»Ihr müsst dafür nicht nach Berlin kommen«
Aktion Liza Pflaum über Proteste gegen die unterlassene Hilfeleistung für Geflüchtete und die Kriminalisierung von Seenotretter_innen
Interview: Claudia Krieg
Das Mittelmeer ist seit über 20 Jahren ein Massengrab. Die Forderungen nach sicheren Fluchtwegen und offenen Grenzen scheinen zu verhallen. Die Situation der privaten Seenotrettungsorganisationen, die in den vergangenen Jahren alle Kräfte aufboten, Menschen zu retten, denen die europäischen Regierungen ihre Rechte verweigern, hat sich dramatisch verschärft. Seit etwas sechs Wochen gibt es den Verein Seebrücke. Dieser ruft dazu auf, sich mit der Forderung nach sicheren Häfen und für offene Grenzen dem rechten Erdrutsch entgegen zu stellen.
Liza, du bist Mitbegründerin der Seebrücke. Die Situation auf dem Mittelmeer ist nicht neu, seit vielen Jahren fordern Initiativen legale Fluchtwege im Sinne von »Fähren statt Frontex«, und auch die Seenotrettungsorganisationen operieren seit Jahren am Limit von Kapazitäten und Mitteln. Was war der entscheidende Impuls, solche eine Idee, eine Aktion wie »Seebrücke - schafft sichere Häfen« jetzt erst zu starten?
Liza Pflaum: Ausgangspunkt war die Situation des Rettungsschiffs der Dresdner Organisation Mission Lifeline, das Mitte Juni, mit über 230 aus Seenot Geretteten an Bord, gehindert wurde, in einen Hafen einzulaufen. Wir haben uns in einer kleinen Gruppe gefragt: was können wir dieser Unglaublichkeit entgegensetzen? Ich denke, der Grad der Kriminalisierung war noch nie so groß wie jetzt. Die Festsetzung der Juventa von »Jugend rettet« hat zwar bereits vor einem Jahr stattgefunden. Aber mittlerweile sind fast alle Schiffe festgesetzt, derzeit befindet sich kein einziges Schiff im zentralen Mittelmeer im Rettungseinsatz. Das ist jetzt bei mehr Leuten angekommen, die vielleicht schon vorher wussten, aber es jetzt auch laut sagen: Wenn die Seenotrettung ausfällt, dann gibt es noch viel, viel mehr Tote. Im Juni hatten wir den tödlichsten Monat seit der Zählung der Toten im Mittelmeer.
Hast du damit gerechnet, dass sich dem Protest und den Aktionen so schnell viele Menschen anschließen?
Ich bemerkte auf jeden Fall eine deutliche Spannung in der Gesellschaft, eine Stimmung von vielen Einzelnen, die den andauernden Schock und die Passivität überwinden wollten, die die politische Entwicklung bei ihnen ausgelöst hat. Ich denke, die dahinter liegende Empörung hat zu der schnellen und großen Beteiligung geführt.
Empörung als zentrales Moment oder doch ein Begriff vom Rassismus, dessen Stärke sich aktuell gesellschaftlich und politisch weiter manifestiert?
Vielleicht andersherum: Der Moment der Empörung wurde genutzt, um Stimmen hörbar zu machen, die lange nicht zu hören waren. Stimmen von Menschen, die eine diverse und offene Gesellschaft wollen, die sichere Fluchtwege fordern und sich gegen Hetze und Entmenschlichung im öffentlichen Diskurs wenden - weg von Abschiebung und Abschottung, hin zu Bewegungsfreiheit für alle Menschen. Die rassistische Mobilisierung, die seit 2015 an Kraft gewonnen hat, war so laut, wir haben es seitdem nicht mehr geschafft, in die Offensive zu kommen.
Lässt sich die Empörung mit einem politisch-rechtlichen Verständnis der Kriminalisierung und ihrer Folgen verbinden?
