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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 642 / 16.10.2018

Aufgeblättert

»Schicksalsjahr« 1918

In seinem Buch »Im Taumel. 1918 - Ein europäisches Schicksalsjahr« macht sich Kersten Knipp, Politikredakteur öffentlich-rechtlicher Radiosender und Autor der konservativen Neuen Zürcher Zeitung, auf die »Suche nach Europa«, so die Überschrift des Epilogs. Dabei findet er überall »Skepsis und nationale Verhärtung« und wenig, was ihm Mut macht. Denn »das Wahre, Gute und Schöne hat es nicht durchweg leicht auf dieser Welt«. Das »Schicksalsjahr« 1918 beginnt bei Knipp im November, als das Kaiserreich an einer Art Materialermüdung zugrunde ging: »Am 9. November gab das verrottende Eisen endgültig nach ...«. Davor hatte es in Kiel einen »Matrosenaufstand« gegeben und »weitere Erhebungen in anderen deutschen Städten«. Die eigentlichen Akteure aber sind bei Knipp eine Handvoll Männer: der Kaiser, Scheidemann, Liebknecht, Erzberger, Ebert. Dann, am 11. November, ist der Krieg vorbei. Aber nur im Westen. »Ganz anders hingegen in Russland«. Dort, schreibt Knipp, verlief das Jahr 1918 »chaotisch, düster, brutal«, weil die Bolschewisten mit einer »in diesen Dimensionen kaum bekannten Gewalt« vorgingen. In der Empörung, auch über Enteignungen »ohne jede rechtliche Grundlage«, verliert der Autor jedes Maß. Da bei ihm eine Revolution möglichst blutig und abscheulich sein muss, kann er die an Opfern vergleichsweise arme deutsche Revolution überspringen. Was den Verlag nicht davon abhält, das Buch als die »große historische Erzählung zu den dramatischen Umbrüchen des Weltkriegsendes« anzupreisen.

Daniel Ernst

Kersten Knipp: Im Taumel. 1918 - Ein europäisches Schicksalsjahr. Theiss Verlag, Darmstadt 2018. 422 Seiten, 29,95 EUR.

Staatstheorie

Der Sammelband zum diesjährigen 80. Geburtstag von Joachim Hirsch ist keine pflichtbewusste Huldigung an sein Denken und Wirken, sondern bietet in einer Einleitung und elf Kapiteln handfeste Auseinandersetzungen mit der intellektuellen Entwicklung des Staatstheoretikers. Zentral ist sein Ansatz der Formanalyse des Staates, die er im Verlauf der Zeit mit Überlegungen von Gramci und Poulantzas sowie der französischen Regulationstheorie weiterentwickelte. Hirschs Erkenntnisse richten sich gegen die Illusionen derjenigen, die den Staat politisch nicht beachten oder ernst nehmen, zugleich aber auch gegen Positionen, die auf den Staat als Instrument oder entscheidende gesellschaftspolitische Arena setzen. Zentral von ihm entwickelte zeitdiagnostisch-analytische Konzepte sind der Sicherheits- und später der Wettbewerbsstaat sowie der internationalisierte Staat. Hirschs Rezept gegen die kapitalistischen Zustände ist radikaler Reformismus. In dem Sammelband schreiben Wegfährt_innen wie Sonja Buckel, John Kannankulam und Roland Roth. Birgit Sauer entwirft mit materialistisch-feministischer Staatstheorie eine kritische Perspektive auf Gewalt gegen Frauen. Adrián Pavi schildert vor dem Hintergrund der realen Geschichte die Rezeptionsgeschichte Hirschs in Argentinien. Entstanden ist ein ausnahmslos empfehlenswerter Band, der Hirsch als einen kritischen Denker ausweist, dessen Überlegungen auch in der aktuellen weltpolitischen Lage viel zu bieten haben.

Sebastian Klauke

Ulrich Brand, Christoph Görg (Hg.): Zur Aktualität der Staatsform. Die materialistische Staatstheorie von Joachim Hirsch. Nomos Verlag, Baden-Baden 2018. 244 Seiten, 29 EUR.

