Ein Schlag ins Gesicht der Betroffenen
Deutschland Die Gesetzesvorlage zur »3. Option« steht der geschlechtlichen Selbstbestimmung im Weg
Von Eliah Arcuri
Vor einem Jahr, am 10. Oktober 2017 fällte das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) ein bahnbrechendes Urteil: Die Kategorie des Geschlechts hat mehr als zwei Ausprägungen und wo kein Raum für mehr ist, da liegt ein Verstoß gegen das Grundgesetz vor. Und: »Der Zuordnung zu einem Geschlecht kommt für die individuelle Identität herausragende Bedeutung zu; sie nimmt typischerweise eine Schlüsselposition sowohl im Selbstverständnis einer Person als auch dabei ein, wie die betroffene Person von anderen wahrgenommen wird.« (1)
Die Kategorie des Geschlechts ist ein zentraler gesellschaftlicher Kampfplatz. Der größte Teil der Probleme, die die Kategorie hervorruft, resultiert aus der hegemonial gewordenen binären Ordnung: Es gibt seit dem Aufkommen der Humanwissenschaften im 18. Jahrhundert vermeintlich zwei Merkmalsausprägungen, »weiblich« und »männlich«. Als klassische Ungleichheitskategorie ruft sie von jeher erbitterten Widerstand hervor.
Dieses Aufbegehren wird nicht zuletzt durch jene vorangetrieben, die sich weder der einen noch der anderen Ausprägung zuordnen lassen wollen, können oder dürfen. Das Bundesverfassungsgericht reagierte mit seinem Urteil im Herbst letzten Jahres auf die Empörung der Menschen, die sich nicht länger abspeisen lassen wollen mit einer Leerstelle an dem Ort, wo andere ihre geschlechtliche Identität mit größter Selbstverständlichkeit zur Geltung bringen können. (2)
Die Forderung, die seitdem unter dem Schlagwort »3. Option« Einzug in die Medienlandschaft hält, soll es Menschen, die sich nicht in den beiden bisher zur Verfügung stehenden Merkmalsausprägungen wiederfinden können, wollen oder dürfen, ermöglichen, ihr Geschlecht »positiv« im Geburtenregister eintragen zu lassen. Seit 2013 stand ihnen lediglich und nur unter Vorlage eines medizinischen Gutachtens die Option »fehlende Angabe« zur Auswahl.
Historische Chance - schon vertan
Kurz nach der Entscheidung zur »3. Option« bestätigt das BVerfG hingegen die Legitimität medizinisch-psychiatrischer Zwangsuntersuchungen - ein juristisches Paradoxon, das nicht folgenlos bleiben dürfte. (3) Zunächst deckt der epochale Beschluss des Ersten Senats des höchsten Gerichts Deutschlands im bisher geltenden Personenstandsrecht nichtdestotrotz einen doppelten Verstoß gegen die Grundrechte auf: Erstens steht es im Widerspruch zum Allgemeinen Persönlichkeitsrecht (Art. 2 Abs. 1 mit Art. 1 Abs. 1 GG), das die Geschlechtszugehörigkeit aller Menschen schützt und zweitens zum Diskriminierungsverbot aufgrund des Geschlechts (Art. 3 Abs. 3 GG Satz 1). (4)
Das BVerfG zeigte sich offen für unterschiedliche Lösungsansätze zur Eintragung der »3. Option« und befürwortete in erfrischender Konsequenz auch die simple Alternative, gleich gänzlich und generell auf einen Geschlechtseintrag zu verzichten. Mit dem Auftrag zur Eliminierung der drastischen Verfassungsverstöße betraut ist seither die Bundesregierung. Diese hat bis dahin die historische Chance zur juristischen Grundsteinlegung für die geschlechtliche Selbstbestimmung aller Menschen. Deadline: 31. Dezember 2018. Die Uhr tickt.
