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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 639 / 19.6.2018

Todesstrafe mit Klassencharakter

International In Argentinien verbindet sich der Kampf für die Legalisierung von Abtreibungen mit sozialen Forderungen

Von Lilly Schön

Das Zentrum von Buenos Aires war am 13. und 14. Juni vollständig in grün getaucht: Um die Abstimmung in der Abgeordnetenkammer über ein Gesetz, das Abtreibungen bis zur 14. Woche ohne Einschränkungen legalisieren würde, zu begleiten, hatten die Demonstrierenden ihre grünen Halstücher mitgebracht - das Symbol für diesen Kampf. Mit Erfolg: Die Abgeordneten machten Mitte Juni den Weg für eine Legalisierung von Abtreibungen frei. Nach einer fast 23-stündigen Debatte stimmte eine knappe Mehrheit von vier Stimmen für den Gesetzesentwurf. Nun muss der Senat der Reform noch zustimmen - möglicherweise eine größere Hürde, denn hier spielen die Interessen der konservativen Provinzen eine wichtige Rolle.

Die Forderungen der Demonstrierenden lauteten im Einzelnen: »Sexualerziehung, um zu entscheiden, Verhütungsmittel; um nicht abzutreiben; legale Abtreibung, um nicht zu sterben«. Schätzungen gehen von bis zu einer Million Teilnehmer_innen aus, hinzu kommen Aktionen im ganzen Land, Besetzungen in Schulen und Fakultäten und vereinzelte Streiks.

Zuvor war der Gesetzesentwurf sechs Mal vergeblich im Parlament eingebracht worden. Die Urheberin der Vorlage, die Kampagne für das Recht auf legale, sichere und kostenlose Abtreibung (hier kurz: Kampagne) ist ein Bündnis von über 300 Organisationen und Einzelpersonen. Erst wenige Tage vor dem diesjährigen internationalen Frauenkampftag hatte der neoliberale Präsident Mauricio Macri angekündigt, die Debatte im Nationalkongress, der argentinischen Legislative, endlich zuzulassen. Ein riesiger Erfolg, der ohne den Druck einer starken Frauenbewegung nicht denkbar gewesen wäre. So die Einschätzung von Myriam Bregman, ehemalige Abgeordnete der Front der Linken und Arbeiter_innen und Abgeordnete im Stadtparlament von Buenos Aires.

Derzeit ist in Argentinien ein Schwangerschaftsabbruch nur nach einer Vergewaltigung oder bei Gefahr für das Leben der Schwangeren erlaubt. Trotzdem finden laut Schätzungen des Gesundheitsministeriums jährlich bis zu 522.000 heimliche Abtreibungen statt. Allein im Jahr 2016 starben mindestens 43 Frauen an den Folgen eines unsicheren Abbruchs. Diejenigen, die sterben, sind Arme und Arbeiterinnen, sie können sich keine teuren Privatkliniken leisten. Dies wurde auch bei den Anhörungen betont, die bis Ende Mai im Kongress stattfanden und bei denen sich 738 Aktivist_innen, Politiker_innen und Personen des öffentlichen Lebens in je gleicher Zahl für und gegen die Legalisierung von Abtreibungen aussprachen. Dieses Verhältnis spiegelt indes nicht die öffentliche Meinung wider: Umfragen zeigen, dass eine Mehrheit den legalen Schwangerschaftsabbruch unterstützt. Myriam Bregman hob am letzten Tag der Anhörungen in ihrer Rede hervor: »Die Androhung von Strafe hindert Frauen nicht daran, eine ungewollte Schwangerschaft abzubrechen. Sie wirkt aber wie eine Todesstrafe, die einen Klassencharakter hat.« Das Argument, dass es nicht darum gehe, ob Abtreibungen stattfinden, sondern ob Frauen dabei sterben, war eines der zentralen Argumente der Befürworter_innen.

