Am Markt soll Frankreich genesen
International Wie Emmanuel Macron vom Hoffnungsträger der Linksliberalen zum neoliberalen Hardliner wurde
Von Sebastian Chwala
Anfang Mai feierte der französische Staatspräsident Emmanuel Macron ein Jubiläum: Seit einem Jahr steht er an der Spitze unseres Nachbarlands. Vom ersten Tag seiner Amtszeit an haben Macron und die französische Regierung unter der Führung des Premierministers Eduard Philippe keinen Zweifel daran gelassen, dass sie Frankreich von Grund auf umbauen wollen. Schnell verflog die Freude bei jenen Wähler_innen und Beobachter_innen, die sich vom ehemaligen Investmentbanker Macron nach seinem Sieg über die Kandidatin des ultrarechten FN ein wenig Demut und Mäßigung erhofft hatten. Schließlich hatte ihn auch die Mehrheit der Anhänger_innen der politischen Linken gewählt - aus Angst vor Marine Le Pen. Doch Macron nutzte zusammen mit seinen engen Wegbegleiter_innen die Gunst der Stunde: Er begann, seine ultraliberale Agenda sofort in die Tat umzusetzen.
Doch nicht nur das. Seit jüngstem präsentiert sich Macron als Mann der politischen Rechten, nachdem er sich im Wahljahr 2017 noch als unideologischer Pragmatiker präsentiert hatte. So kokettiert er offen mit der rechtslastigen katholischen Kirche. Er wolle die Gräben zwischen Staat und Kirche schließen, gab er unlängst auf einer Konferenz hoher französischer Würdenträger der katholischen Kirche zu Protokoll. Außerdem versucht er, sich als starker Präsident zu präsentieren, der innenpolitische Fragestellungen grundsätzlich nicht im Dialog löst. Sondern die zuständigen Minister_innen anweist, Gesetze ohne Rücksicht auf die beteiligten Akteur_innen auszuarbeiten und im Eilverfahren durchs Parlament zu bringen. Besonders beschämend war die Verabschiedung eines neuen Asylgesetzes, das nicht nur das Wegsperren von Kindern in Abschiebegefängnissen erlaubt, sondern Fristen für das Einreichen von Asylanträgen verringert und Widersprüchen gegen abgelehnte Anträge die aufschiebende Wirkung aberkennt. Die linientreuen Abgeordneten seiner Partei La République en Marche (LREM) mussten unter Druck gesetzt werden, um geschlossen zuzustimmen. Denn wer Macron und »seine« Regierung nicht bedingungslos unterstützt, dem droht der Ausschluss aus der Parlamentsfraktion. Diskutieren sei erlaubt, aber nicht, sich dem kollektiven Willen der »Marschierer« zu entziehen, heißt es aus der Fraktionsspitze.
Trickle down auf französisch
Die einzigen Akteur_innen, die bei Macron Gehör finden, sind die Vertreter_innen des Kapitals. Deren legitimen Wohlstand dürfe man nicht in Frage stellen. Zum ersten Mal in der jüngeren französischen Geschichte plädiert ein Staatspräsident somit für die völlige Freiheit für das Kapital. Nur die ungehemmte Möglichkeit, auf allen Ebenen Profite zu erzielen, würde die Wirtschaft in Gang bringen und sicherlich auch ein paar Arbeitsplätze schaffen. Konkret bedeutet dies, dass massive Steuersenkungen für die ökonomischen Eliten durchgesetzt wurden. Über zwölf Milliarden Euro werden die reichsten zehn Prozent in diesem Jahr an Steuern sparen. Darüber hinaus kündigte Macron an, die sogenannte »exit tax«, eine Strafsteuer, die vermögende Unternehmer_innen oder Topmanager_innen zahlen müssen, die ihren Wohnsitz ins Ausland verlegen, im nächsten Jahr abschaffen zu wollen. Schließlich könne jeder mit seinem Geld machen, was er wolle, und Frankreich dürfe doch nicht einfach erfolgreiche Unternehmer_innen bestrafen. Dies schade der französischen Ökonomie, erklärt er dem amerikanischen Forbes-Magazin.
