»Das Erlebte geschieht noch immer, lebt noch immer fort«
Geschichte Simha Rotem-Rathajzer ist der letzte noch lebende Kämpfer der Jüdischen Kampforganisation, die den Aufstand im Warschauer Ghetto organisierte. Seine Autobiografie bewahrt das Gedächtnis an die Ermordeten
Von Jakob Duffesbach
Die Bilder lassen sich einfach nicht aus dem Kopf verbannen - auch mehr als sieben Jahrzehnte danach ist die Szenerie für Simha Rotem-Rathajzer so präsent wie damals. Bis auf die Knochen abgemagerte, erschöpfte, schmutzige und nach Fäkalien stinkende Gestalten stemmten sich in den frühen Morgenstunden des 10. Mai 1943 einer nach dem anderen aus einem Gullyloch in der Ulica Prózna, der Prosta-Straße in Warschau, und huschten in einen Umzugslastwagen, zur Eile angetrieben von Rotem, der die Flucht der Kämpfer aus dem Warschauer Ghetto durch die Kanalisation organisiert hatte.
Gedeckt wurde die Aktion, wie Rotem betont, von jüdischen, aber »arisch« aussehenden Widerstandskämpfern, die den Bürgersteig wie zufällige Passanten bevölkerten. Knapp hundert Meter weiter befanden sich die Wachposten des »Kleinen Ghetto«, das noch immer lodernd brannte.
Quälende Erinnerungen, jahrzehntelanges Schweigen
Erst später wurde klar, dass ein Teil der jüdischen Kämpfer_innen nicht zeitig genug aus den Seitenarmen der Entwässerungsrohre den Fluchtpunkt erreicht hatte. Sie wurden zurückgelassen und später beim Versuch, aus dem Kanal zu fliehen, in der Ulica Prózna von Mitgliedern der SS und deren Hilfstruppen erschossen. »Es ist schwer zu sagen, was die anderen dort unten zurückgehalten hat. Die Wahrheit ist mit ihnen verloren gegangen, als sie umkamen«, schreibt Simha Rotem in seinen autobiografischen Aufzeichnungen »Erinnerungen eines Ghettokämpfers«. Mehr als einmal fällt der Mann mit dem nom de guerre »Kazik« Entscheidungen, die sowohl Überleben als auch Tod zur Folge haben. Die Toten lassen sich nicht vergessen.
»Die Warschauer Zeit ist bis zum heutigen Tag ein untrennbarer Teil von mir geblieben. Er ist der Dreh- und Angelpunkt, um den meine kleine Welt sich bewegt. Das Erlebte geschieht noch immer, lebt noch immer fort«. Das Warschauer Ghetto und der Kampf dort auf Leben und Tod haben »Kazik« geprägt und seit der Befreiung Polens durch sowjetische Truppen begleitet - tagsüber in seinen Gedanken und Reflexionen, aber auch nachts in seinen Träumen. Quälend seien die Erinnerungen, schreibt er - und das Überleben: »Ich hatte das Gefühl, schuldig zu sein, weil ich noch am Leben war.« Dabei hing sein Leben mehr als einmal an einem seidenen Faden - ein Zufall oder eine schicksalhafte Fügung?
Jahrzehnte schwieg er über das Erlebte. Nicht zuletzt auch, weil er immer wieder nach seiner Auswanderung von Polen ins damalige Palästina mit einer Frage konfrontiert wurde: »Wie hast du überlebt?« Der Ghettokämpfer »Kazik«, der sich nach seiner »Alija nach Erez Israel« in Simha (hebräisch: Freude) Rotem umbenannte, vermied es, von seiner Vergangenheit vor der Staatsgründung Israels zu erzählen und zog es vor, nicht darüber zu sprechen, wo er den Zweiten Weltkrieg erlebt hatte. Er verstummte.
