Rassistische Behördenkette
Deutschland Erst diskriminiert, dann angezeigt - Betroffene, die sich dagegen wehren wollen, werden von Polizei und Gerichten kriminalisiert
Von Katharina Schoenes
Zoe M. steigt im April 2016 als einzige Schwarze Person in einen Bus der Berliner Verkehrsbetriebe und zeigt wie alle anderen Fahrgäste am Eingang ihr Ticket vor. Die Busfahrerin winkt nur sie heran, nimmt ihr den Fahrschein aus der Hand und behauptet, dass dieser abgelaufen sei. Zoe M. ist zwar der Meinung, dass ihr Ticket noch gültig ist, bietet aber sofort an, ein neues zu kaufen. Als sie einen Geldschein hervorholt, beleidigt die Busfahrerin sie rassistisch und fordert sie auf, den Bus zu verlassen. Den übrigen Fahrgästen teilt sie über das Busmikrofon mit, sie werde erst weiterfahren, wenn Zoe M. ausgestiegen sei. Zoe M. fühlt sich gedemütigt und der Öffentlichkeit preisgegeben.
Tarek A. hat einen Bekannten, der in einem Berliner Club arbeitet. Im Sommer und Herbst 2015 besucht er diesen mehrfach unter der Woche bei seiner Arbeit. Wenn am Wochenende bereits viele weiße Besucher_innen im Club sind, wird er jedoch wiederholt an der Tür abgewiesen. Der Türsteher teilt ihm dann mit, er würde nicht zur Klientel passen. An einem Abend im Oktober 2015 kommt es deswegen zum Streit. Nach einer verbalen Auseinandersetzung wird Tarek A. ins Gesicht geschlagen.
James S. zeigt im Herbst 2015 bei einer Fahrkartenkontrolle in der Berliner S-Bahn seinen gültigen Fahrausweis und seinen Berlin-Pass vor. Da die Kontrolleur_innen eines privaten Sicherheitsdienstes der Meinung sind, dass James S. das Gültigkeitsdatum seines Berlin-Passes gefälscht hat, fordern sie ihn auf, sich auszuweisen. James S. schlägt vor, seinen Ausweis in der nahegelegenen Polizeistation am Hauptbahnhof zu zeigen. Auf dem Weg dorthin unterstellt ihm eine Sicherheitsdienstmitarbeiterin die Absicht zu fliehen und versperrt ihm den Weg. Als James S. versucht, trotzdem in Richtung der Polizeistation weiterzugehen, wird er von zwei weiteren Sicherheitsleuten überwältigt, auf den Boden gedrückt und verletzt. Vor Angst und Schmerzen schreit er laut. Seine kleinen Kinder stehen weinend daneben. Später wird er ins Krankenhaus gebracht, noch heute leidet er unter den Folgen der Verletzungen.
In allen drei Szenen geht es um Fälle von Rassismus, wie sie in Deutschland Normalität sind. In zweien entwickelt sich daraus eine rassistisch motivierte Körperverletzung. Zoe M., Tarek A. und James S. wollen gegen das erlittene Unrecht vorgehen und wenden sich an die Polizei, um Anzeige zu erstatten.
Die Polizei ermittelt zu Ungunsten der Betroffenen
Was sie im Anschluss an ihre Diskriminierungserfahrungen bei Polizei und Strafjustiz erleben, gleicht allerdings einem Albtraum: In keinem der Fälle wird gegen die Täter_innen ermittelt. Stattdessen erhalten die Betroffenen selbst Strafbefehle. Hier zeigt sich, was Mely Kiyak vor einigen Monaten treffend in einem ZEIT-Artikel benannte: »Die Prämisse, dass ein vermeintlich oder tatsächlich ausländisches Opfer zunächst immer ein Täter ist, ist ein in Deutschland alltäglicher Ermittlungsansatz.«
Dieses Muster findet sich nicht nur bei bundesweit bekannt gewordenen Skandalen wie dem NSU-Komplex oder der bis heute verweigerten Aufklärung der Ermordung von Oury Jalloh, sondern auch im Alltagsgeschäft der rassistischen Kriminalisierung, das die Justiz auf allen Ebenen betreibt.
