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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 642 / 16.10.2018

Leichte Sprache: Ostdeutschland

Diskussion Die Verständigungsversuche zur Lage nach Chemnitz kommen zu spät

Von Claudia Krieg

»Ich habe die längste Zeit meines Lebens in Chemnitz gelebt, davon drei Jahre in einem linken Hausprojekt. Man schläft dort oft schlecht ein. Man sorgt sich darum, dass niemand zur Straße raus das Bett stehen hat, die dritte Etage gilt als erreichbare Steinwurfhöhe.« Der junge Mann, der seine Erfahrungen schildert, ist, so sagt er selbst, aufgeregt. Die Veranstaltung »Nach Chemnitz - Welche Solidarität brauchen wir jetzt?« am 22. September im Berliner Kulturzentrum Mehringhof ist mit etwa 130 Teilnehmer_innen und vier Referentinn_en aus Leipzig und Chemnitz gut besucht. Die vier Wochen seit dem 26. August 2018, der die rechte Mobilisierung in den ostdeutschen Städten Chemnitz und dann Köthen in einem Ausmaß angefeuert hat, auf das trotz zahlreicher Warnungen niemand vorbereitet zu sein schien, haben Fragen aufgeworfen.

Wer den Text zu Revolution Chemnitz auf der nebenstehenden Seite liest, versteht vielleicht, wenn er sie selbst nicht kennt, um welche Situationen es sich handelt, die der Besucher meint: Es geht um alltägliche, lebensbedrohliche Gewalt. Bombenbau zu betreiben, den Tod von Menschen einzukalkulieren und ideologisch unscharfe Menschenfeindlichkeit per Masse zu demonstrieren, gehören hinsichtlich ihres realen und fantasierten Gewaltpotenzials zusammen und tragen sich gegenseitig. Auch die Eingangsstatements der zwei Referentinnen aus Chemnitz haben es verständlich transportiert: Die Ereignisse waren absehbar, einzig die Schnelligkeit der rechten Mobilisierung in Sachsen habe eine neue Qualität gezeigt. (ak 641) Es ist im Mehringhof zu spüren: Wenn aus Bildern im Internet reale Personen werden, beginnen Leute zu verstehen, dass es eine rechte Wirklichkeit gibt, in der Menschen leben und unter der sie auch leiden.

Live-Safari in Köthen

Es gibt eine Art über rechte Gewalt zu berichten, die sie herunterspielt. Es braucht einen empathischen Ansatz, der sie nicht als ein fernab der Großstädte liegendes Problem betrachtet. Darüber zu berichten ist das eine - die darin liegende Distanz zu überwinden, das andere. Natürlich wird auch in Großstädten über Naziangriffe berichtet. Nur: Wenn man in Berlin über rechte Gewalt in Berlin schreibt, wird sie auch in Berlin verstanden. Wer aber schreibt über rechte Gewalt in Köthen in Köthen, so dass sie in Köthen verstanden wird? Vielleicht wird es umgekehrt deutlicher an der Berichterstattung zur rechten Mobilisierung durch den Blick eines Hauptstadtjournalisten der taz: »Erschreckend«, aber »dass diese übertätowierten Herren machtergreifungstechnisch Chancen hätten«, das sähe er nicht. »Zu traurig, das. Zu einfach, zu schlicht.« Dieses Urteil nach der rechten Demonstration in Köthen am 16. September muss man nicht als arrogant und als Fehleinschätzung lesen. Als Beschimpfung wird es ohnehin gelesen. Man kann es auch als eine Art ungläubiges Staunen nach der Live-Safari interpretieren. Es war die eigene Beruhigungspille, die an die Leser_innen ausgegeben wurde, die danach - und das kann man ihm nicht anlasten - in Teilen sicher auch verlangt. Ein anderer Teil wollte jedoch die in der Köthener Dunkelheit hallenden Rufe »Nationaler Sozialismus jetzt!« wieder und wieder im Mitschnitt eines anderen Beobachters hören. Ja, das ist gruselig. Das eigentliche Problem ist, dass verfassungsfeindliche Äußerungen und Mordaufrufe, wie die von David Köckert und Jennifer Rodrian am selben Abend, nicht strafrechtlich verfolgt und politisch geächtet werden. Davon, dass solche Forderungen bei rechten Veranstaltungen gang und gäbe sind, kann sich seit vielen Jahren überzeugen, wer Recherchen von Journalist_innen zu rechten Veranstaltungen und Konzerten verfolgt.

In Ostdeutschland agieren gewalttätige Neonazis aggressiv und protegiert von Justiz, Politik, Presse und Polizei seit Jahrzehnten. Die rechte Hegemonie, begleitet von Angst und Schrecken, wird von Menschen, denen das Prinzip der Anpassung bekannt, autoritäres Verhalten vertraut und der Grundton des Opferdaseins genehm ist, nicht als solche wahrgenommen oder auch goutiert. Was durch die AfD und ihre Hetze systematisch verstärkt wird, klingt seit Jahrzehnten durch die Lokalzeitungen, durch »Bürgerversammlungen«, in denen Rassismus und Abwertungserfahrung durcheinander und zusammen gehen, durch Gerichtsurteile, die rechte Gewalt verharmlosen: Vorangetrieben von konservativen Kräften, die in linken Jugendlichen und linken Forderungen seit jeher Gefahren für den demokratischen Staat, will heißen, ihre eigene Machtposition, ausmachen wollen. Und weil Jahrzehnte so unvorstellbar klingt, muss man vielleicht sagen: jedes Jahr, jeden Monat, jede Woche, jeden Tag.