Genossenschaft

In Reaktion auf die Unterdrückung der anarchistischen Presse wurde 1895 in Berlin die »Arbeiterkonsumgenossenschaft Befreiung« gegründet. Mit ihrer Agitationsbroschüre »Ein Weg zur Befreiung der Arbeiter-Klasse« liegt der wichtigste deutschsprachige Text des Anarchismus über die Rolle der Genossenschaft als Kampforganisation erstmals wieder vor. Ihr anonymer Verfasser (Gustav Landauer) behauptete, dass die mächtigste und noch ungenutzte Waffe der Arbeiterklasse »ihre vereinigte Konsumtion ist«. Aus dem in genossenschaftlicher Form einbehaltenen Handelsprofit sollten in einem zweiten Schritt Produktivgenossenschaften gegründet werden, um auch das industrielle Kapital sukzessive auszuschließen. Andere Mittel (Streik, Boykott, Aufklärung) würden flankierend eingesetzt, um sofort »eine Arbeitergesellschaft innerhalb der bürgerlichen Welt« zu begründen und immer weiter auszudehnen. Der Text will durch Argumente überzeugen. Doch wurde die neue Gründung des »praktischen Sozialismus« bald von allen Seiten angefeindet. Über 30 zeitgenössische Texte dokumentieren die Kontroverse im Anhang des Bandes. »Es ist endlich an der Zeit«, schrieb Landauer in dieser Diskussion, »aufzuhören, frühere Revolutionen mechanisch nachstammeln zu wollen; der Umschwung, der an die Stelle der bürgerlichen die sozialistische Gesellschaft setzen wird, wird ohne Vorbild in der Vergangenheit gewesen sein«. Eine detaillierte historische Einleitung rundet den Band ab.

Jan Rolletschek

Gustav Landauer: Ein Weg zur Befreiung der Arbeiter-Klasse. Ausgewählte Schriften Band 14. Edition AV, Lich/Hessen 2018. 331 Seiten, 18 EUR.

Leben im Wald

Viel wurde über »freies Leben im Wald« geschrieben und gesprochen, seit die nordrhein-westfälische Landesregierung für den Energiekonzern RWE den Hambacher Forst räumen und zur Rodung vorbereiten lässt. Es mag tröstlich sein, in der Geschichte nach Menschen zu suchen, die sich ein Leben jenseits von Ausbeutung und Unterdrückung erträumten, bereit waren, dies unter sehr schwierigen Bedingungen zu erkämpfen, und daran gingen, für eine egalitäre Gemeinschaft Land und Wald urbar zu machen. Der französische Zeichner Nicolas Debon hat einen der ersten von ihnen in einem wunderbaren Comic porträtiert. 1903 zog der Anarchist Henry Fortuné unter zunehmend repressivem Druck des französischen Staates auf eine Lichtung in die Ardennen und begann dort, sein eigenes Ideal einer freien Kommune aufzubauen - mit wenigen Mitteln, aber einer wachsenden Zahl von Mitstreiter_innen. Je mehr der Ort »Essai« (Versuch, Test) bekannt wurde, desto größer die Anziehungskraft, die er ausübte: Sein Gründer Fortuné verfüge über ein »einzigartiges Gefühl der Rebellion«, sei charismatisch und der Ort »intelligent verwaltet«. Ganze fünf Jahre dauerte der »Versuch« - die Gründe für sein schnelles Ende finden sich in Debons Buch. Hilfreich, um der Komplexität von Protagonist und Inhalt folgen zu können, ist die ruhige Bildart, die an Kinderbücher erinnert. Die Geschichte der Versuche, sozialistische Utopien in Formen freiheitlichen Lebens zu übersetzen, ist auch über 100 Jahre später noch lange nicht zu Ende.

Claudia Krieg

Nicolas Debon: Essai. Carlsen Verlag, Hamburg 2016. 90 Seiten, 19,99 EUR.