Titelseite ak
ak Newsletter
ak bei Diaspora *
ak bei facebookak bei Facebook
Twitter Logoak bei Twitter
Linksnet.de
Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 641 / 18.9.2018

Lebensrettung ist Menschenrecht

International Humanitäres Engagement im Mittelmeer wird kriminalisiert. Julian Pahlke über den »Fall« Iuventa

Interview: Renate Clauss

Julian Pahlke ist Vorstandsmitglied von Jugend Rettet e.V. Seit Oktober 2016 war er bei Rettungsmissionen auf der Iuventa mit an Bord. Er berichtet über den Alltag auf dem Rettungsschiff und die aktuellen Ermittlungen der italienischen Justiz.

Wie und wann ist eure Organisation entstanden? Welche persönlichen Erfahrungen, welche politischen Vorstellungen haben euch dazu bewogen, den Verein Jugend Rettet e.V. zu gründen?

Julian Pahlke: Als Ende 2015 die Bilder eines gekenterten Holzbootes mit etwa 800 Toten um die Welt gingen, konnten wir nicht mehr nur zuschauen. Es passte einfach nicht zu unserem Weltbild, dass man Menschen auf der Flucht vor Not und Elend ausgerechnet an Europas Außengrenze ertrinken lässt. Wir haben unglaublich viel Unterstützung bekommen von Prominenten, von Privatleuten, Firmen. Das war ganz großartig. Und nach nur sechs Monaten konnten wir unser eigenes Schiff auf die erste Rettungsmission schicken.

Mit welchen konkreten Problemen bei den Rettungseinsätzen hattet ihr bei euren ersten Missionen zu kämpfen?

Bevor man als Organisation das eigene Schiff auf die erste Mission schickt, macht man sich natürlich viele Gedanken. Wir haben uns mit den Organisationen ausgetauscht, die bereits vor Ort sind. Trotzdem haben uns die Unberechenbarkeit der Situation und die libysche Küstenwache damals schon sehr beschäftigt. Am ersten Einsatztag konnten wir gleich vielen Hundert Menschen, die in direkter Lebensgefahrwaren, helfen. Das war großartig. Wir haben zu Beginn des Projekts gedacht: Wenn wir nur einen Menschen retten, hat sich das alles schon gelohnt.

Was hat sich im Laufe des Jahres, in dem die Iuventa Menschen gerettet hat, verändert - z.B. die Herkunft der Geflüchteten, die Ausstattung der Boote, mit denen sie geflüchtet sind, die Dinge, die die Geflüchteten bei sich hatten?

Es ist schwer, da einen Trend auszumachen. Wir dachten schon an einigen Punkten: Krasser kann das nicht werden. Doch, es wurde noch heftiger: mehr Menschen auf völlig untauglichen Booten, Tote unter lebenden Menschen oder viel zu viele Boote auf einmal. Die Boote, mit denen die Menschen flüchten, waren schon zu Beginn unserer Arbeit von unglaublich schlechter Qualität. Ob die schlechter werden, ließe sich wahrscheinlich nur über einen Zeitraum von mehreren Jahren sagen. Da wir keine Daten über die Herkunft der Menschen, die wir retten, an Bord erheben, können wir die Frage nach der Herkunft zumindest für die von der Iuventa Geretteten nicht beantworten.

Habt ihr in eurem Rettungsalltag auf dem Mittelmeer die Berichterstattung der Medien in Deutschland bzw. Europa mitbekommen? Was hat sie bei euch ausgelöst?

Natürlich verfolgen wir die Berichterstattung sehr genau. Da zeichnen sich seltsame Trends ab. Plötzlich sind wir, die eigentlich nur Lückenfüller für eine verfehlte EU-Politik sind, die neuen Feinde. Wir sind plötzlich schuld am Rechtsruck, an Straftaten, die durch Menschen mit Migrationshintergrund begangen werden. Wir stehen da seit langem in einem ganz eigenartigen Fokus, der eine krasse Verschiebung der Werte zeigt - zumindest in einigen Redaktionen. Selbst Politikerinnen und Politiker beschuldigen uns, Straftaten begangen zu haben. Das ist absurd. Und es macht uns unglaublich wütend. Anstatt sich um staatliche Seenotrettung zu bemühen, kritisieren sie die, die ihre Freizeit und Mühe für die Versäumnisse der Politik in Europa aufbringen.

Wie seid ihr mit den Belastungen umgegangen, die euch bei euren Missionen begleitet haben?

Damit geht jeder anders um. Unsere Crews wurden und werden noch heute von Psychotherapeutinnen und Psychotherapeuten betreut, die ihnen helfen, das Erlebte zu verarbeiten. Das sind teilweise traumatische Erfahrungen: Wir mussten Tote bergen, haben Menschen ertrinken sehen oder mussten etwa 1.000 Menschen zurücklassen, weil wir aufgrund des Wetters nicht mehr helfen konnten. Das nagt sehr an einem. Aber es hilft auch, sich klarzumachen, dass wir mehr als 14.000 Menschen aus akuter Lebensgefahr helfen konnten.