Die Seebrücke vertritt humanitäre Anliegen und versucht gleichzeitig, deutlich zu machen: Wir brauchen eine politische Veränderung! Es reicht nicht, zu fordern, dass Menschen nicht sterben sollen. Wir wollen außerdem auch, dass die Menschen hier ankommen. Das heißt, wir versuchen auf der lokalen Ebene, politisch etwas gegenüber den Entwicklungen auf der Bundesebene durchzusetzen.
Was heißt das konkret?
Es gab bereits verschiedene Gespräche und nun die Bereitschaft einzelner Städte, Menschen aufzunehmen. Da ist die Aussage des Berliner Bürgermeisters, der angesichts der Situation der Lifeline gesagt hat, er würde Menschen aufnehmen. Viele Städte haben sich bereits solidarisch gezeigt - darunter Bonn, Köln, Potsdam und Düsseldorf. Es gibt die Charta von Palermo des Bürgermeisters Leoluca Orlando. Das sind konkrete Versuche. Wir wollen erreichen, dass es davon mehr gibt. Wir stellen Forderungen an Bürgermeisterinnen und Bürgermeister, auch in kleinen Orten. Alle können das tun. Darum geht es.
Fokussierung auf die lokale Ebene als eine Art Strategie?
Ja, und diese Strategie ist auch eine der großen Stärken der Seebrücke. Es war so konzipiert, Leute anzusprechen mit: »Macht was vor Ort! Ihr müsst dafür nicht nach Berlin kommen, fangt in euren Dörfern, Städten, Gemeinden an, macht sichtbar, dass es Menschen gibt, die etwas anderes wollen, als weiter zuzusehen. Bringt eure Forderungen auf die Straße.« Und es hat funktioniert, es schreiben uns Leute, die sich vorher noch nie engagiert haben, fragen: »Wie melde ich eine Demo an?« Und wir können Tips geben, aber bleiben auch dabei zu sagen: Macht es selber. Es geht um Agency und Empowerment, und ich glaube, es gibt mehr Menschen, die verstehen: »Wenn ich selbst nichts mache, dann verändert sich meine Gesellschaft, in der ich leben möchte, auch nicht. Und Hass, Rassismus und Ausgrenzung werden stärker und stärker.«
Es ist leichter, sich in größeren Städten als Teil einer Bewegung wahrzunehmen, die kommunalpolitischen Strukturen in weniger urbanen Gegenden gelten oft als kaum partizipativ oder durchschaubar. Wie groß ist das Gefälle zwischen größeren Städten und kleineren Orten wirklich?
Zu den größeren Städten: Gewiss laufen manche Prozesse schneller ab, oder sagen wir, sie können schneller ablaufen. In Berlin wird der politische Druck jetzt größer werden, in Frankfurt wird bereits verhandelt. Aber mein Eindruck ist, dass es in kleineren Orten eine ganz andere Intensität gibt. Es gibt die Idee zum jetzigen Zeitpunkt etwa sechs Wochen, und ich denke, der erste Schritt war zu zeigen: Es gibt uns. Ganz sicher ist es etwas vollkommen anderes, in Berlin aktivistisch zu sein als in einem Dorf, in dem du das Gefühl hast, du bist vielleicht der einzige Mensch, der so denkt. Aber es gibt eine beeindruckende Zahl von kleineren Orten, von Twistringen bei Bremen bis Backnang am Bodensee, Bad Langensalza in Thüringen.
Welche Rückmeldungen gibt es von den Rettungsorganisationen an euch?
Es gibt eine Art Erleichterung über die politische Unterstützung, weil sie es zusätzlich zu ihrer Arbeit kaum schaffen, auch noch politische Öffentlichkeit zu erzeugen. Wir stehen in engen Absprachen.
Wie ist das Verhältnis bei der Seebrücke zwischen Akteuren und Initiativen, zum Beispiel selbstorganisierten Geflüchteten, Menschen, die schon seit Jahren gegen das Grenzregime und für Bewegungsfreiheit streiten, Einzelpersonen?
