Die Renaissance der Lager
Lagersystem Die Ankerzentren setzen eine deutsche Tradition der Ausgrenzung fort und rufen deren Ursprünge direkt wieder auf
Von Stephan Dünnwald
Das 20. Jahrhundert ist vielfach auch als das »Jahrhundert der Lager« bezeichnet worden. Diesseits von den nationalsozialistischen Konzentrations- und Vernichtungslagern und stalinistischen Gulags lenkt dies den Blick auf gegenwärtige Lager. Gerade in Bayern kommen derzeit Zweifel auf, ob das Lager als Instrument der Ausgrenzung, der Isolation und zwangsweisen Vergemeinschaftung ausgedient hat. Während andere Bundesländer zögern, hat Bayern zügig die sogenannten Ankerzentren eingeführt, ein Landesamt für Rückführungen soll die Abschiebung aus diesen Lagern heraus beschleunigen.
In der deutschen Geschichte hatten Lager immer die Funktion, Menschen auszusondern und sie auf eine Rolle als »Fremdkörper« zu reduzieren. Dabei hilft das Lager, die Abgrenzung von der üblichen Wohnbevölkerung, diese Fremdheit und auch Bedrohlichkeit der Insassen erst herzustellen.
Mit Blick auf die Konzentrationslager Nazi-Deutschlands wird oft gewarnt vor der leichtfertigen Verwendung des Begriffs. Doch Lager gab es schon vor dem Nationalsozialismus, und es gibt sie auch danach. Wolfgang Wippermann hat schon 2015 deutlich auf Parallelen zwischen der Einrichtung von Abschiebelagern in der Weimarer Republik und den bayerischen Lagern für Flüchtlinge aus den Balkanstaaten hingewiesen. (1) Parallelen, die sich nicht darin erschöpfen, dass das bayerische Lager für osteuropäische Juden und das Ankunfts- und Rückführungszentrum Manching/Ingolstadt ebenfalls in Ingolstadt errichtet worden ist - Manching ist jetzt der Sitz des Bayerischen Landesamts für Abschiebung und größtes Ankerzentrum Bayerns.
Schon in den 1920er Jahren wurden, erst von der bayerischen Regierung, dann auch unter preußischen Innenministern, die ersten Konzentrationslager in Deutschland errichtet. Sie dienten der Aussonderung von Juden aus Osteuropa. Ein erstarkender Antisemitismus schürte Ängste vor der jüdischen Einwanderung, die Lager dienten dazu, die Einwanderer abzuschieben. Anlässlich der Schließung des preußischen »Konzentrationslagers in Cottbus-Sielow« machte der SPD-Innenminister Carl Severing eine Feststellung zum Zweck der Einrichtung, die erschreckend aktuell klingt: Das Lager habe »zur Aufnahme jener Ausländer [ge-]dient, die abgeschoben werden sollen, aber aus mehreren Gründen nicht abgeschoben werden können«. (2)
Tatsächlich gibt es, betrachtet man die Lager, ihre Strukturen, die zu ihrem Unterhalt notwendigen Bürokratien, das durch sie geschaffene Verhältnis von Innen und Außen, einige Parallelen in der deutschen, auch der bundesdeutschen Geschichte. So waren es vor allem die oft auf Firmengelände errichteten Baracken für NS-Zwangsarbeiter, die in den 1950er Jahren als erste Unterkünfte für angeworbene Arbeitsmigrant_innen aus Südeuropa genutzt wurden.
Kontinuität einer Unterbringungsform
Die verstärkte Zuwanderung von Geflüchteten, Anfang der 1990er Jahre ebenso wie im Sommer 2015, wurde in der Bundesrepublik als Problem wahrgenommen, auf das mit der forcierten Unterbringung von Asylsuchenden in provisorischen Unterkünften, Baracken und Containerlagern reagiert wurde. Durch Brandanschläge auf diese Unterkünfte und ihre Bewohner_innen bekamen in den 1990er Jahren aber auch die daran geknüpften politischen Debatten um eine Einschränkung des Asylrechts, die Unterkünfte oder Lager eine Schlüsselrolle in der Diskussion um Asylrecht und Asylpolitik, führten sie doch den Bewohner_innen der Bundesrepublik lokal und weithin sichtbar die Präsenz von Geflüchteten vor Augen.
Tatsächlich waren die Unterkünfte für Asylsuchende Anfang der 1990er Jahre keine neue Einrichtung. Die Lagerunterbringung von Asylsuchenden ist nur die vorläufig letzte Phase einer Tradition, Migrant_innen bevorzugt in Lagern oder lagerähnlichen Wohnformen einzuquartieren. Viele Zwangsarbeiterlager des Nationalsozialismus wurden Unterkünfte für Vertriebene und Flüchtlinge, auf sie folgten oft Wohnungslose, »Gastarbeiter«, und schließlich wieder Flüchtlinge.