Der Staat ist verantwortlich für die Gewalt an Frauen

Die heutige Situation hat eine Vorgeschichte. »In Argentinien gibt es eine sehr dauerhafte Frauenbewegung, auch wenn sie zahlenmäßig natürlich schwankt«, erklärt Andrea D'Atri, Aktivistin der sozialistischen Frauenorganisation Pan y Rosas (deutsch: Brot und Rosen). Und das Mitglied der Partei Sozialistischer Arbeiter_innen fährt fort: »Seit über 30 Jahren treffen wir uns bei Nationalen Frauentreffen, bei dem auch vor 13 Jahren die Kampagne gegründet wurde.« In den letzten Jahren seien bis zu 70.000 Frauen dazugekommen. »Das gibt uns eine gewisse Kontinuität«, so D'Atri. Diese Vorbereitungsarbeit habe sich dann seit 2015 mit den Massenmobilisierungen und der Empörung über Fälle von Feminiziden, die medial skandalisiert wurden, verbunden. Am 3. Juni 2015 gingen mehr als 300.000 Menschen allein in der Hauptstadt für »Ni Una Menos« (deutsch: Nicht Eine Weniger) auf die Straßen. Diese Mobilisierung, die seither jährlich stattfindet, vereinte ein breites Spektrum. Die radikale Linke ist ebenso dabei wie Konservative, die Polizei und die katholische Kirche. »Diese Mobilisierung hatte noch keine Gegner_innen. Alle sind dagegen, dass Frauen ermordet werden. In dieser Situation hat die Linke versucht, auf die staatliche Verantwortung für die Gewalt an Frauen hinzuweisen«, erinnert sich Andrea D'Atri.

Die Situation änderte sich mit der Wahl von Mauricio Macri Ende 2015, die mitten in einer wirtschaftlichen Krise stattfand. Die Bewegung wurde zahlenmäßig zunächst etwas kleiner, dafür aber politischer. Die Regierung wurde in die Verantwortung genommen. Die Kürzungen von Mitteln für Programme, die Hilfestellungen für Betroffene von Gewalt leisten sollen, werden seitdem deutlich angeprangert. 2017 mündete dies im Motto »Basta de femicidios, el gobierno es responsable« (deutsch: Schluss mit Feminiziden, die Regierung ist verantwortlich). Außerdem gesellte sich eine neue Dimension zur Frauenbewegung: Am 8. März 2017 fand der erste koordinierte internationale Frauenstreik statt.

Ein wichtiges Element in der Debatte um die staatliche Verantwortung für Gewalt ist die Frage der Abtreibungsverbote. Candelaria Botto, Aktivistin beim Kollektiv Economía femini(s)ta, erinnert sich: »Als ich 2015 mit meinem Schild heimliche Abtreibungen, Feminizide des Staates auf die Demo ging, erntete ich noch irritierte Blicke. Heute wird die Forderung nach der Legalisierung von Abtreibung breit geteilt.« Und es zeigte sich, wie anschlussfähig das Motto für weitere Forderungen ist. »Ohne legale Abtreibung gibt es kein Ni Una Menos«, wird nun gerufen. Die mehreren Hunderttausend Demonstrant_innen tauchten zur diesjährigen Mobilisierung von »Ni Una Menos« am 4. Juni Buenos Aires und viele anderen Städte in das Grün der Kampagne.

Zum Druck, den die Frauenbewegung in den letzten Jahren entwickeln konnte, kam eine weitere Komponente hinzu. Die Regierung steckt spätestens seit Dezember 2017, als es bei Protesten gegen Rentenkürzungen zu massiven Ausschreitungen kam, in einer Krise. Es finden immer mehr Entlassungen im öffentlichen Sektor statt, die auf organisierten Widerstand stoßen. Inflation und Kostenerhöhungen bei Strom und Gas treffen besonders Arbeiter_innen und arme Schichten. In diesem Kontext kann die Entscheidung Macris, die Debatte zuzulassen, auch als Versuch gedeutet werden, die Frauenbewegung als eine der stärksten sozialen Bewegungen der argentinischen Gesellschaft davon abzuhalten, zur Vorreiterin des Widerstands gegen die Kürzungsprogramme zu werden. Außerdem sollen so die Widersprüche der kirchneristischen Opposition, die jahrelang in der Regierung nicht am Abtreibungsverbot gerüttelt hatte, ausgenutzt werden, so Andrea D'Atri.

