Wahlkampf aus dem Knast
International Kurz vor den türkischen Wahlen ist die linke HDP bündnispolitisch isoliert und Präsidentschaftskandidat Demirtas weiterhin in Haft
Von Mahir Tokatli
Ursprünglich waren die Parlaments- und Präsidentschaftswahlen für 2019 angedacht, aber der AKP-Vorsitzende Recep Tayyip Erdogan und Devlet Bahçeli von der neofaschistischen Nationalistischen Aktionspartei (MHP) haben entschieden, die Wahlen um eineinhalb Jahre vorzuziehen. Zwei Gründe sprechen für diese Maßnahme. Einerseits will der islamistisch-faschistische Block damit angesichts der miserablen wirtschaftlichen Entwicklung den zu erwartenden schlechten Ergebnissen im November 2019 vorbeugen. Andererseits soll die Opposition möglichst unvorbereitet in die Wahlen gehen. Nun markiert der 24. Juni den Übergang zum »Präsidialsystem alla Turca«, das weiterhin nach der Grundlogik eines parlamentarischen Systems funktioniert, indes mit einer immensen Machtkonzentration auf den Staatspräsidenten und der Aushöhlung der Gewaltenteilung einhergeht.
Weder frei noch fair: erwartet werden Wahlfälschungen
Unter den Bedingungen des Ausnahmezustandes werden diese Wahlen weder frei noch fair ablaufen. Bereits beim Referendum im vergangenen Jahr gab es starke Indizien für größere Manipulationen. Ein kürzlich verabschiedetes Gesetz hat nun ungestempelte Wahlzettel für gültig erklärt und sieht an den Urnen Ortsfunktionäre statt Parteivertretungen sowie Sicherheitskräfte vor, die Wähler_innen einschüchtern könnten. Damit sind Manipulationen quasi legalisiert worden. Auch weil Autokraten in den seltensten Fällen infolge einer Wahl abdanken, wäre es vermessen, Hoffnungen auf einen Regierungswechsel durch Wahlen zu setzen.
Primäres Ziel der Oppositionsparteien muss daher sein, ihre eigene Wählerklientel zu mobilisieren, sodass die Regierung die Wahlen zwangsläufig noch stärker manipulieren muss, um zu gewinnen. Je erfolgreicher die Opposition mobilisiert, desto offenkundiger wird manipuliert werden müssen, was letztlich an der Legitimität der fragilen Herrschaft kratzt.
Freilich sind die Präsidentschaftswahlen die wichtigeren, aber durch ein neues Gesetz haben die Parlamentswahlen überraschend an Bedeutung gewonnen. Um die arg geschwächte MHP über die undemokratische Zehn-Prozent-Hürde zu hieven, wurden kurzerhand Wahlbündnisse erlaubt, sodass sich kleinere Parteien größeren anschließen und die Sperrklausel im Huckepack überspringen können. Sofern die Opposition dies zum eigenen Vorteil nutzt und die AKP die absolute Mehrheit verliert, könnte die Opposition die Schwächen des neuen Regimes offenlegen. Sie könnte dann jedes präsidiale Dekret mit einem eigenen Gesetz aufheben und blockieren. Als einziger Ausweg bliebe eine Parlamentsauflösung durch den Präsidenten mit einhergehenden Neuwahlen.
Das faktische Wegfallen der Hürde erschwert einerseits die Sicherstellung der absoluten Mehrheit von AKP und MHP, andererseits erleichtert es die Mobilisierung der Klientel kleinerer Parteien, da sie nicht befürchten müssen, dass ihre Stimmen wegfallen. Kleine Splitterparteien wie die islamistische Glückseligkeitspartei (SP) und die konservative Demokratische Partei (DP) schöpfen daher Hoffnung. Viel wurde über die Bildung einer unpolitischen »Null-Prozenthürde-Allianz« relevanter Oppositionsparteien spekuliert. Unpolitisch, weil sie allein den Einzug ins und somit die Pluralisierung des Parlaments gewährleistet hätte. Ein Zusammenschluss aller Oppositionsparteien scheiterte jedoch an der Weigerung der säkular-faschistoiden Guten Partei (IP) mit der sozialistischen Demokratischen Partei der Völker (HDP) zusammenzuarbeiten, was letztlich dann doch den politischen Charakter der als unpolitisch deklarierten Wahlallianz offenbart.
