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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 641 / 18.9.2018

Wovon wir reden, wenn wir von Solidarität reden

Solidarität Bini Adamczak über die schönste Beziehung der Welt

Interview: Jan Ole Arps

Die Zeiten sind finster: Vereinzelung, Konkurrenz, Umweltzerstörung, faschistische Gefahr. Beste Voraussetzungen für das Projekt der Solidarität, meint Bini Adamczak.

Die Gesellschaft rückt nach rechts, faschistische Bewegungen sind im Kommen. Ist die Solidarität in der Krise?

Bini Adamczak: Was sich in der Krise befindet, ist die kapitalistische Demokratie. Die Wurzeln dieser Krise reichen Jahrzehnte zurück. Der Neoliberalismus hat die Fragmentierung der Gesellschaft vertieft. Viele Errungenschaften einer institutionalisierten Solidarität wie Arbeitslosen-, Kranken-, Rentenversicherung, Flächentarifverträge wurden ausgehöhlt. »Du allein kannst es schaffen« lautete die Parole. Die Weltwirtschaftskrise vor zehn Jahren hat gewaltsam in Erinnerung gerufen, dass diese Parole für die Mehrheit nicht stimmt. Auf die Frage nach Wegen aus der Individualisierung gibt es eine rechte und eine linke Antwort. Die rechte Antwort bietet einem Teil der Bevölkerung an, seinen Lebensstandard zu halten auf Kosten von Schwächeren. Was hier angerufen wird, sind Loyalität und Korpsgeist. Die linke Antwort richtet sich an alle, die unterdrückt sind, und geht als universelle noch darüber hinaus. Sie lautet Solidarität.

Wovon reden wir eigentlich, wenn wir von Solidarität reden?

Im Gegensatz zu anderen Kernbegriffen der Emanzipation wie Freiheit oder Gleichheit lässt sich die Solidarität recht schwer greifen. Das liegt daran, dass sie noch deutlicher ein Beziehungsgeschehen ist und sich schwer an einem äußeren Maßstab festmachen lässt (wie »ich bin frei zu tun, was ich will« oder »ich verdiene gleich viel Geld wie du«). Solidarität geschieht zwischen uns. Genau das macht sie so attraktiv: Sie stiftet Verbindungen. Solidarität vermag es, Spaltungen zu überbrücken und Verstreutes zusammenzufügen. Eine solidarische Beziehung schafft tatsächliche Gemeinschaftlichkeit auf Augenhöhe.

Wenn die Solidarität so attraktiv ist, warum ist sie dann so schwach?

Die Fragmentierung des Sozialen ist eine Lebensrealität. Wir erhalten Lohnzettel, Wohnungskündigung, Steuerbescheide, Haftbefehle usw. fast immer individuell. Die Erkenntnis, dass wir hier oft die gleiche Erfahrung machen, wenn auch nicht gemeinsam, sondern vereinzelt, stellt sich nicht automatisch ein, sondern gewissermaßen nachträglich - durch Kommunikation, durch Zusammenkommen.

Apropos Zusammenkommen: Marx ging davon aus, dass der Kapitalismus die Arbeiter konzentriert und ihre Lebensbedingungen tendenziell angleicht, was politische Vereinigung und Solidarität erleichtern würde. Du sagst, dass wir den Kapitalismus heute als großen Individualisierer erleben. Wie kann da Solidarität entstehen?

