Aufgeblättert
Gescheiterte Befreiung
Hendrik Wallats Essayband »Das Scheitern der Befreiung« enthält 20 Beiträge, von denen der größte Teil entweder bislang unveröffentlicht war oder hier in überarbeiteter Fassung erscheint, ohne dabei »dem heutigen Kenntnisstand des Autors« zu entsprechen. Geordnet sind sie nicht chronologisch, sondern thematisch entlang der Kapitel »Geschichte der (Konter-) Revolution«, »Fragmente einer kritischen Theorie der (gescheiterten) Befreiung« und »Grenzen der Befreiung«. Das Vorwort bietet einen Einblick in das Denken des Autors. Zentrale Bezugspunkte, die sich auch in den Artikeln widerspiegeln, sind: die »philosophische ... Tradition von Platon bis Nietzsche« - verknüpft mit deren »materialistischer Aufhebung bei Marx« und der Kritischen Theorie, »materialistische Gesellschaftstheorie, Sozialgeschichtsschreibung und Kulturanthropologie« und die »libertäre ..., anarcho-kommunistische ... Tradition«, verbunden mit weitgehend vergessenen Namen wie Rudolf Rocker und Victor Serge. Hinsichtlich der inhaltlichen wie stilistischen Qualität schließt Wallat an seine früheren Monografien an. Er blickt als Chronist und Kommentator kritisch zurück auf die lange, schmerzvolle Geschichte linker Befreiungsversuche, an der deren Ende eben nicht die ersehnte Freiheit stand. Ihm geht um es die notwendige Selbstreflexion des gesellschaftskritischen Denkens - deren Bandbreite er lesenswert in dieser Sammlung als ernstzunehmenden und ausführlich zu diskutierenden Debattenbeitrag abbildet.
Sebastian Klauke
Hendrik Wallat: Das Scheitern der Befreiung. Politisch-philosophische Essays. Unrast Verlag, Münster 2017. 287 Seiten, 19, 80 EUR.
Russischer Fußball
Über das erste öffentliche Fußballspiel in St. Petersburg im September 1893 berichtete die Zeitung Petersburger Blatt: »Das Spielfeld war völlig mit Schmutz bedeckt. Die Sportler in weißer Kleidung liefen über den Platz, plumpsten vor Schwung in den Schmutz und sahen bald aus wie die Schornsteinfeger. Die ganze Zeit wollte das Gelächter im Publikum nicht verstummen. Das Spiel endete mit dem Sieg der einen Partei über die andere.« Die Anekdote findet sich in dem Lesebuch »Russkij Futbol«, einer Sammlung von Aufsätzen zum russisch-sowjetischen Fußball. Zu den Themen gehören: Fußball im von der Deutschen Wehrmacht belagerten Leningrad, die Länderspiele der russisch-sowjetischen Nationalmannschaft, die heutige Fanszene, bestehend aus »Hooligans, Neonazis und weltoffenen Faninitiativen«. Illustriert mit wunderbaren farbigen Grafiken, werden herausragende Fußballer porträtiert, darunter Torwart Lew Jaschin, der »Löwe von Moskau«, Trainer Walerij Lobanowskyj, der Dribbelkünstler Andrei Arschawin, aber auch der Edelfan Dmitri Schostakowitsch, weltberühmter Komponist der Leningrader Sinfonie. Viele historische Schwarzweißfotos dokumentieren wichtige Spiele und teils spektakuläre, teils lustige Alltagsszenen rund um den Fußball. Am Schluss steht ein kritischer Artikel über »Putins Show«, die bevorstehende Weltmeisterschaft der Männer in Russland. Anlass zum Gelächter - wie seinerzeit in St. Petersburg - wird sie wahrscheinlich nicht zu bieten haben.
Jens Renner
Stephan Felsberg, Tim Köhler und Martin Brandt (Hg.): Russkij Futbol. Ein Lesebuch. Verlag Die Werkstatt, Göttingen 2018. 224 Seiten, 16,90 EUR.