Ein Grund liegt in der einseitigen Arbeit der Polizei. Die Beamt_innen schaffen Fakten, die den weiteren Verlauf eines Strafverfahrens maßgeblich beeinflussen, beispielsweise, indem sie es versäumen, Zeugenaussagen ordnungsgemäß zu dokumentieren oder erst gar keine unabhängigen Zeug_innen ansprechen. So im Fall von Zoe M.: Neben der Busfahrerin und den Polizeibeamt_innen kommt im Prozess nur eine unabhängige Zeugin zu Wort, deren Kontaktdaten Zoe M. selbst aufgeschrieben hat. Oder im Prozess gegen Tarek A.: In der Verhandlung wird einer seiner Freunde gehört, der bei der Auseinandersetzung mit dem Türsteher dabei war. Er kann bezeugen, dass Tarek A. von einem Mann ins Gesicht geschlagen wurde. Und er ist sich sicher, dass er nach dem Vorfall zehn Minuten von einer Beamtin auf Englisch befragt wurde. Doch davon findet sich nichts in der Akte. Die Beamtin hat die Aussage folglich nicht dokumentiert.
Polizei und Staatsanwaltschaft schaffen auch Fakten, indem sie sich mit den weißen Täter_innen identifizieren und deren Aussagen für glaubwürdiger halten, selbst wenn die Indizien in eine andere Richtung weisen. Eine wichtige Rolle spielen dabei rassistische Zuschreibungen: Die Vorstellung, dass Schwarze Menschen ohne Ticket fahren, ihren Berlin-Pass fälschen, sich Leistungen »erschleichen« wollen, kriminell und aggressiv seien oder ihre Impulse nicht unter Kontrolle hätten - die Liste der rassistischen Stereotype ließe sich fortsetzen.
Besonders wirksam sind diese Zuschreibungen, wenn die Täter_innen Positionen bekleiden, in denen sie Ordnungsaufgaben übernehmen. Dazu gehören die Busfahrerin, die Zoe M. ohne sachlichen Grund den Zutritt zu ihrem Bus verweigert, der Türsteher, der Tarek A. aus rassistischen Gründen nicht in den Club lässt und die Sicherheitsdienstmitarbeiter_innen, die James S. ohne Grundlage verdächtigen, seinen Berlin-Pass gefälscht zu haben und ihn daraufhin körperlich angreifen. Wenn Personen mit Kontroll- und Ordnungsaufgaben Gewalt und Zwang anwenden, halten Polizei und Justiz das überwiegend für berechtigt.
Im Fall von James S. machen sich die Polizeibeamt_innen sofort die Version der Sicherheitsdienstmitarbeiter_innen zu eigen. Er soll die Kontrolleur_innen körperlich angegriffen haben, außerdem wird ihm die Fälschung seines Berlin-Passes vorgeworfen. An keiner Stelle hinterfragen die Beamt_innen, ob es legitim war, James S. gewaltsam zu Boden zu bringen. Ein Polizist behauptet später in der Verhandlung, James S. habe in der Situation nicht aus Angst und Schmerzen geschrien, sondern weil er Aufmerksamkeit erregen wollte.
Auch im Fall von Zoe M. schenken die Ermittler_innen der Version der weißen Busfahrerin mehr Glauben. Sie werfen Zoe M. vor, sich mit einem ungültigen Ticket Zutritt zu dem Bus verschafft zu haben, obwohl das Ticket nicht mehr auffindbar ist. Als die Busfahrerin Zoe M. darauf ansprach, soll sie diese aggressiv als Rassistin beschimpft haben. Bezeugen kann das allerdings nur die Busfahrerin selbst.
Steine, die nie geworfen wurden
Bei Tarek A. stellen die herbeigerufenen Polizeibeamt_innen Blut an der Wange fest. Trotzdem übernehmen die Ermittler_innen später die Behauptung des Türstehers, dass Tarek A. ihn mit Steinen beworfen habe - obwohl kein Stein am angeblichen Tatort gefunden wurde und auf Videos, die der Türsteher eingereicht hat, ebenfalls kein Steinwurf zu erkennen ist. Im Gegenteil dokumentieren die Videos die rassistische Arbeitsweise des Türstehers: Er sagt darin zu Tarek A. und seinen Freunden, er werde sie nicht in den Club lassen, weil sie »unbekannte Ausländer« seien und kriminell aussähen. Außerdem ist zu hören, wie er sich als »Germane« bezeichnet. Doch das wurde bei den Ermittlungen offenbar nicht weiter berücksichtigt.
Zoe M., Tarek A. und James S. sind jedoch nicht bereit hinzunehmen, dass die Strafjustiz sie zu Täter_innen macht. Alle legen Einspruch gegen ihre Strafbefehle ein, in der Folge kommt es zum Prozess. Trotz der schlechten Ausgangsbedingungen gelingt es in zwei Verfahren, die Geschehnisse aufzuklären und einen Freispruch zu erreichen.
