Im Iran brodelt es
International Weder die Repression noch die vom Regime geschürte Kriegspanik können die massenhaften Proteste stoppen
Von Hamid Mohseni
Der Ausstieg der USA aus dem Atomabkommen mit dem Iran führt zu geopolitischem Säbelrasseln. Der Iran versucht, daraus politisches Kapital zu schlagen, und ruft zur nationalen Einheit. Doch die Strategie, die Verantwortung für das Leid der Bevölkerung einem äußeren Feind zuzuschieben, geht nicht mehr auf. Das zeigen vor allem die massiven Proteste von Anfang des Jahres.
Zum Jahreswechsel 2017/2018 erfasste eine kurze, aber massive Aufstandswelle den Iran. Überall forderten Jugendliche, Arbeiter_innen, Arbeitslose und Studierende »Brot, Arbeit und Freiheit«. Im Gegensatz zur »grünen Bewegung« von 2009, die im Wesentlichen politische Freiheiten innerhalb des theokratischen Regimes gefordert und damit gewissermaßen den Reformismus gegen die Hardliner auf die Straße getragen hatte, brach die Welle von 2017/2018 mit dem scheindemokratischen Dualismus von »Reformern gegen Hardliner«: »Reformisten und Konservative - das Spiel ist aus« wurde jetzt zur programmatischen Parole der Proteste. Der Schulterschluss sämtlicher politischen Strömungen innerhalb des Machtapparats zur brutalen Zerschlagung der Bewegung beendete zunächst die Dynamik auf der Straße, bestätigte aber auch die Erkenntnis der Aufstandswelle: Das Problem ist das System. Und es brodelt weiter im Iran.
Keines der vielfältigen Probleme des Alltagslebens - Arbeit, Lebensmittelpreise, Umweltverschmutzung, Frauenunterdrückung, Repression usw. - wurde gelöst. Das liegt nicht etwa an einem »Missmanagement« der Herrschenden. Dieser Begriff, der in »Expertenäußerungen« zum Iran häufig zu hören ist, legt nahe, dass lediglich handwerkliche Fehler das Problem wären, gesteht der Islamischen Republik allerdings das Potenzial einer kompetenten Herrschaft zu.
Politik mit der Angst vor Kriegen
Doch seit ihrer blutigen Geburt 1979 gehen eine systematische Verelendung des Großteils der Bevölkerung und der Reichtums- sowie Machtausbau der korrupten Elite mitsamt ihres paramilitärischen Arms Hand in Hand. Eine zentrale Rolle spielt eine aggressive Außenpolitik: Kriege oder vielmehr Politik mit der Angst vor Kriegen. In den 1980er Jahren war es der achtjährige Krieg mit dem Irak, seit vielen Jahren sind es regionale Stellvertreterkriege vor allem gegen Saudi-Arabien, etwa im Jemen oder in Syrien, mit denen in klassischer Manier mit nationalistisch-religiöser Propaganda von innenpolitischen Widersprüchen abgelenkt wird.
Seit Mai dieses Jahres beschäftigt ein solches Szenario erneut die Weltöffentlichkeit: eine mögliche Eskalation zwischen den USA und dem Iran. Als US-Präsident Donald Trump das vielfach glorifizierte Atomabkommen aufkündigte, ließ der Iran verlautbaren, er werde sein altes Atomprogramm wieder aufnehmen und erhöhte Mengen Uran anreichern. Gleichzeitig wenden sich die iranischen Machthaber an die EU, die Trump zurückpfeifen sollen und das mit aller Macht versuchen. All dies geschieht, während sich die imperialistischen Mächte auf dem syrischen Kriegsschauplatz austoben. In dieser Situation kann eine Kurzschlussaktion eine Kettenreaktion mit verheerenden Folgen auslösen.
Inmitten der Drohgebärden und militärischen Muskelspiele zeigt sich erneut, wie das iranische Regime mit Angst vor Kriegen erfolgreich Politik macht - weltweit wohlgemerkt. Erstens kann es sich - mit einem Antistaatsmann Trump als Gegenüber - als Opfer inszenieren, gar als rationalerer Partner, der sich an seinen Teil des Atomabkommens gehalten hat und nun vom unberechenbaren US-Präsidenten überrumpelt wurde. Zweitens sehen vermeintliche »Experten« im Streit um das Atomabkommen eine wesentliche Ursache der ökonomischen Krise. Als käme es direkt aus der iranischen Propagandamaschinerie, suggeriert das Abkommen, dass erst die zuvor verhängten Sanktionen und die Isolationspolitik die iranische Wirtschaft in die Krise stürzten: Die Verantwortung für Inflation, steigende Arbeitslosigkeit und Sozialabbau wird damit auf den »Westen«, insbesondere die USA geschoben. Drittens schließlich befeuert solch eine geopolitische Krise das Narrativ von der Einheit von Staat und Bevölkerung. Die Weltöffentlichkeit meint, wenn sie derzeit vom Iran spricht, das politische Teheran, also das Regime, und blendet innere Widersprüche aus. Kaum jemand interessiert sich derzeit für die Menschen im Iran, die die Hauptleidtragenden dieser Affäre sind und noch wenige Monate zuvor weltweit Aufmerksamkeit genossen.