Macris Plan scheint nicht aufzugehen

Ein Manöver, das selbst voller Widersprüche steckt. Denn gerade die Basis des Macrismus besteht zu einem großen Teil aus konservativen und katholischen Kreisen, die keinerlei Interesse an einer Liberalisierung der Abtreibungsgesetzgebung haben. Das Gewicht der katholischen Kirche wird bei den Gegner_innen der Legalisierung sichtbar. Sie führen bei den Anhörungen vor allem religiöse Gründe für ihre Ablehnung an. Gerade außerhalb der Metropolregion Buenos Aires, in den Provinzen, ist der Rückhalt der Kirche noch stark. Auch wenn ihre - weitaus kleineren - Demonstrationen viel Spott dafür ernten, dass sie beispielsweise einen riesigen Fötus aus Pappmaché durch die Straßen tragen, so werden sie doch sichtbar. Der Druck der Kirche ist enorm, einige Abgeordnete erhielten sogar Morddrohungen.

Fürs Erste scheint Macris Plan nicht aufgegangen zu sein. Denn auch weiterhin verbindet sich der Kampf für eine Legalisierung der Abtreibung mit sozialen Forderungen. So führten am diesjährigen 8. März Arbeiterinnen, die sich gegen Entlassungen wehren, gemeinsam mit der Kampagne die Demonstration an. Und die Demonstration am 4. Juni stand unter dem Motto »Vivas, libres y desendeudadas nos queremos« (deutsch: Wir wollen uns lebend, frei und ohne Schulden). Damit wird der Widerstand gegen die Wiederaufnahme von Verhandlungen mit dem Internationalen Währungsfonds ausgedrückt, der bei breiten Bevölkerungsschichten verhasst ist.

Die offenen Versammlungen zur Vorbereitung der Demonstrationen werden auch immer wieder zu Orten, die sich mit konkreten Arbeitskämpfen solidarisieren und an denen Arbeiterinnen von ihren Auseinandersetzungen berichten. Katy Balaguer, Anführerin eines Kampfes gegen Entlassungen beim multinationalen Konzern PepsiCo, drückte es bei einer dieser Versammlungen so aus: »Die gleichen Frauen, die unter den schlimmsten Konsequenzen heimlicher Abtreibungen leiden, sind diejenigen, die am stärksten die Politik zu spüren bekommen, die Macri und die Gouverneure auf den Schultern der arbeitenden Bevölkerung machen.« Und auch bei ihrem Kampf zeigt sich die Stärke des Slogans: Mit »Ni Una Menos ohne Arbeit« verteidigen die Arbeiterinnen ihre Arbeitsplätze.

Die organisierten Teile der Frauenbewegung beteiligen sich an diesen Versammlungen und an der Formulierung von Forderungen - und damit an der Bildung einer Opposition gegen die Regierung. Abgeschwächt spiegelt sich das in der gesamten Bewegung wider. »Die Hunderttausenden Frauen und Männer, die sich an den Demonstrationen beteiligen, sprechen sich nicht direkt gegen Macri aus, aber durch ihre Forderungen stellen sie klar die Regierung in Frage«, sagt Andrea D'Atri. Und Candelaria Botto betont, dass gerade das Thema Abtreibung sehr junge Frauen bewegt. »Es politisiert bereits 13- bis 14-Jährige, die sich gemeinsam mit ihren Klassenkamerad_innen an den Demonstrationen beteiligen.« Auch bei den sogenannten Pañuelazos vor dem Kongress, die die Anhörungen der letzten Wochen begleiteten und bei denen alle gemeinsam ihre grünen Halstücher in die Höhe strecken, sind sie dabei.

Schon jetzt ist den Aktivistinnen in Argentinien klar: Sie schreiben gerade Geschichte. Und wenn im Senat abgestimmt wird, wird erneut das ganze Land grün gefärbt werden.

Lilly Schön ist feministische Ökonomin und beschäftigt sich mit der argentinischen Frauenbewegung.