Erst vier Jahrzehnte nach dem gescheiterten Aufstand im Warschauer Ghetto gab der heute 94-Jährige dem Drängen vieler Freund_innen und Weggefährt_innen nach und schrieb seine Erinnerungen auf. »Ich erzähle nur das, woran ich mich erinnere, ohne Abstand und ohne Rücksicht auf meinen Ruf oder meine Spuren in der Geschichte«, formuliert er im Vorwort. Der Hamburger Verlag Assoziation A hat im Dezember 2017 das Buch neu aufgelegt.
»Kazik« ist inzwischen der letzte Überlebende der ZOB - ein hochrangiger »Augenzeuge«, der über die Judenverfolgung im besetzten Polen durch die deutschen Besatzer, aber auch von Teilen der antisemitisch gestimmten polnischen Bevölkerung berichtet - und vom schier aussichtslosen Kampf von Teilen der jungen Ghettobewohner_innen, die sich wehren wollten. »Wir wussten, dass das Ende für alle gleich sein würde. Die Idee für den Aufstand kam aus unserer Entschlossenheit. Wir wollten die Art unseres Todes selbst wählen. Das ist alles«, sagt er.
»Kazik« wurde 1924 als Szymon Rathajzer in Czerniaków geboren. In der Vorstadt von Warschau lebten vor allem »nichtjüdische Fabrikarbeiter«. Czerniaków, schreibt die polnische Journalistin Agnieszka Hreczuk, »war eine Legende. Ein Arbeiterviertel an der Weichsel, relativ arm, stark kriminell, aber mit einem einmaligen und eigenartigen Charakter. Es herrschten dort ein eigener Ehrenkodex und sogar ein eigener Dialekt. Und vor allem gab es dort nur wenige Juden.« Rotem: »Ich war eben ein wahrer Ur-Czerniakówer.«
Seine Familie war religiös, eine »große Sippschaft«, wie er betont. Sein Vater war Inhaber eines Geschäfts für Baumaterialien und Kurzwaren. Gleichzeitig war er Vorbeter in seiner chassidischen Gemeinde. Im Elternhaus wurde polnisch, aber auch jiddisch gesprochen. Obwohl sein Großvater Kantor und Gemeindevorsteher einer orthodoxen Gemeinde war, lehnte dieser die ultrafrommen Chassiden ab.
Aufwachsen im Warschauer Arbeiterviertel
Der junge Szymon besuchte den Cheder, den religiösen Unterricht. Nach einem Streit mit dem chassidischen Lehrer ergriff er schon mal die Flucht zu seinen Straßenkumpels - seine Spielkameraden waren die nichtjüdischen Arbeitersöhne aus dem Viertel, deren Slang er übernahm. Das sollte ihm später mehrmals das Leben retten.
Trotzdem ließ er sich mit 13 Jahren zu seiner Bar Mizwa, der Feier seiner Religionsmündigkeit, die typische schwarze Kleidung der Chassiden schneidern. Szymon wurde Mitglied der zionistischen Jugendbewegung Hanoar Hatzioni und besuchte die jüdische Fachoberschule.
Als die Deutschen Polen überfielen, war Rotem 15 Jahre alt. Drei Tage vor der Kapitulation Warschaus zerstörte eine Bombe an Jom Kippur, dem Versöhnungsfest und höchsten jüdischen Feiertag, das Haus seiner Eltern. Seine Großeltern, Tante und Onkel und sein Bruder Izrael wurden getötet. Er selbst konnte sich schwer verletzt - ein Holzsplitter steckte in seiner Luftröhre - aus den Trümmern befreien. Nach der Genesung kümmerte er sich um die Versorgung der verbliebenen Familienmitglieder mit Lebensmittel.
»Schon zu diesem Zeitpunkt, bei den Fahrten in die Dörfer, gab ich mich als nichtjüdischer Pole aus. Ich war ein 15-jähriger Junge und sah aus wie ein richtiger Goj«, schreibt er in seinen Erinnerungen. Aufgrund seiner hellen Haare ordneten Fremde ihn meist nicht als Juden ein, sodass er als Kurier für die Hanoar Hatzioni fungieren konnte, während er zugleich im 1940 errichteten Warschauer Ghetto lebte.