Heute wird oft zwischen einer alten Solidarität und einer neuen Solidarität unterschieden. Die alte, die Arbeiterinnensolidarität, sei eine der Gleichheit, die neue, etwa antirassistische Solidarität, eine der Differenz. Ich bin mir nicht sicher, ob das stimmt. Es ging bei Solidarität immer darum, Grenzen zu durchbrechen - zwischen Arbeiterinnen verschiedener Gehaltsklassen, Betriebsstätten, Geschlechter und Herkünfte. Schon die Russische Revolution von 1905 brach aus, weil sich Arbeiterinnen verschiedenster Fabriken mit den Streikenden des Putilow-Werkes solidarisierten, und das berühmte Solidaritätslied von Bertolt Brecht fordert, die von der Bourgeoisie gesäte Zwietracht der nationalen Spaltungen zu überwinden. Wenn ich mit anderen, die in der gleichen Situation sind, ein instrumentelles Verhältnis eingehe, um meine individuellen Interessen durchzusetzen, ist das keine Solidarität. Die Solidarität zeigt sich erst gegenüber der Option Streikbruch, wenn ich darauf verzichte, meine individuellen oder familiären Interessen auf Kosten der Mitstreikenden zu realisieren. Solidarität ist unter Bedingungen der Fragmentierung schwieriger, aber zugleich dringlicher und angemessener - sie ist ihr eigentliches Gebiet.

Die Ideologien der Ungleichheit haben eine materielle Basis: die ungleichen Beziehungen, in die der Kapitalismus die Menschen zueinander setzt. Wer in Europa oder den USA lebt, profitiert de facto von den internationalen Ausbeutungsbeziehungen, Männer profitieren von sexistischen Verhältnissen usw. Gibt es auch eine materielle Basis für Solidarität?

Auf ökologischer Ebene wird die Erde von einer einzigen Atmosphäre umgeben, die internationalen Ausbeutungsverhältnisse erlauben es dem Kapital immer wieder, Arbeiterinnen gegeneinander auszuspielen, und die heterosexistische Matrix zwingt Menschen, die Männer spielen, eine emotional verarmte und verkürzte Lebenserwartung auf. Aber was ist überhaupt das Verhältnis von Eigenem und Fremden, von Gleichheit und Ungleichheit in der Solidarität? Das Verfolgen von Individualinteressen im Zweckverband mit andren ist keine Solidarität - es gibt keine unsichtbare Hand, die magically aus lauter Egoismus etwas Schönes formt. Aber ebensowenig sind es Altruismus oder Paternalismus. Sich für andre aufopfern oder ihnen gnädig Hilfe zu gewähren, stiftet keine solidarische Beziehung. Der Subcommandante Marcos der mexikanischen Zapatistas hat mal einen Vortrag in Spanien gehalten und das Honorar, das er dafür bekommen hat, spanischen Arbeiterinnen gespendet. Das war ein solidarischer Akt, der zugleich das Wesen der Solidarität offenlegte. Solidarität hat Gleichheit nicht zur Voraussetzung, sondern zum Ziel.

Okay. Aber was heißt das praktisch, für die Arbeit an der Solidarität?

Dass die Beziehungen, die wir anstreben, nicht die zwischen Hilfsbedürftigen und Helfenden sind, sondern solche der Kooperation. Wir können das zum Beispiel beim Refugee Strike von 2013/2014 oder im Sommer der Migration 2015 sehen. Beide Ereignisse haben eine entscheidende Veränderung gegenüber der Situation in den 1990ern gebracht. Menschen, die nach Deutschland geflohen sind, tauchen hier nicht als Zahlen eines medialen Diskurses auf, nicht als Objekte, die Hass oder Hilfe verdienen, sondern als Akteurinnen. Die Beziehungen, von denen aus Widerstand gegen Abschiebungen organisiert wird, sind die von Genossinnen, Nachbarinnen, Kolleginnen usw. Die Gefahr darin ist andersrum, dass die konkrete Sympathie über die Solidarisierung entscheidet und in Aufrufen gegen Abschiebung die gelungene Integration angepriesen wird.

Solidarität zu organisieren, ist auch eine Ressourcenfrage. In welche Solidarität muss die Linke besonders investieren?

Vielleicht ist das eine Frage, die nur in größeren und möglichst heterogenen Assambleas diskutiert werden sollte. Aus meiner beschränkten Perspektive gibt es zwei Gefahren, die die Möglichkeit linker Politik bedrohen: die ökologische und die faschistische. Erstere ist unmittelbar mit der Frage internationaler Gerechtigkeit verknüpft, also auch mit den Kämpfen gegen die postkoloniale Herrschaft, zweitere mit feministischen Bewegungen, die am stärksten gegen den Faschismus mobilisieren konnten. Beides ist verbunden mit Auseinandersetzungen um die kapitalistische Ökonomie: Die ökologische Katastrophe lässt sich nur verhindern, wenn der Wachstumszwang gebrochen wird, der notwendig zum Kapitalismus gehört. Der Faschismus lässt sich nur aufhalten durch eine linke Offensive, das heißt auch eine neue Klassenpolitik. Die Frage nach dem wichtigsten Widerspruch führt also in die Vielheit der Widersprüche und ihre Verknüpfung.