Die Republikanische Volkspartei (CHP) hat sich gegen ein Bündnis mit der HDP entschieden und sich stattdessen den drei rechten Parteien SP, DP und IP angeschlossen. Erneut sucht die CHP ihr Heilsversprechen rechts und isoliert die HDP. Damit nimmt sie in Kauf, dass die effektivste Oppositionspartei an der Zehn-Prozent-Hürde scheitert. Letztendlich ist diese Entscheidung der CHP angesichts ihrer staatszentrierten und kurdophoben Haltung jedoch auch ideologisch konsistent.
Theoretisch könnte die HDP mit der islamistisch-kurdischen Partei der Freien Sache (HüdaPar) eine Allianz bilden, um die konservativ-religiösen und von der AKP enttäuschten Kurd_innen zu gewinnen. Auch strategisch wäre dies jedoch nicht ratsam. Ihr Wähleranteil liegt in den kurdischen Provinzen im mittleren einstelligen Bereich und bei den Wahlen im Juni 2015 hat die HüdaPar etwas unter 70.000 Stimmen erhalten. Zudem entstammt ein beträchtlicher Teil aus der sunnitisch-islamistischen Hizbullah, die in der Vergangenheit dem türkischen Staat immer wieder als Werkzeug diente, um die kurdische Freiheitsbewegung zu spalten. Letztlich wären die Kosten eines Bündnisses höher als der Nutzen.
Stichwahlen als Ziel
Was die Präsidentschaftswahlen betrifft, kann die Wahl Erdogans in der ersten Runde verhindert werden, wenn jede Partei eigene Kandidat_innen nominiert. Hier ist es sinnvoll, dass die CHP sich weder auf eine_n gemeinsame_n Kandidat_in mit Oppositionsparteien aus dem Wahlbündnis geeinigt noch mit der HDP nach einer gesucht hat. Je mehr Personen zur Wahl stehen, desto höher ist die Wahrscheinlichkeit einer Stichwahl. Zwar ist auch hier eine Niederlage Erdogans kaum vorstellbar; zu sehr kontrolliert der Staat die Medien und ist bereit, die Wahlen zum eigenen Gunsten zu fälschen. Ein Ansehensverlust wäre dennoch garantiert.
Angesichts der geschlossenen Bündnisse und ihrer Kandidat_innen scheint die Opposition ihre Erfolgsstrategie darin zu sehen, den Block aus AKP und MHP rechts zu überholen: Dessen gemeinsamer Kandidat Erdogan konkurriert mit der Nationalistin Meral Aksener (IP) um das rechte, nationalistische, mit Temel Karamollaoglu von der SP um das islamistische Wählerreservoir. Muharrem Ince, CHP-Kandidat, ist der ewige innerparteiliche Herausforderer des Vorsitzenden Kemal Kiliçdaroglu und ein profilierter Kritiker Erdogans. Letztlich bedient er aber die säkular-nationalistische, also kemalistische, Klientel und könnte die nach rechts abgewanderten von Kiliçdaroglu enttäuschten Wähler_innen zurückholen.
HDP-Präsidentschaftskandidat Selahattin Demirtas kommt die politische Konstellation gelegen, da das linke Wählerspektrum so kaum bedient wird. Demirtas war ein wichtiger Faktor für die Öffnung der HDP in weite Teile der türkischen Linken und obwohl er sich seit eineinhalb Jahren in Untersuchungshaft befindet, strahlt er mit seinen Ideen, Humor und Hartnäckigkeit weiterhin Hoffnung aus. Glaubhaft steht er für seine vor vier Jahren an Erdogan gerichtete Aussage ein: »Wir machen dich nicht zum Präsidenten!« Muharrem Ince hat bereits seine Entlassung gefordert, doch wahrscheinlich wird er seinen Wahlkampf aus dem Gefängnis heraus führen müssen, denn in Freiheit ist Demirtas für Erdogan eine zu große Gefahr. Er ist dies ja bereits in seiner Zwölf-Quadratmeter-Zelle in Edirne.
Mahir Tokatli ist Politikwissenschaftler und Soziologe an der Universität in Bonn und analysiert in seiner Dissertation den »Präsidentialismus alla Turca«.