Horst Seehofer (CSU) nahm diesen zukunftsweisenden Auftrag zum Anlass, um Anfang des Jahres hinter den Mauern des Bundesministeriums des Inneren, für Bau und Heimat den Gedanken abzusondern, man könne ja nun einfach als dritte geschlechtliche Option »anderes« einführen. Dies soll - ausschließlich - inter* Menschen einen entsprechenden Eintrag in ihren Ausweispapieren und im Geburtenregister gestatten. Zur Begründung muss ein medizinisches Gutachten vorliegen. Dieser Gesetzesentwurf führte zu Kontroversen in der großen Koalition. Traten Katarina Barley (SPD) und ihre Parteigenossin Franziska Giffey diesem Entwurf noch mit einiger Vehemenz entgegen, so zeigten sie sich plötzlich im August mit dem zweitem Entwurf aus dem Hause Seehofer hinreichend zufrieden. (5) Dass die Option »anderes« zu »divers« wurde, ist in diesem Entwurf die markanteste Änderung.
Alles andere als zufrieden sind neben der Opposition viele Jurist_innen, Interessensgruppen und Aktivist_innen. Für sie ist der jüngste Entwurf der Regierung ein Fausthieb ins Gesicht der Betroffenen. Das BVerfG ebnete - zumindest prinzipiell - den Weg für die geschlechtliche Selbstbestimmung aller Menschen. Die Regierung jedoch liefert ein minimales, ja peinliches Zugeständnis. Sie besteht nach wie vor auf die Eintragung des Geschlechts im Geburtenregister. Zur Verfügung stünde hierbei neben den bekannten Optionen lediglich noch »divers« .
Zwangsbegutachtungen, Tests, Geschlechterklischees
Die Zielgruppe bliebe unverändert, sie beschränkt sich auf intergeschlechtliche Personen. Nach wie vor wäre der operative Eingriff an Kindern, denen die Mediziner_innen mit ihren Kategorien kein eindeutig weibliches oder männliches Geschlecht zuweisen können, erlaubt. Und die Einstufung des eigenen Geschlechts unter der »3. Option« kann grundsätzlich nur nach einer demütigenden medizinischen Zwangsbegutachtung durch eine »Geschlechtsbestimmungsautorität« erfolgen, wie es der Soziologe Stefan Hirschauer treffend formuliert. (6)
Aktivist_innen, SPD und Opposition fordern in der aktuellen Debatte die längst überfällige Überarbeitung respektive Abschaffung des »Gesetzes über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen«. (7) Denn auch Menschen, die einfach den Vornamen annehmen wollen, der ihrer Geschlechtszugehörigkeit entspricht, müssen sich bisher dem menschenunwürdigen Prozess einer medizinischen Zwangsbegutachtung unterziehen und ihr Geschlecht »beweisen«, indem sie sich psychiatrischen und medizinischen Tests unterziehen. Tests, die psychisch wie physisch übergriffig sind und auf derart veralteten Geschlechterklischees beruhen, dass sie kaum eine »cis-Person« ertragen, geschweige denn bestehen würde.
Kurzum: Mit geschlechtlicher Selbstbestimmung hat der neue Gesetzesentwurf zur »3. Option« nichts zu tun. Er entpuppt sich auf ganzer Linie als Farce. Durch die Eingriffe in die Intimsphäre ist er weiterhin verfassungswidrig, ein Verstoß gegen das Persönlichkeitsrecht. Und da er non-binär lebende Menschen pathologisiert, begünstigt er weiterhin die Diskriminierung aufgrund des Geschlechts. Der Grundsatz der Gleichbehandlung aller Menschen kann nur umgesetzt werden, wenn jede Person das eigene Geschlecht einer medizinisch-psychologischen Prüfung unterziehen lassen muss - oder eben niemand. Die Bundesregierung läuft mit ihrer »Schmalspurlösung« akut Gefahr, eine bedeutungsschwere Chance zu vergeben. (8)
Die Kategorie des Geschlechts betrifft uns alle
Der Beschluss des BVerfGs vom Herbst 2017 zur »3. Option« ist in diesem Kontext nicht die einzige historische Entscheidung der vergangenen Monate: Angela Merkel (CDU) sah sich zur Einführung der »Ehe für Alle« genötigt. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) teilte im Zuge ihrer Überarbeitung des veralteten Krankheitenkatalogs ICD (International Classifications of Diseases) im Sommer 2018 mit, dass Trans*geschlechtlichkeit im ICD-11 nicht mehr als psychische Erkrankung aufgeführt sein wird. Vieles um die Kategorie des Geschlechts herum ist in Bewegung geraten. Auf welchen politischen Nährboden fallen diese bedeutenden Ereignisse im Deutschland der Gegenwart?
