Die Streiks der Anderen
Diskussion Während die Migrationsdebatte in der Linken weitergeht, haben Geflüchtete den Kampf gegen Sozialabbau längst aufgenommen
Von Katharina Schoenes und Hannah Schultes
Im November 1963 treten in Göttingen griechische Arbeiter der Firma Holz-Henkel in den Streik, um gegen ihre miserablen Wohn- und Arbeitsverhältnisse zu protestieren. Der Streik dauert 21 Tage. Nach Verhandlungen mit der Werksleitung wird er beendet, die in Aussicht gestellten Verbesserungen bleiben jedoch aus. Eine Woche später inszenieren die Streikenden daher ihre Rückkehr nach Griechenland, um ihren Forderungen Nachdruck zu verleihen. Sie treten einen »Protestmarsch nach Griechenland« an, erst quer durch die Innenstadt, dann Richtung Süden aus der Stadt hinaus. Der Zug wird in Friedland gestoppt, nachdem der griechische Konsul eingeschaltet worden ist und den Protestierenden bessere Arbeitsbedingungen zusichert hat. Einige Arbeiter werden als Rädelsführer angeklagt, andere verlassen den Betrieb. Bis weit in die 1970er Jahren hinein gibt es Beschwerden über katastrophal ausgerüstete Unterkünfte, mangelhaftes Essen, die schwere Arbeit, die schlechte Ausstattung mit Arbeitskleidung und rassistische Übergriffe.
55 Jahre nach dem Protestmarsch in Göttingen findet im Februar 2018 eine ähnliche Aktion im bayerischen Donauwörth statt. In der dortigen Erstaufnahmeeinrichtung leben viele Geflüchtete aus Gambia, deren Asylgesuche in Deutschland gemäß der Dublin-Verordnung als unzulässig abgelehnt wurden, weil sie über Italien nach Deutschland gekommen sind. Viele haben seit längerer Zeit keinerlei Bargeld erhalten, da ihnen - rechtswidrig - die Sozialleistungen gekürzt wurden. Manche arbeiten für 80 Cent pro Stunde, das Kantinenessen ist schlecht, die medizinische Versorgung unzureichend. Es kommt zu spontanen Protestaktionen in der Unterkunft. Am 12. Februar beschließen Bewohner_innen des Lagers, auf eigene Faust mit dem Zug nach Italien aufzubrechen; sie wollen die schlechten Wohn- und Lebensbedingungen nicht länger hinnehmen. Verhindert wird ihr Aufbruch schließlich nur durch einen großangelegten Polizeieinsatz: Der Bahnhof wird großräumig abgeriegelt, der Zugverkehr vorübergehend eingestellt.
Ein wichtiger Ausgangspunkt für Proteste und Streiks der sogenannten Gastarbeiter und Gastarbeiterinnen waren die oft unzumutbaren Bedingungen in den Wohnheimen, ebenso wie Forderungen nach gleichen politischen und sozialen Rechten. Heute bringen Geflüchtete in ihren Protesten ähnliche Themen zur Sprache, die sich nicht auf ökonomische Fragen reduzieren lassen: die Verweigerung von Privatsphäre, fehlende Kochmöglichkeiten, unzureichende und verdreckte Sanitäranlagen, eine mangelhafte medizinische Versorgung im Lager, die ständige Angst vor nächtlichen Abschiebungen.
Ceren Türkmen schreibt in ak 637, dass der Faktor »race« das soziale Verhältnis darstellt, durch das Migrant_innen ihre Klassenerfahrungen machen. Ihr zufolge wären somit Kämpfe gegen die Entrechtung im Lager, für einen sicheren Aufenthalt, gegen Racial Profiling und Diskriminierung beim Sozialleistungsbezug nicht den ökonomischen Kämpfen untergeordnet, sondern ebenso Teil von Klassenauseinandersetzungen. Dass Migrant_innen beim Kampf gegen Formen von selektivem Sozialabbau wie Kürzungen von Sozialleistungen eigene Aktionsformen entwickeln, aber nur wenig Solidarität erfahren, gehört zu den Kontinuitäten bundesdeutscher Einwanderungsgeschichte.
Rechtsruck in der linken Migrationsdebatte
In der Gastarbeiterära konnten Kämpfe, die sich nicht unmittelbar um Löhne und Arbeit drehten, nur mit wenig Unterstützung seitens der deutsch dominierten Gewerkschaften und der Linken rechnen. Doch in den 1970er Jahren sahen weite Teile der radikalen Linken die migrantischen Arbeiter_innen immerhin als Teil der Arbeiterklasse an, unterstützten ihre Streiks und verfolgten das Ziel, Spaltungen zu überwinden.
Heute dreht sich die Diskussion über Migration innerhalb und außerhalb der Linkspartei vor allem darum, ob durch die Beschäftigung von Migrant_innen das Lohnniveau in Niedriglohnbranchen sinkt oder sich die Konkurrenz um bezahlbare Wohnungen weiter verschärft. Die Rechtsentwicklung hat dafür gesorgt, dass dabei nicht mehr das Wie des Kampfes gegen Überausbeutung und Entrechtung von Migrant_innen verhandelt wird, sondern ihre Existenz in Deutschland zur Debatte steht.
Tatsächlich zielt die Entrechtung der Geflüchteten in den Lagern auf die weitere Absenkung des Reproduktionsniveaus eines Teils der Arbeiterschaft ab, um sie noch intensiver ausbeuten zu können. Dagegen protestieren Geflüchtete in Bayern jedoch bereits seit Monaten - weitgehend ohne institutionelle Unterstützung. Wiederholt haben beispielsweise Geflüchtete die Deutschkurse sowie die 80-Cent-Jobs innerhalb des Lagers in Donauwörth bestreikt. Noch treffen Jobs mit einem Stundenlohn von 65 Cent, 80 Cent oder 1 Euro EU-Migrant_innen, Geflüchtete oder Erwerbslose. (1) Doch das Kapital strebt danach, solche Senkungen des Reproduktionsniveaus Stück für Stück auch auf andere gesellschaftliche Gruppen zu übertragen.
Die »neue Klassenpolitik« machen die Geflüchteten in Deggendorf, Donauwörth, Regensburg, Ellwangen und Bamberg fernab der Debatte um offene Grenzen also bereits selbst. Dennoch werden die bayerischen Proteste allenfalls als migrations- oder asylpolitische Anliegen gesehen - wenn sie überhaupt wahrgenommen werden. Damals wie heute gelten die Kämpfe von Migrant_innen um bessere Lebensbedingungen und gegen ihre Internierung in Lagern nicht als das allgemeine Anliegen einer breiteren Linken, sondern als Partikularinteresse. Höchste Zeit, diese Fehleinschätzung zu überwinden und Geflüchtete als Verbündete gegen Prekarisierung und die Rechtsverschiebung ernst zu nehmen.
Katharina Schoenes arbeitet zu institutionellem Rassismus und ist aktiv bei Justizwatch. Hannah Schultes ist ak-Redakteurin.
Anmerkung:
1) So protestierten 2014 ehemalige Beschäftigte eines Berliner Hostel gegen Stundenlöhne in Höhe von 65 Cent.