Bezeichnenderweise wird diese milliardenschwere Umverteilung nach oben auf Kosten der großen Mehrheit der Menschen in Frankreich vollzogen. Bei den öffentlichen Ausgaben sollen über 20 Milliarden Euro eingespart werden. Betroffen sind Krankenhäuser, Schulen und öffentliche Wohnungsbauunternehmen. 120.000 Stellen im öffentlichen Dienst sollen verschwinden. Außerdem wird die Sozialsteuer CSG erhöht. Auf diese Weise soll eine steuerfinanzierte Basisversorgung auf niedrigstem Niveau geschaffen werden - anstelle der paritätisch finanzierten Sozial- und Krankenversicherungssysteme, die Schritt für Schritt ausgehebelt werden sollen. Auch hier profitiert in erster Linie die Kapitalseite, die aus ihrer Verantwortung für die Finanzierung der Sozialsysteme befreit wird.
Bisher war es in Frankreich so, dass ein bestandenes Abitur (Baccalauréat) mit dem Anrecht auf einen Studienplatz verbunden war. Mit einer Neuregelung wurde dieses Recht jetzt schlichtweg abgeschafft. Stattdessen wurde ein aufwendiges bürokratisches Verfahren geschaffen, das die Universitäten in die Lage versetzt, sich ihre Studierenden selbst auszuwählen - anhand von Fähigkeiten und Fertigkeiten, die die Studierenden nachweisen müssen.
Formal müssen in Zukunft zusätzlich Motivationsschreiben und Lebensläufe eingereicht werden. Professionelle Dossiers müssen von jungen, kaum volljährigen Menschen eingereicht werden. Und das in vielfacher Form, da sich die Abiturient_innen nicht nur an einer Uni oder einem Fachbereich bewerben können, sondern zehn Bewerbungen auf der Onlineplattform einstellen müssen.
Es steht zu befürchten, dass besonders Arbeiterkinder, die an französischen Universitäten ohnehin unterrepräsentiert sind, diesen Auswahlverfahren zum Opfer fallen werden. Sei es, weil sie aus Angst zu scheitern keine Bewerbungen einreichen oder weil sie die gestellten Anforderungen nicht erfüllen, da sie keine allgemeinbildende Oberschule besucht haben, deren Lehrpläne die Vermittlung der notwendigen Kompetenzen vorsehen. Die Fachoberschulen aber sollen für den Arbeitsmarkt fit machen - und nicht für die Universität. Diese Ausgrenzung der sozialen Unterklassen durch Macron wird von den Studierenden genauso abgelehnt wie von den Lehrenden. Diese weigern sich sogar, Auswahlkommissionen einzurichten und obligatorische Klausuren abzuhalten. Somit stören sie den regulären Unibetrieb nachhaltig.
Doch nicht nur an den Hochschulen kommt es zu beträchtlichen Mobilisierungen gegen die Politik des Präsidenten. Besonders im öffentlichen Dienst ist die Bereitschaft groß, sich den Austeritätsprogrammen Macrons und des Premiers Philippe entgegenzustellen. Mehrere Aktions- und Streiktage fanden in den letzten beiden Monaten statt. Und jetzt zeichnet sich ab, dass die zerstrittene politische Linke den Schulterschluss mit den Gewerkschaften suchen wird. Nachdem bisher die einzelnen Parteien und Bewegungen eigene Versuche gemacht haben, die gewerkschaftlichen Proteste zu unterstützen, sieht es derzeit danach aus, dass am 26. Mai eine gemeinsame Demonstration von Linksparteien und Gewerkschaften stattfinden wird. Eine ähnliche Veranstaltung brachte am 5. Mai bereits mehrere Zehntausend Menschen in Paris auf die Straße. Für das Gewerkschaftsspektrum, das gerne auf seine Unabhängigkeit pocht, ein unerhörter Schritt. Doch die unnachgiebige Haltung, mit der Macron die »Vermarktlichung« Frankreichs vorantreibt, lässt den Beteiligten keine andere Wahl. Nur die Straße kann Macron in die Schranken weisen.
Sebastian Chwala ist Politikwissenschaftler, er lebt und promoviert in Marburg.