Dabei wart ihr »nur« ein gutes Jahr auf dem Mittelmeer unterwegs. Welches war dein schlimmstes und welches dein schönstes Erlebnis im Zusammenhang mit den Rettungsmissionen?

Das schlimmste war sicherlich, als vor meinen Augen Menschen ertrunken sind. Es waren mehr als 150 Personen im Wasser, weil auf einem völlig überfüllten Holzboot mit 750 Menschen an Bord Panik ausbrach. Wir konnten trotz extrem gutem Personal und sehr überlegtem Vorgehen nicht alle retten. Das wird mich persönlich noch ein Leben lang beschäftigen. Das schönste für mich war, als wir nach 56 Stunden Rettung völlig übermüdet ein Schlauchboot mit 150 Menschen in sehr rauer See geborgen haben. Wir haben das Schlauchboot längsseits genommen, und die Menschen sind nach über 30 Stunden an Bord des völlig seeuntüchtigen Bootes voller Panik auf die Iuventa gestürmt. Viele brachen einfach entkräftet zusammen. Und in dieser Hektik kniete sich dann sich ein Mann hin, bekreuzigte sich und betete Richtung Himmel. Direkt neben ihm kniete sich ein zweiter auf den Boden, faltete die Hände und betete zu Allah. Da bekommt man Gänsehaut. Das war wunderschön.

Seit dem 2. August 2017 ist die Iuventa in Italien festgesetzt und darf nicht mehr auslaufen. Wie ist die Beschlagnahme vonstattengegangen?

Wir wurden erst mit zwei Geretteten in Richtung Lampedusa beordert. Wir wollten die zwei Personen an andere Schiffe übergeben, weil sich im Seegebiet andere Schiffe in Seenot befanden und unser Schiff dringend gebraucht wurde. Aber die Seenotleitung MRCC (1) bestand darauf, dass wir nach Lampedusa kommen. Heute wissen wir, warum. Auf Lampedusa wurden wir von ungewöhnlich viel Polizei erwartet, die das Schiff zunächst durchsucht und dann einige Stunden später beschlagnahmt hat. Zu dem Zeitpunkt war die gesamte italienische Presse aber schon informiert, ehe wir wussten, was eigentlich geschehen ist. Daran konnte man schon erkennen: Hier geht es nicht um rechtstaatliche Mittel, sondern um eine klare politische Kampagne gegen Retterinnen und Retter.

Welche Vorwürfe haben die italienischen Behörden euch gemacht? Wie werden die Vorwürfe begründet?

Der Hauptvorwurf lautet: Beihilfe zur illegalen Einreise. Das ist natürlich völliger Quatsch, weil wir immer auf Anweisung der staatlichen Seenotleitung in Rom gehandelt haben. Für die Beschlagnahme werden einige Bilder als Beweise herangezogen, die bewusst aus dem Kontext gerissen sind. Da sollen wir ein Holzboot nach Libyen zurückgeschleppt haben. Wir können aber belegen, dass wir es lediglich 500 Meter nach Norden geschleppt haben, um mehr Platz für weitere Rettungen zu haben. Die Beweise wurden vor allem von einem eingeschleusten Ermittler auf einem anderen Rettungsschiff gesammelt. Der allerdings hat direkte Verbindungen zur Identitären Bewegung. Da ist schon von vorneherein klar, in welche Richtung die Beweise hier gehen.

Von wem kommen die Informationen, die zu den Vorwürfen geführt haben? Ich stelle es mir schwierig vor, auf dem Mittelmeer belastbare Beweise für mögliche Anklagepunkte zu sammeln.

Der Ermittler auf dem Schiff einer anderen Organisation hat einen Großteil der Beweise gesammelt. Ebenso wurde aber im Mai 2017 auch bei einem früheren Besuch in Lampedusa die Brücke unseres Schiffes verwanzt. Wir wurden dadurch abgehört. Alle Beweise sind derart konstruiert und bewusst falsch gedeutet, dass man sich schon fragt, wie dehnbar für manche der Begriff des Rechtsstaats ist.

Die Verfahren in Italien sind im ersten Schritt abgeschlossen. Die Iuventa bleibt beschlagnahmt. Zunächst wurden die Menschen, die an den Rettungsmissionen teilgenommen haben, freigesprochen. Jetzt rollt die nächste - politische - Anklagewelle auf euch zu. Welche Aktivitäten plant ihr gegen die Kriminalisierung von Menschenrecht und internationalem Seerecht?

Zurzeit sind zehn unserer Crewmitglieder Gegenstand eines Ermittlungsverfahrens. Dagegen gehen wir natürlich weiterhin anwaltlich vor, so gut das zum jetzigen Zeitpunkt möglich ist. Parallel bereiten wir eine Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte vor, um unsere Iuventa wiederzubekommen. Die Beschlagnahme wird natürlich auch von einigen Gestalten in der Politik für ihre jeweiligen Zwecke genutzt. Das ist einfach nur unanständig. Die Energie, die manche da reinstecken, wäre bei anderen Themen deutlich besser aufgehoben. Zum Beispiel, wie man uns ersetzen könnte, ohne dabei die Menschenrechte zu missachten.

