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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 640 / 21.8.2018

Aufgeblättert

Maoismus nach 1968

Ein halbes Jahrhundert nach 1968 häufen sich die Nekrologe der einstigen Akteur_innen. Diese Erfahrung machte der frühere Funktionär der maoistischen Kommunistischen Partei Deutschlands/Aufbauorganisation (KPD/AO) und spätere Professor für deutsch-jüdische Geschichte Willi Jasper. Als er für sein Buch bei einstigen Weggefährt_innen »authentische Beispiele der erzählenden und reflektierenden Erinnerung an den kulturrevolutionären Neuanfang in Deutschland« sammeln wollte, wurden aus Interviewterminen oft Beileidsgespräche. Möglich, dass sein Buch auch deshalb nicht so recht zu überzeugen vermag. Denn von den Ideen und Hoffnungen der damaligen Akteur_innen erfahren die Leser_innen in erster Linie etwas vermittelt über andere autobiografische Zeugnisse. Unklar bleibt, warum der Autor nicht mehr über seine eigenen Erlebnisse und Empfindungen erzählt. Spannend wäre es allemal gewesen: Willi Jasper wurde als Kader zum Parteiaufbau ins Ruhrgebiet delegiert, schüttelte während einer Chinareise dem kambodschanischen Diktator Pol Pot die Hand. Insbesondere beim Besuch Schanghais und der Ölfelder in Datjing wurde sein Bild vom real existierenden chinesischen Kommunismus erschüttert. Die maoistische Ideologie wurde brüchig - bis die K-Gruppe sich 1980 selbst auflöste. Im Gegensatz zu vielen seiner Ex-Genoss_innen hat Jasper die Wandlung zum konservativ-antikommunistischen Publizisten indes nicht mitgemacht.

Guido Speckmann

Willi Jasper: Der gläserne Sarg. Erinnerungen an 1968 und die deutsche »Kulturrevolution«. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 256 Seiten, 24 EUR.

1968 als Zäsur

Beginnend mit ihrer Kindheit in den 1950er Jahren bis in die 1990er berichtet Ulrike Heider in ihrer Autobiografie von ihrem bewegten Leben. Anschaulich zeichnet sie dabei das jeweilige gesellschaftliche Klima dieser Zeit zwischen Frankfurt und New York. Ihre Erinnerungen thematisieren die rigide Sexualmoral und das Leben in der Post-NS-Gesellschaft ebenso wie das befreiende Moment der 68er-Bewegung. Diese lebensverändernde Zäsur bot für sie die Chance, aus der Zwangsgemeinschaft der Familie und dem bundesdeutschen Konservatismus zu entfliehen. Plastisch beschreibt sie schließlich ihre anschließenden Erfahrungen in der Hausbesetzerszene und ihre Forschungen zum Anarchismus, die sie schließlich nach New York treiben. Neben ihrer eigenen Biographie skizziert sie die Geschichte der Neuen Linken kenntnisreich und mit Sympathie, ohne dabei in Idealisierungen zu verfallen. Vielmehr kritisiert sie dogmatische politische Strömungen, charismatische Führer und Entpolitisierungstendenzen in der Linken. Sei es das Verlieren im Experimentieren mit neuen Lebensformen in der Alternativbewegung oder die »zwangskollektivistische Konformität« in K-Gruppen, die antiautoritäre Momente durch Disziplinierung ersetzten, aber auch der Privatismus, die Gefühligkeit und den Weiblichkeitskult von Teilen der Frauenbewegung. Ein Glossar mit wichtigen Persönlichkeiten und Organisationen rundet dieses anregende Buch ab.

Moritz Strickert

Ulrike Heider: Keine Ruhe nach dem Sturm. Bertz+Fischer Verlag, Berlin 2018. 308 Seiten,18 EUR.