NSU-Prozess
Die Verlesung seines Plädoyers im NSU-Prozess Ende letzten Jahres dauerte mehrere Tage. Kurz darauf veröffentlichte der Nebenklageanwalt Mehmet Daimagüler, der Angehörige der in Nürnberg Ermordeten Ismail Yasar und Abdurrahim Özüdogru vertritt, sein Plädoyer als Buch. An Aktualität hat es bisher nicht verloren. Besonders im Hinblick auf die anstehende Urteilsverkündung im Verfahren gegen mutmaßliche Mitglieder des NSU in München ist es aktueller denn je. Ein Plädoyer ist das Buch im doppelten Sinne: Einerseits ist es - selbstverständlich - ein juristisches Plädoyer, in dem der promovierte Jurist auch für juristisch Unbewanderte verständlich zeigt, dass etwa die vollständige Aufklärung des NSU-Komplexes - entgegen der Auffassung der Bundesanwaltschaft - sehr wohl Teil des Verfahrens hätte sein müssen. Andererseits ist das Buch ein analytisch präzises, politisch klar positioniertes und empathisches Plädoyer gegen die verschiedenen Formen von Rassismus, wie sie im NSU-Komplex sichtbar wurden: von der eigenen, persönlichen Verstrickung mit Rassismus über mehrheitsgesellschaftliche rassistische Strukturen hin zum institutionellen Rassismus der Polizeien und Verfassungsschutzbehörden. Anschaulich zeichnet er die vielen Skandale um den NSU nach, die zu oft keine Beachtung finden. Das Buch bietet nicht nur einen guten Einstieg in den NSU-Komplex, sondern auch bei vorausgehender Beschäftigung mit dem Thema analytisch interessante Perspektiven auf Rassismus in Deutschland.
Charlie Kaufhold
Mehmet Daimagüler: Empörung reicht nicht! Unser Staat hat versagt. Jetzt sind wir dran. Mein Plädoyer im NSU-Prozess. Bastei Lübbe Verlag, Köln 2017. 350 Seiten, 18 EUR.
What is love?
»Der Ursprung der Liebe« ist nach »Der Ursprung der Welt« das zweite ins Deutsche übersetzte Buch der schwedischen Politikwissenschaftlerin und Comiczeichnerin Liv Strömquist. Zwischen Theorie (Text) und witzigen Anekdoten (Bild) erklärt Strömquist, warum »die romantische Liebe die zerstörerischste Idee in der Menschheitsgeschichte ist« (Toni Morisson) und welche Machtverhältnisse vor allem in heterosexuellen Paarbeziehungen durch sie aufrechterhalten werden. Neben den schwarzweiß gehaltenen Zeichnungen, die durch weiteres Bildmaterial collagenartig ergänzt werden, sind Strömquists Comics über weite Strecken Schriftbild. Trotzdem: Feministische Aufklärung war selten lustiger. Von der historischen Genese der Liebe, ihren patriarchalen Funktionen und ihrer Warenförmigkeit im Kapitalismus bis zu Britney Spears und Whitney Houston reichen die acht Kapitel. Im Kapitel Männer-Pflege-WM wird diejenige gekürt, die sich am aufopferndsten um ihren Mann kümmert: »Mein Schatz! Soll ich dir die Bulette klein schneiden?«, fragt Nancy Reagan ihren Ehemann, Ex-US-Präsident Ronald, den sie nach seiner Alzheimererkrankung pflegt. Strömquist spannt den Bogen vom Zusammentreffen der beiden, als Ronald als Vorstehender der Screen Actors Guild Berufsverbote gegen (vermeintliche) Kommunist_innen (unter ihnen Nancy) verhängte, über die Sozialkürzungen in seiner Regierungszeit und landet schließlich bei der tragischen Frage, ob Nancy in ihrer Hingabe nicht doch eine Kommunistin der Liebe war.
Kornelia Kugler
Liv Strömquist: Der Ursprung der Liebe. avant-Verlag, Berlin 2018. 136 Seiten, 20 EUR.