Diese Verknüpfung entsteht nicht von selbst. Wie organisieren wir sie?

Ich vermute, dass Solidarität immer konkret ist. Solidarische Initiativen entstehen weniger unter der allgemeinen Parole »Gegen Verdrängung«, sondern gegen die Verdrängung genau dieses Gemüseladens oder jener Bäckerei. Hier sind solidarische Initiativen oft ziemlich erfolgreich. Im zweiten Schritt geht es darum, die Initiativen zu vernetzen und auf eine gewissermaßen allgemeinere Ebene zu bringen. Auch das ist in den letzten Jahren vermehrt geschehen, wenn auch vielleicht weniger, als möglich wäre. Ich glaube, Aufgabe der Linken ist es hier auch, konkrete Parolen zu entwickeln, in denen die Leidenschaft noch hörbar ist. In Begriffen wie »Austeritätspolitik« oder »Strukturanpassungsprogrammen« versickert sie schnell.

Also Organisierung durch gute Parolen?

Nein, solidarische Beziehungen werden natürlich nicht durch Parolen organisiert ...

Viele Organisationsformen der Linken sind in Verruf geraten. Die Avantgardepartei à la Lenin hat nicht gerade solidarische Beziehungen produziert, sondern Härte und Unterordnung. Aber auch die Versammlungen von 2011ff. sind gescheitert. Sie konnten zwar vorübergehend solidarische, wenig hierarchische Strukturen schaffen, gegen Polizei (Spanien), Militär (Ägypten) oder Austeritätsdiktat (Griechenland) aber nichts ausrichten. In Spanien und Griechenland sind infolge dieser Erfahrungen Leute wieder in Parteien geströmt. Nun werden ihre Hoffnungen bei Syriza und Podemos enttäuscht.

Moment, wir müssen zwischen Scheitern und Niederlage unterscheiden. Lenins Partei war siegreich gegen ihre Gegner, scheiterte aber an den eigenen Ansprüchen. Was du für die antiautoritären Bewegungen von 2011ff. beschreibst, ist hingegen kein Scheitern, sondern sind Niederlagen. Der Erfolg der Rechten ist nicht zuletzt eine Folge dieser Niederlagen. Den radikaldemokratischen Bewegungen mangelte es weniger an emanzipatorischen Modellen als an der Macht, sie durchzusetzen. Sie sind aber nicht verschwunden. In den USA, wo heute mehr Menschen den Sozialismus befürworten als je in der Geschichte, gehen die Kämpfe gegen Verschuldung, gegen Häuserräumungen, gegen rassistische Polizeigewalt und in Form der Antifa weiter. In Griechenland existieren die Initiativen der solidarischen Ökonomie auch ohne große mediale Öffentlichkeit fort, und selbst in Deutschland und Österreich sind die solidarischen Beziehungen, die durch den Sommer der Migration geknüpft wurden, nicht aufgelöst. Für uns stellt sich neben der Frage der Verknüpfung auch die, wie sich diese sozialen Solidaritäten stärker politisch artikulieren können. Es geht um ein explizit linkes Framing und Agendasetting. Nicht im Sinne einer Verteidigung des Status Quo, sondern seiner emanzipatorischen Überwindung.

Bini Adamczak

ist Mitglied der jour fixe initiative berlin, die für das erste Halbjahr 2019 eine Veranstaltungsreihe zum Thema Solidarität organisiert. Von Bini Adamczak erschien kürzlich bei Suhrkamp das Buch »Beziehungsweise Revolution. 1917, 1968 und kommende« (ak 633 und 636).