Die Kampagne ist anders aufgebaut als zum Beispiel das Netzwerk We'll come united, das es seit etwa zwei Jahren gibt. Hier geht es vor allem um lokale Kämpfe von Geflüchteten und darum, diese sichtbar zu machen und auf die Straße zu bringen. Die Seebrücke mobilisiert eher Menschen, die sich mit diesen Kämpfen solidarisch zeigen.
Braucht es, um das länger durchzuhalten, nicht die Unterstützung von großen politischen Organisationen?
Wir arbeiten ohne Lobbyorganisationen und ohne Parteien, das war unser Anliegen. Nach zwei Wochen dachte ich zwar, das bricht zusammen, das schaffen wir nicht. Es organisieren sich aber immer mehr Menschen. Es braucht eine gewisse Koordination. Nun hat uns die Bewegungsstiftung vor wenigen Tagen und sehr schnell zwei halbe Stellen ermöglicht, von denen eine schon besetzt ist, und das ist sehr gut, um eine dauerhafte Arbeit zu stemmen. Wie es weitergeht, auch über den Winter, müssen wir sehen. Im Frühling stehen Europawahlen an, wir müssen kämpfen, dass hier nicht einfach die Seenotrettung abgeschafft wird und dann ein Gewöhnungseffekt an die sterbenden Menschen einsetzt. Wir müssen es am Laufen halten, das ist die Herausforderung. Die Aquarius war das letzte Schiff, das im zentralen Mittelmeer auf Rettungseinsatz war. Wie es jetzt weiter geht, ist noch unklar. Wenn es keine zivile Seenotrettung mehr gibt, gibt es keine Schiffe mehr, die Menschen retten, die in Seenot geraten sind, und auch niemanden mehr, der beobachtet und Menschenrechtsverletzungen aufzeigt.
Die Häfen, die angelaufen werden können, befinden sich auf Malta und in Italien, die beide schon erklärt haben, dass sie keine Schiffe einlaufen lassen, dann in Spanien, vielleicht Frankreich. Wie soll es denn faktisch gehen, bis die Menschen hier in deutschen Orten Aufnahme finden?
Das ist eine gute Frage. Kein Rettungsschiff kann langfristig ausschließlich von Spanien aus operieren. Die Open Arms kann sich das gerade noch leisten, aber für die anderen sind Aufwand, Mehrplanung und Kosten viel zu groß, die Einsätze wären vollkommen begrenzt, und so viel mehr Menschen würden weiterhin sterben. Die Forderung muss an die europäischen Länder gehen, die sich hier verweigern, und gleichzeitig kann vielleicht auch hier auf der lokalen Ebene mehr versucht werden. Vielleicht gelingt es Menschen in Italien, sich dem politischen Druck zu widersetzen, vielleicht gelingt es, eine andere europäische Politikebene zu entwickeln.
Es gibt Stimmen, die sagen, hier manifestiert sich die erste wirkliche Bewegung gegen den Rechtsruck. Würdest du dem zustimmen?
Das hoffe ich auf jeden Fall. Ich würde sagen, die Seite, die eine offene Gesellschaft will, kommt damit überhaupt erst einmal wieder in eine Diskursposition, eine Position, in der auch Forderungen gestellt werden können. Die letzten Jahre waren geprägt von Abwehrkämpfen, und vielleicht kommt jetzt die Position eines solidarischen Europas zu einer Stimme, die Position von Menschen, die keine Abschottung wollen. Aber was die Seebrücke macht, ist nichts Neues! Seit Jahrzehnten kämpfen Menschen für eine Gesellschaft ohne Rassismus, und vor allem kämpfen Migrantinnen und Geflüchtete seit Jahrzehnten für ihre eigenen Rechte, für ihre Sichtbarkeit und für eine gleiche Teilhabe an der Gesellschaft. In Zukunft wird sich zeigen, ob wir das gemeinsam fortführen können. Die Parade von We'll come united am 29. September in Hamburg könnte ein Anfang sein.
Eine Übersicht von Gruppen, die im Namen von Seebrücke Aktionen veranstalten, gibt es unter seebruecke.org/events.