Welche persönlichen und politischen Folgen hatte die Festsetzung des Rettungsschiffes auf Lampedusa für den Verein und für eure weitere politische Arbeit?

Natürlich war das für uns ein Riesenschock. Wir hätten niemals damit gerechnet, dass unsere Arbeit so sehr kriminalisiert werden könnte. Wir sind weiterhin sehr aktiv. Nun eben an Land, um über das zu berichten, was auf See passiert und was uns widerfahren ist. Wir bemühen uns aber auch, wieder aktiv auf See im Einsatz sein zu können. Die Situation für Menschen auf der Flucht hat sich ja kein bisschen gebessert.

Ihr seid nicht die einzige Hilfsorganisation, die mit der Kriminalisierung der privat engagierten Crewmitglieder von Rettungsschiffen zu rechnen haben. Gibt es untereinander Diskussionen über Konzepte, wie einheitlich gegen die Kriminalisierung und persönlichen Anklagen umgegangen werden könnte? Gibt es Abstimmungen zu Einsprüchen bzw. weiteren Verfahren im europäischen Zusammenhang?

Natürlich. Viele NGOs arbeiten untereinander sehr eng zusammen. Solidarität ist auch sehr nötig. Wo auch immer es Schnittpunkte gibt, ob nun bei Verfahren oder anderen Aktivitäten, tauschen wir uns natürlich aus.

Welche Pläne habt ihr als Organisation für die Zukunft, praktisch und politisch?

Wir haben genaue Vorstellungen davon, wie wir weitermachen wollen: Leben retten, solange die Europäischen Staaten das nicht tun. Aber auch politisch haben wir klare Forderungen, wie die eben angesprochene staatliche Seenotrettung, ein Ende der Unterstützung für die militante libysche Küstenwache, ein Ende der Kriminalisierung und der humane Umgang mit Menschen auf der Flucht. Wir als Europäer haben da einiges an Verantwortung ausgeblendet. Da muss viel nachgeholt werden, wenn die Europäische Union den Friedensnobelpreis behalten will.

Zum Schluss noch eine persönliche Frage: Was wirst du weiter machen? Und wie haben sich die Erlebnisse und Ereignisse auf deine Zukunftspläne ausgewirkt?

Die Seenotrettung, Menschenrechte und auch die Arbeit gegen Rassismus prägen heute unser aller Alltag. Und ich bin mir sicher, dass uns das Thema noch lange begleiten wird, sei es als freiwillige Arbeit oder im Beruf. Wer einmal die Situation der Menschen gesehen hat, kann sich nur schwer davon freimachen.

Renate Clauss interviewte für ak 617 Axel Bernfeld von der Bonner Stadtteilinitiative Viva Viktoria!

Anmerkung:

1) Das MRCC (Maritim Rescue Coordination Centre) ist die staatliche Leitstelle für Seenotrettung mit Sitz in Rom, die an die im Mittelmeer anwesenden Schiffe (auch an die NGOs) Meldungen über Standorte von Booten in Seenot weitergibt.

Links:

Dokumentarfilm:

www.3sat.de/page/?source=/film/dokumentarfilm/197570/index.html

Ein italienischer Journalist hat die Iuventa und die Crew über einen längeren Zeitraum begleitet. Der Film wurde beim Filmfestival in Bologna ausgezeichnet. Er wird in vielen deutschen Städten in Programmkinos in Anwesenheit von Crewmitgliedern oder sogenannten Botschaftern gezeigt.

Website von Jugend Rettet:jugendrettet.org/de/

Link zum Spendenaufruf:jugendrettet.org/de/#donate

Jugend Rettet und die Iuventa

November 2015 Jugend Rettet e.V. wird von zehn Student_innen gegründet und ins Vereinsregister eingetragen. 340 Menschen sind Teil von Jugend Rettet.

Juni 2016 Das Geld für ein Schiff und dessen Umbau wird von mehr als 2.000 Menschen per Crowdfunding gespendet.

Juli 2016 Die Iuventa, der umgebaute Trawler von Jugend Rettet, beginnt die Rettungsmission im Mittelmeer.

August 2017 Bei den 15 Rettungsmissionen von jeweils zwei Wochen werden mehr als 14.000 Menschen aus Seenot gerettet.

2017 Allein im Jahr 2017 kommen 2.835 Menschen im Mittelmeer ums Leben. (Diese Zahl nennt nur die Gefundenen, die Dunkelziffer ist höher.)

2.8.2017 Die Iuventa wird in Lampedusa von den italienischen Behörden beschlagnahmt.

24.4.2018 Das oberste Gericht in Rom weist die Aufhebung des Beschlusses zur Beschlagnahmung der Iuventa ab. Bis heute wird gegen die Crew bzw. die Mitglieder von Jugend Rettet ermittelt, jedoch bisher noch keine Anklage erhoben. Der Verein prüft gemeinsam mit anderen NGOs, die in einer ähnlichen Lage sind, eine Klage am Europäischen Gerichtshof einzureichen.