Ein wesentlicher Wandel fand in den 1970er Jahren statt. Bedingt auch durch den Anwerbestopp von »Gastarbeitern« 1973, holten zahlreiche Arbeitsmigrant_innen ihre Familien nach und verließen die Gastarbeiterlager. Dieser Prozess wurde sozialpädagogisch unterstützt und begleitet. Mit der Anwesenheit von Kindern mussten erste Schritte einer Integration der Migrant_innen in die westdeutsche Gesellschaft getan werden, die Geburtsstunde der »Ausländerpädagogik«. Der Zuzug von migrantischen Familien in die Städte war auch ein Auszug aus den Arbeitslagern. Etwa zur gleichen Zeit begann die Diskussion um Flüchtlinge und ihre Unterbringung in Sammellagern. In den frühen 1980er Jahren wurde der Begriff Sammellager fallengelassen zugunsten des euphemistischeren Wortes Gemeinschaftsunterkunft. Zugleich wurde die systematische Unterbringung von Asylsuchenden in diesen Unterkünften vorgeschrieben.
Zwischen Provisorium und Abschreckung
Die Unterbringung von Arbeitsmigrant_innen in den 1950er und 1960er Jahren sowie die Unterbringung von Asylsuchenden in den 1990ern oder ab 2014 war eine jeweils zu Anfang höchst provisorische Angelegenheit. In beiden Fällen spielt die Notwendigkeit der schnellen Unterbringung einer großen Zahl von Einwanderer_innen eine Rolle. Für die Unterbringungsweise und vor allem die Kontinuität der Lagerunterbringung ist dies ein wichtiger, aber letztlich nicht ausschlaggebender Faktor. Standen die Unterkünfte für »Gastarbeiter« noch vor allem unter dem (privatwirtschaftlichen) Verdikt, dass die Lager vor allem günstig und nah am Arbeitsplatz gelegen sein sollten, so verkehrt sich dies bei der Unterbringung von Geflüchteten ins Gegenteil.
Auch in den 1990er Jahren und mit steigenden Flüchtlingszahlen seit 2014 folgte die Unterbringung oft der Notwendigkeit, Flüchtlingen ein Dach über dem Kopf zu verschaffen und sie zu versorgen. Zugleich aber ist die Unterbringung in Sammellagern eine Maßnahme der Ausgrenzung. Für Flüchtlinge werden, eine Erfindung der 1990er Jahre, besondere, abgesenkte Leistungen festgeschrieben. Es wird, obwohl dies nachweislich teurer und schlechter ist, eine Versorgung vorrangig mit Sachleistungen verordnet. Geflüchtete unterliegen einer Residenzpflicht: Sie dürfen in der ersten Zeit die Grenzen der Stadt oder des Landkreises, in dem sie untergebracht sind, nicht überschreiten. Sie unterliegen Arbeitsverboten. All diese Maßnahmen und ihre Kontrolle setzen die Unterbringung in großen Sammellagern voraus. Während seit den 1990er Jahren viele dieser bewusst als Ausgrenzung praktizierten Maßnahmen wieder aufgehoben wurden, erleben wir gerade eine Renaissance der Repressalien: die bayerischen Anker-Zentren führen viele der Maßnahmen wieder ein, die sich in den vergangenen Jahren als integrationsfeindlich und schädlich erwiesen hatten.
Orbansche Verhältnisse
Die bayerische Landesregierung hat zum 1. August 2018 alle Erstaufnahmeeinrichtungen in sogenannte Ankerzentren umgewandelt. Die Innenminister Seehofer und Herrmann stellen dies als notwendige Entwicklung dar: Die Präsenz verschiedener Behörden soll für schnellere und effizientere Verfahren sorgen. Das wurde von den Medien auch so aufgenommen und nur selten hinterfragt. Ob man im Zeitalter der Digitalisierung Beschleunigung herstellt, wenn die Behörden ihre Büros nebeneinander haben, ist nur eine der Fragen, die sich hier stellen. Zudem haben die meisten sogenannten Ankerzentren eine Reihe von Zweigstellen, an denen die Behörden mitnichten vor Ort sind. So ist zum Beispiel die gesamte Erstaufnahme München eine Zweigstelle des Ankerzentrums Manching, mitsamt ihren Dependancen in Waldkraiburg, in Fürstenfeldbruck und sogar in der Abrams Kaserne in Garmisch. Alles vor Ort?