Dass Zoe M. und ihre Verteidigerin es schaffen, die Zeugin wiederfinden, deren Kontaktdaten Zoe M. notiert hat, ist ein Glücksfall: Sie beschreibt Zoe M.s Verhalten als sachlich und kann ihre Version des Geschehens in weiten Teilen bestätigen. Eine wichtige Rolle spielt auch ein Überwachungsvideo, auf dem der Vorfall dokumentiert ist. Die Staatsanwältin sagt in ihrem Plädoyer, auf dem Video sei zu sehen, dass die Angeklagte »bewusst rausgepickt« wurde. Es vermittele den Eindruck, dass die Busfahrerin Zoe M. »einfach nicht im Bus haben wollte«. Der Richter gibt anschließend zu, dass er die Aussage der Busfahrerin ursprünglich für sehr glaubhaft gehalten habe, aber auf dem Video stelle sich die Einstiegssituation ganz anders dar als von der Busfahrerin geschildert.
Freisprüche sind die Ausnahme
Im Prozess gegen Tarek A. verstrickt sich der Hauptbelastungszeuge in Widersprüche, und die geladenen Polizeibeamt_innen können sich kaum an den Vorfall erinnern. Die Richterin stellt in der Urteilsbegründung fest, dass die im Moment des angeblichen Steinwurfs ausgeschaltete Kamera nicht eben für die Glaubwürdigkeit des Türstehers spreche. Dass Zoe M. und Tarek A. freigesprochen werden, stellt allerdings eine Ausnahme dar. In der Mehrheit der Fälle gelingt es selbst mit einer guten anwaltlichen Vertretung und solidarischer Unterstützung nicht, erfolgreich gegen rassistische Kriminalisierung vorzugehen; das belegt eine Vielzahl an Erfahrungsberichten von Betroffenen, Prozessbeobachter_innen, Anwält_innen und Beratungsstellen. Viele Betroffene wissen zudem gar nicht, dass sie sich gegen einen Strafbefehl wehren können - oder sie haben kein soziales Umfeld, das sie zu einem solchen Schritt ermutigt.
Weniger Glück hat James S. Sein Prozess zieht sich überraschend über Monate hin. Neben Mitarbeiter_innen des privaten Sicherheitsdienstes kommen Polizeibeamte, ein Ehepaar aus Bayern, das den Vorfall beobachtet hat, sowie eine Mitarbeiterin eines Berliner Bezirksamts zu Wort. Letztere soll beurteilen, ob der handschriftliche Eintrag im Berlin-Pass von James S. auf eine Fälschung hindeutet. James S. und sein Verteidiger decken durch kritische Nachfragen immer wieder Ungenauigkeiten und Widersprüche in den Aussagen der Belastungszeug_innen auf. Trotzdem wird James S. am Ende der Urkundenfälschung und versuchten Körperverletzung schuldig gesprochen und zu einer Geldstrafe verurteilt. Die Staatsanwältin und der Richter machen mit Gesten, Blicken und abfälligen Bemerkungen schon während des Prozesses deutlich, dass sie ihn für schuldig halten und seiner Darstellung keinen Glauben schenken.
Monatelange Verdächtigungen ohne Entschuldigung
Ein bitterer Beigeschmack bleibt letztlich auch für Zoe M. und Tarek A. Über Monate und Jahre waren sie Verdächtigungen durch die Strafjustiz ausgesetzt. Am Ende gibt es weder eine Entschuldigung noch eine Wiedergutmachung, und das Handeln der Täter_innen bleibt ohne Konsequenzen. Das wirft grundsätzliche Fragen auf: Wer gilt als glaubwürdig, für wen gilt die Unschuldsvermutung? Für wen sind Polizei und Strafjustiz da? Die Erfahrung zeigt: Wer einer marginalisierten Gruppe angehört, kann sich nicht auf die Versprechen des Rechtsstaats verlassen. Doch die systematische Verdächtigung und Verfolgung Unschuldiger aus rassistischen Motiven wird nur selten als Angriff auf demokratische Grundprinzipien wahrgenommen. Das macht deutlich, wie wenig die Gesellschaft aus dem NSU-Komplex gelernt hat.
Katharina Schoenes arbeitet zu institutionellem Rassismus und ist aktiv bei Justizwatch, einer Gruppe, die Rassismus in der Justiz beobachtet, dokumentiert und analysiert.