17 mehr als 62.000 sogenannte race hate crimes angezeigt. Der antirassistische Think Tank Institute of Race Relations geht weiterhin davon aus, dass zwischen 1999 und 2014 insgesamt mindestens 93 rassistische Morde begangen worden sind. Auch das Problem des staatlichen Rassismus ist nicht vom Tisch. Erst letztes Jahr kam eine von dem Labour-Politiker David Lammy durchgeführte Untersuchung zu dem Schluss, dass Menschen, die von offizieller Seite in der Kategorie Black, Asian and Ethnic Minority (BAME) zusammengefasst werden, auf allen Ebenen des britischen Strafjustizsystems diskriminiert werden. Dazu gehört auch eine überdurchschnittliche hohe Wahrscheinlichkeit, unter polizeilicher Gewalteinwirkung ums Leben zu kommen. Das ging aus einer kurze Zeit später veröffentlichten offiziellen Untersuchung der Juristin Elish Angiolini hervor.
Für die Angehörigen waren diese Ergebnisse mit Sicherheit keine Überraschung. Bereits im Juni 2013 hatte für sie eine neue Etappe im Kampf gegen staatliche Diskriminierung begonnen. In einem Interview mit der Tageszeitung Guardian offenbarte der ehemalige Polizist Peter Francis, dass er als verdeckter Ermittler in antirassistischen Kreisen jahrelang damit beauftragt war, die Familie Lawrence auszuspionieren und wenn möglich zu verleumden, um so deren Kampagnenarbeit zu diskreditieren. Ein Jahr später stellte sich heraus, dass die britische Polizei zwischen 1970 und 2005 mindestens 17 weitere Opferfamilien, die sich polizeikritisch äußerten, überwachte. Diese Enthüllungen waren Teil eines umfangreichen Polizeiskandals, in dessen Verlauf bekannt wurde, dass die britische Polizei zwischen 1968 und 2008 mindestens 1.000 politische Gruppen aus dem linksradikalen, antirassistischen und gewerkschaftlichen, später auch rechtsextremen Spektrum ausspionierte. Neueren Vorwürfen zufolge sollen auch Parlamentarier von Labour und der Green Party bespitzelt worden sein.
Im Februar 2014 starteten mehrere betroffene Einzelpersonen und Organisationen eine Kampagne gegen Polizeiüberwachung, an der auch Doreen und Neville Lawrence federführend beteiligt sind. Der zentralen Forderung, eine öffentliche Untersuchung einzuleiten, kam die damalige Innenministerin Theresa May nach anfänglichem Widerwillen im März 2015* nach. Aufgrund zahlreicher Anträge der Metropolitan Police, die Identität der Undercover-Polizist_innen geheim zu halten, sind die Ergebnisse der Untersuchung bereits jetzt weit überfällig. Mit ersten öffentlichen Zeugenbefragungen wird nicht vor der zweiten Hälfte des nächsten Jahres gerechnet.
Helge Petersen promoviert an der Universität Glasgow über rassistische Gewalt und polizeilichen Rassismus in der britischen Nachkriegsgeschichte.
* In der Printversion steht fälschlicherweise, Theresa May sei der Forderung bereits im März 2014 nachgekommen.
»Windrush«-Skandal: Mays staatlicher Rassismus
2012 hatte die damalige Innenministerin Theresa May eine Politik des »feindlichen Klimas« für illegalisierte Einwanderer initiiert. Betroffen waren jedoch in erster Linie Einwanderer der sogenannten Windrush-Generation - benannt nach dem ersten Schiff, das karibische Einwanderer 1948 ins Königreich brachte. Während sie zuvor Jahrzehnte unbehelligt vom Staat auf der Insel gelebt hatten, gerieten sie nun ins Visier des britischen Staates. Sie sollten ihren Aufenthaltsstatus nachweisen, wurden vom staatlichen Gesundheitsdienst ausgeschlossen, aus ihren Wohnungen geworfen und zum Teil in Abschiebehaft genommen und deportiert. Es soll feste Abschiebequoten gegeben haben. Infolge des »Windrush«-Skandals trat Ende April Mays Innenministerin Amber Rudd zurück. Das wird als Bauernopfer gewertet, weil die Initiatorin dieser rassistischen Politik die heutige Premierministerin May ist.