Ausgrenzung statt Integration: Das vorrangige Ziel der Ankerzentren ist die Ausgrenzung. Schon früh hat die CSU in Bayern erkannt, dass die Hilfs- und Integrationsbereitschaft der Bevölkerung in Bayern groß ist, und dass sie dem Ziel der Abschreckung zuwiderläuft. Die Ankerzentren sollen so vor allem eins: Die vielfältige und starke Unterstützung für Flüchtlinge in Bayern austrocknen. Sehr richtig hat der damalige CSU-Generalsekretär Andreas Scheuer den Satz geprägt, das »Schlimmste« sei »ein fußballspielender, ministrierender Senegalese, der über drei Jahre da ist, weil den wirst Du nie wieder abschieben.« So hat Bayern schon 2015 die Ankunfts- und Rückführungszentren (ARE) in Manching und Bamberg aufgebaut, die jetzt als Modell der Ankerzentren dienen. Im Januar 2016 hat Bayerns damalige Sozialministerin Emilia Müller die Richtung vorgegeben, nach der die dezentrale Unterbringung zugunsten großer, staatlich kontrollierter Lager zurückgefahren werden soll.
Abschottung statt Unterstützung: In diesen großen Lagern, die jetzt als Ankerzentren propagiert werden, sollen Ehrenamtliche nicht Fuß fassen können. Allein die abschreckende Gestaltung der Lager und das abweisende Personal der Sicherheitsfirmen verhindern, dass sich Ehrenamtliche finden, die sich in diese Lager hineintrauen. Andere, auch Beratungsangebote, dürfen nur vor den Toren der Ankerzentren Kontakt zu Flüchtlingen suchen. In den Lagern, so das Konzept, soll alles unter der Regie von Behörden stattfinden. Verfahrensberatung im Ankerzentrum soll künftig durch Angestellte des Bundesamtes, nicht durch Dritte, stattfinden. Unabhängige Beratung, wie sie die Wohlfahrtsverbände anbieten, wird dadurch überflüssig und hinausgedrängt. Systematisch wird Flüchtlingen der ihnen zustehende Barbetrag gekürzt oder gestrichen. So bekommen Flüchtlinge in den Anker-Zentren Bamberg oder Donauwörth Fahrkarten für den Nahverkehr, dafür wird ihnen der Barbetrag gekürzt. Die Geflüchteten werden kein Geld haben, um in den nächsten Städten eine gute anwaltliche Vertretung zu finden. Stattdessen gibt es im Ankerzentrum eine Rechtsantragstelle, da kann ein Flüchtling selbst seine Klage einreichen. Hilflos und schutzlos sind die Insass_innen in den Ankerzentren ausschließlich mit Behörden und Behördeninteressen konfrontiert. Der Rechtsstaat ist in diesen Lagern nur noch Fassade. Es ist nicht schwer vorherzusagen, dass unter diesen Bedingungen die Anerkennungsquoten drastisch in den Keller fallen werden.
Unter Ausschluss der Öffentlichkeit: schon bislang bieten die Behörden den interessierten Medien Sammeltermine an, an denen Journalist_innen unter Behördenbegleitung durch die Lager geführt werden. Unbeaufsichtigt mit Flüchtlingen sprechen ist da nicht möglich. Stattdessen bekommen die Medien von Ausländerbehörde und Bundesamt zu hören, wie gut alles organisiert ist. Schnelle Verfahren, schnelle Entscheidungen, schnelle Konsequenzen: Wer will dagegen schon etwas sagen? Betrachtet man die Einzelfälle, sieht die Sache anders aus. Die Insass_innen leiden unter der Unsicherheit, unter allnächtlichen Abschiebungen durch große Polizeiaufgebote, unter den Schikanen und der fehlenden Privatsphäre.
Ankerzentren sind der Versuch, mitten in Deutschland Orbansche Verhältnisse einzuführen: Internierungslager, in denen die Geflüchteten dem Behördenwillen und den Behördeninteressen unterworfen sind, ohne dass Zivilgesellschaft und Öffentlichkeit Unterstützung leisten können. Aus diesen Ankerzentren soll es einen Königsweg geben, der herausführt: die Rückkehr oder Rückführung. Anerkennung, Integration und Unterstützung sind in diesen Zentren nicht vorgesehen - 1920 reloaded?
Stephan Dünnwald ist Mitarbeiter des Bayrischen Flüchtlingsrates.
Anmerkungen:
1) Wolfgang Wippermann, Zeitgeschichte 1920 - Wie gehabt, in: Der Freitag, 33/2015
2) ebd.