Jeden Tag ein Dutzend Streiks
Auch wenn es bei der Zerschlagung der Aufstandsbewegung viele Todesopfer gab und viele Menschen inhaftiert wurden, ist der Widerstand nicht gebrochen. Der Verweis auf die Kriegsgefahr und den »bösen Satan« im Westen zieht nicht mehr wie früher. Gerade deswegen ist innenpolitisch einiges los im Iran. Im Moment gibt es jeden Tag ein Dutzend wilder Streiks und Protestaktionen von Arbeiter_innen. Ob LKW-Fahrer, Lehrer_innen oder Stahlarbeiter: Sie fordern die Auszahlung ihrer Löhne (die teilweise seit zwei Jahren ausbleibt), fundamentale Arbeiterrechte, aber auch Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Vor allem letzteres verbindet sie mit einer Vielzahl anderer Kämpfe, wie den ewigen Unruheherden der kritischen Universitäten in Großstädten oder aber der landesweiten Praxis der Frauenbewegung: Viele Frauen legen in der Öffentlichkeit demonstrativ ihren Hijab ab und lassen sich festnehmen.
Dabei erweist sich neben eigenständigen Aktionen die »Highjacking«-Methode nach wie vor als probates Mittel: Regimetreue Mobilisierungen oder das heilige Freitagsgebet werden genutzt, um die eigenen Anliegen in die Öffentlichkeit zu tragen. So stellten sich Arbeiter_innen in Isfahan demonstrativ mit dem Rücken zum Imam und skandierten: »Mein Rücken zum Feind, mein Gesicht zum Iran«. In einem theokratischen Regime ist das eine Ansage. Die landesweiten, dieses Jahr extrem schlecht besuchten Al-Quds-Märsche des Regimes wurden ebenfalls als Bühne für das eigene Anliegen genutzt.
Dass die Protestaktionen unvermindert weitergehen, ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Erstens reagiert das Regime fast immer mit Repression, von Einschüchterung bis hin zu Entführung und Inhaftierung von vermeintlichen »Rädelsführern«. Aber noch schwerer wiegt, dass es so gut wie keine institutionalisierten politischen Aritkulationsmöglichkeiten gibt. Weder existieren unabhängige landesweite Gewerkschaften, noch gibt es ein halbwegs differenzierbares Parteiensystem, geschweige denn eine politische Linke oder eine Sozialdemokratie. Dementsprechend ist das erste und wichtigste Thema der protestierenden Menschen eine Art »Politik der ersten Person«: Im Vordergrund stehen zunächst die eigene Subjektivität und die unmittelbaren Probleme.
Falsch ist zugleich die Behauptung, die Geschehnisse rund um das Atomabkommen würden die Protestierenden gar nicht berühren. Schließlich ist eine tatsächliche Eskalation nicht auszuschließen. Sicherlich wären alle erleichtert, wenn die Bedrohung weniger konkret würde. Doch selbst wenn das Abkommen von heute auf morgen wieder in Kraft träte, würde sich an den existenziellen Problemen vieler Menschen nicht viel ändern. Das zeigte die Zeit des geltenden Abkommens sowie die systemische Korruption innerhalb des Regimes, wonach sich beim Cashflow vor allem das Establishment die Taschen vollstopft und die Neoliberalisierung des Landes vorantreibt.
Die Mullahs zum Teufel jagen!
Kurzfristig öffnen sich zwei Wege, die beide in eine Sackgasse führen. Wenn das Atomabkommen aufgekündigt bleibt, verlagert das Regime die massiven Probleme im Land nach außen, mobilisiert Kriegspanik und verschärft darauf aufbauend innere Sicherheit und autoritäre Herrschaft. Wenn das Abkommen wieder eingeführt werden sollte, wird dem Regime attestiert, gut verhandelt zu haben; die internationale Aufmerksamkeit geht zurück, das Land wird langsam, aber stetig weiter neoliberalisiert, wovon die Erträge und Gewinne nach oben fließen. Die derzeitigen Probleme der Menschen lassen sich nur lösen, wenn das mörderische islamische Regime verschwindet. Dass dies militärisch von außen möglich ist, ohne katastrophale Folgen hervorzurufen, können nach den Erfahrungen im Irak und Afghanistan nur Kriegsfanatiker oder Ahnungslose behaupten. Die Möglichkeit einer Demokratisierung »von innen« durch langsame, reformistische Veränderungen können seit der Aufstandswelle 2017/2018 nicht einmal die Reformer selbst glaubhaft vermitteln.
Es ist einfach, fast schon trivial: Die Menschen im Iran müssen die Mullahs zum Teufel jagen. Wie realistisch das ist, ist von außen derzeit nicht absehbar. Doch das gilt auch für die »grüne Bewegung« 2009, den »arabischen Frühling« 2011 und die Aufstandswelle 2017/2018. Was gerade zu vernehmen ist, ist ein Brodeln im Iran, das nicht vom Politikum des Atomabkommens ausgeht, sondern von sozialen und politischen Kämpfen im ganzen Land.
Hamid Mohseni ist deutsch-iranischer Aktivist und freier Journalist in Berlin. Seit der iranischen Protestwelle 2009 ist er in verschiedenen Solidaritätsnetzwerken aktiv.