Ehemalige Kontakte zu nichtjüdischen Pol_innen und sein Äußeres halfen ihm, Unterstützung von einem Teil der polnischen Widerstandsbewegung für die Ghettobewohner_innen zu organisieren. Rathajzer lernte Icchak Cukierman kennen, der ihn zu seinem Adjutanten und Helfer machte und zum Hauptverbindungsmann zwischen ZOB und der sogenannten Heimatarmee, der Armia Krajowa, sowie der kommunistischen Volksarmee Armia Ludowa.
Kampf im Ghetto gegen die Deportierung
Nach und nach pferchten die Nazis im Ghetto mehr als eine halbe Million Menschen zusammen: Leichtgläubige, die hofften, es werden schon nicht so schlimm werden, Gottvertrauende, die ihr Schicksal in die Hände HaSchems (1) legten, Feiglinge, die sich einrichteten und versuchten zu überleben sowie Kollaborateure, wie sich Szymon Rathajzer erinnert. Als Anfang 1943 die Abtransporte der Ghettobewohner_innen in die Vernichtungslager begannen, entschloss sich die Jüdische Kampforganisation zum Aufstand.
Längst trug Rathajzer seinem Kampfnamen »Kazik«, einer Abwandlung von Kazimir, die sich sowohl mit »Friedensbringer« als auch »Unruhestifter« übersetzen lässt, Rechnung. Mit seiner Gruppe, die sich in einem sogenannten Bunker im Ghetto verschanzt hat, erpresst er von jüdischen Wohlhabenden Geld, um davon Waffen vom bürgerlichen polnischen Widerstand zu kaufen. Sie überfallen Reviere der jüdischen Ghettopolizei, um Gesinnungsgenoss_innen zu befreien, und liquidieren Verräter. »Von allem, was wir taten, fielen mir die Säuberungen am schwersten. Aber sie waren unvermeidlich.«
Der Kampf im Ghetto gegen die Deportierung ist Legende. Weniger bekannt ist dagegen, dass die überlebenden Ghettokämpfer_innen der Jüdischen Kampforganisation auch am Warschauer Aufstand teilgenommen haben. Dass sie beim Kampf für die Befreiung Polens von der Nazi-Besetzung nicht nur von den Deutschen verfolgt wurden, sondern auch durch Denunziationen von Seiten polnischer Antisemiten bedroht waren, ist in Polen ein nur ungern gehörtes Thema.
In Polen wollte Szymon Rathajzer nach der Befreiung des Landes durch die Sowjetarmee ebenso wie ein Großteil der überlebenden Mitglieder der Jüdischen Kampforganisation nicht mehr bleiben. Sie halfen den aus den Lagern befreiten Juden und Jüdinnen bei der damals illegalen Einwanderung nach Palästina.
Nahezu unbekannt ist, dass »Kazik« 1946 als Mitglied der Nakam, einem jüdischen Rachekommando, in der Bäckerei eines Kriegsgefangenenlagers für SS-Angehörige in Dachau arbeitete - mit dem Ziel, die Gefangenen mit Arsen zu vergiften. Der Plan, der in einem anderen Lager in Nürnberg zuvor teilweise geglückt war, misslang. »Sie hätten die Todesstrafe verdient gehabt. Viele von ihnen lebten ruhig bis an Ende ihres Lebens - während so viele Juden oder Polen von ihnen umgebracht worden waren«, befand er noch Jahre danach. Simha Rotem alias »Kazik« lebt heute in der Altstadt von Jerusalem.
Jakob Duffesbach ist Journalist und lebt in Berlin.
Simha Rotem: Kazik. Erinnerungen eines Ghettokämpfers. Assoziation A, Berlin 2017. 204 Seiten, 18 EUR.
Anmerkung:
1) Hebräisches Synonym für Gott. Orthodoxe Juden und Jüdinnen benutzen nicht den Namen Gott.