Arbeiter in Russland

»Dadurch, dass sich die Arbeiter an der Selbstverwaltung in den einzelnen Unternehmen beteiligen, bereiten sie sich auf jene Zeit vor, wenn das Privateigentum an Fabriken und Werken abgeschafft sein wird und die Produktionsmittel zusammen mit den Gebäuden, die auch von Arbeiterhand geschaffen wurden, in die Hände der Arbeiterklasse übergehen.« So steht es in einem Protokoll der Fabrikkomitees der Putilow-Werke in Petersburg, dem späteren Leningrad. Die Beschäftigten des Maschinenbaukonzerns spielten 1917 eine wichtige Rolle beim Sturz des Zaren und in der Zeit der Doppelherrschaft. Dass ein Teil dieser wichtigen Zeugnisse der Selbstorganisation der Arbeiter_innen jetzt erstmals auf Deutsch vorliegt, ist der Hamburger Russischlehrerin und Publizistin Anita Friedetzky zu verdanken. Ihre Übersetzung gibt Einblicke in eine Zeit, als die Arbeiter_innen Geschichte schrieben. Der Berliner Verlag Die Buchmacherei, der sich mit der Veröffentlichung von vergessenen Dokumenten der Arbeiterbewegung Verdienste erworben hat, hat die Protokolle herausgegeben und mit einen ausführlichen Glossar versehen. Der Schweizer Rätekommunist Rainer Thomann liefert einen ausführlichen Einstieg in die Geschichte der Industrialisierung und der Arbeiterbewegung in Russland. So kommen zum 100. Revolutionsjubiläum auch die russischen Lohnabhängigen zu Wort, die die Revolution gemacht haben und dann, wie so oft in der Geschichte, wieder in Vergessenheit geraten sind.

Peter Nowak

Anita Friedetzky und Rainer Thomann: Aufstieg und Fall der Arbeitermacht in Russland. Die Buchmacherei, Berlin 2018. 682 Seiten, 24 EUR.

Karl Marx

Beiträge zu Karl Marx stehen in seinem 200. Geburtsjahr hoch im Kurs. »MRX Maschine«, das Buchdebüt von Luise Meier ist anders. Schon der Titel öffnet programmatisch einen Raum zwischen Marx und Murx. Von dieser Leerstelle aus entfaltet sich ein wild wucherndes, ebenso belesenes wie anti-akademisches kritisches Denken, dessen erklärtes Ziel es ist, »Fehlerquelle« zu sein. Die Berliner Autorin durchkreuzt das Marxsche Begriffsarsenal, die Geschichte des Kapitalismus und seiner uneingelösten revolutionären Brüche »wie die Holzdiebin den Wald« und verschraubt sie mit Problemen der Gegenwart wie Big Data, dem »unternehmerischen Subjekt«, Postkolonialismus und Rechtspopulismus. Anleihen u.a. bei Silvia Federici, Cedric Robinson, Harun Farocki schärfen und zersplittern zugleich die Marxsche Analyse, indem sie Aufmerksamkeit auf die strategischen Spaltungen lenken, die das Proletariat und seine »Prol-Mutationen« teilen, zueinander in Gegnerschaft setzen und so Herrschaft internalisieren und sichern. Eine Revolutionstheorie bleibt »MRX Maschine« schuldig. Dafür dockt sie an die lebendigen Energien der Subjekte an. Angst, Wut, Einsamkeit, Scham werden als Symptome der langen kapitalistischen Gegenwart lesbar - und gewendet zur Lust, ebenjene »abzufucken«. Das Buch ist ein wichtiger und lustvoll zu lesender Beitrag zur Suchbewegung nach einem theoretisch fundierten, kommunistischen Begehren gegen die aktuelle autoritäre Formierung der Gesellschaft.

Michael Beron

Luise Meier: MRX Maschine. Reihe Fröhliche Wissenschaft Band 127. Matthes & Seitz, Berlin 2018. 208 Seiten, 14 EUR.