Auffallend ist die tiefe Kluft zwischen dem Schritt des BVerfGs und jenem der amtierenden Bundesregierung. Ersteres erteilt eine klare Absage an die binäre Geschlechterordnung und befindet die Abschaffung des Geschlechtseintrags als juristisch legitim. Letztere hat offenbar andere Ziele: Das abgeblühte Zweigeschlechtermodell soll aufrechterhalten werden und das »Andere« kommt Konstruktionsleistungen dieser Art ja von jeher gelegen. Der Schmalspurlösung liegt vermutlich einiges an politischem Kalkül zugrunde: Die große Koalition soll unter keinen Umständen gefährdet werden. Warum sonst gab sich Katarina Barley (SPD) mit an Selbstverrat grenzender Genügsamkeit mit Seehofers zweitem Entwurf zufrieden?
Zudem liegt die Vermutung nahe, dass Seehofer und Konsorten nicht ablassen wollen von ihrer unverhüllten Koketterie mit der nach Übermaß heischenden Neuen Rechten. Auch deren Gedankengut speist sich aus der traditionellen Geschlechterideologie, welche die binäre Ordnung und unbedingte Heterosexualität zu tragenden Elementen erkoren hat. Nur zu bekannt sind deren marodierende Anhänger_innen für ihre exzessive Homo*- und Trans*feindlichkeit und die beinahe als allergisch einzustufenden Reaktionen auf sämtliche Überlegungen, die das heterosexistische Zweigeschlechtermodell zu hinterfragen wagen.
Bei der Debatte um die »3. Option« handelt es sich nicht um eine, die auf einem unbedeutenden identitätspolitischen Nebenschauplatz ausgetragen wird. Die Kategorie des Geschlechts betrifft uns alle. Das Geschlecht eines Menschen darf nicht auf dem Prüfstand stehen - oder es muss bei allen getestet, von allen gerechtfertigt werden. Die Geschlechterkontrolle muss abgeschafft werden und mit ihr der längst überflüssige Geschlechtseintrag. Ausgerechnet die höchste rechtliche Instanz der BRD gab der Bundesregierung an die Hand, was sie braucht, um der geschlechtlichen Selbstbestimmung Vorschub zu leisten. Diese aber versperrt sich rigoros. Die Idee der bloßen Einführung einer »3. Option« läuft - wie jede Kategorisierung - Gefahr, weiterhin Ungleichheit hervorzurufen. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, um zu verhindern, dass die Regierung eine historische Fehlentscheidung trifft.
Eliah Arcuri studiert Soziologie in Berlin.
Anmerkungen:
1) Pressemeldung BVG 17095, www.bundesverfassungsgericht.de.
2) Die Reaktion kam auf die Beschwerde einer inter* Person, die ihren Geburtseintrag beim zuständigen Standesamt ohne Erfolg von »weiblich« zu »inter/divers« ändern lassen wollte. Daraufhin forderte das BVerfG die Einführung eines dritten Geschlechts im Geburtenregister. Dabei räumte es auch die Möglichkeit ein, den Geschlechtseintrag vollständig abzuschaffen. (ebd.)
3) verfassungsblog.de/die-dritte-option-fuer-wen
4) Pressemeldung BVG 17095, www.bundesverfassungsgericht.de.
5) dipbt.bundestag.de/dip21/brd/2018/0429-18.pdf
6) Stefan Hirschauer: »Die soziale Konstruktion der Transsexualität«. Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 1993, S. 73.
7) Besser bekannt unter der umstrittenen Bezeichnung TSG (Transsexuellengesetz).
8) www.tagesspiegel.de/berlin/queerspiegel/gesetzentwurf-des-innenministeriums-das-dritte-geschlecht-soll-weiteres-heissen/22670408.html