»Immer mehr Menschen haben sich in den letzten Jahren in Chemnitz radikalisiert und organisiert. Die Lichtelläufe ab 2013 in Schneeberg sind zentraler Bezugspunkt der Mobilisierung. Das hinzukommende rechte Narrativ in den lokalen Medien von der belästigten weißen Frau, aufgenommen und vielfach verstärkt in den Sozialen Medien, zieht einfach in der patriarchalen Gesellschaft«, sagt Ida Campe. Rechte Gewalt wird derweil auf höchster Regierungsebene ohne Konsequenzen angezweifelt, und der Feldzug der AfD gegen den »Linksfaschismus« geht weiter - der Extremismustheorie, die im Osten seit Jahren von CDU und SPD in den Diskurs gehämmert wird, sei Dank.

»Wir laufen frei herum, aber nur mit Pfefferspray. Ich gehe immer davon aus, dass mich jemand, der um die Ecke biegt, erkennt und dass ich ein Angriffsziel sein kann.« Der Umstand, »das Antifa-T-Shirt ausziehen« zu können, wenn er denn wolle, so der eingangs zitierte Veranstaltungsbesucher weiter, sei ja bei alledem noch ein Vorteil. Andere Menschen könnten Merkmale, die Nazis zum Anlass nehmen, sie anzugreifen, nicht mal eben »ausziehen«. Riadh ben Ammar von We'll come united bestätigt das auf dem Podium: »Naziangriffe gibt es in Chemnitz schon sehr lange. Viele der migrantischen Menschen, die in Chemnitz leben mussten und müssen, beschreiben das immer wieder.« Er beobachte, wie die allgemeine Perspektivlosigkeit in Sachsen gerade in Chemnitz sehr stark auch diejenigen Menschen trifft, die in der hiesigen Erstaufnahmeeinrichtung (EAE) leben müssen. Der Großteil junger Männer aus nordafrikanischen Ländern, so ben Ammar, die in der Bundesrepublik Aufenthalt beantragen und keinerlei Einfluss darauf haben, in welcher Stadt und in welchem Bundesland sie zu Registrierung und Residenz gezwungen werden, landet in: Chemnitz. We'll come united hat im vergangenen Jahr in den ländlichen Regionen vermehrt selbstorganisierten Geflüchteten und der ihnen geltenden Solidarität Sichtbarkeit verschafft. Die Demonstration am 29. September in Hamburg wird ein gutes Zeichen für sie gewesen sein. Am Abend des 22. scheint dann mit dem Podiumsbeitrag von Vincent Bababoutilabo von der Initiative Schwarze Deutsche (ISD) eine Verständnislücke auf. Was gerade geschehe, mache ihn »fassungslos«. Rechtsstaat und Medien schweigen nicht etwa nur angesichts dessen, was geschieht, nein, sie agieren, als gäbe es all das Engagement so vieler Vereine nicht: die Arbeit zur Aufklärung des NSU-Terrors und zur Verstrickung staatlicher Behörden, das Bemühen um Demokratieförderung und politische Bildung, den Kampf gegen Rassismus und für Menschenrechte. In Sachsen und in vielen Regionen Ostdeutschlands ist aber genau dies politischer Alltag.

Live-Missverständnis in Berlin

Eine hilfreiche Außenperspektive auf die Ereignisse in Chemnitz ist an diesem Abend nicht zu hören. In Berliner Hausprojekten gibt es andere Probleme als Naziangriffe, in Leipzig eine lange Geschichte alternativer, linker, auch studentisch geprägter Kultur, auf die antirassistische Initiativen aufsatteln können. In vielen kleinen und mittelgroßen Städten in Ostdeutschland gähnt hingegen eine gesellschaftspolitische Leere, die die Rechte gemäß ihrer Raumnahme längst aufgefüllt hat.

Bevor über »neue Strategien« beratet werden kann, braucht es eine Verständigung, die nicht im Rahmen des Besuchs einer ostdeutschen Stadt stattfindet. »Wir brauchen Leute, die mit uns leben und uns unterstützen. Berlin ist das Spiegelbild von Chemnitz. Hier gibt es alles, dort gibt es nichts. Auch keine hohen Mieten. In Chemnitz bekommt ihr die Häuser geschenkt.« Man könnte hinzufügen: in Cottbus, in Görlitz, in Zeitz, in Dessau, in Gera, in Schwerin. Es ging dem Sprecher im Mehringhof ganz sicher nicht um ein Schönreden der Verdrängungsprozesse durch Mieterhöhungen. Wer öffentlich Leute darum bittet, in den Ort zu ziehen, in dem man sich allein unter Nazis weiß, in dem die Polizei nicht kommt, wenn draußen vor dem Haus 20 Vermummte mit Baseballschlägern stehen, der bittet nicht für sich. Der macht verständlich: Von Berlin und Leipzig aus wird sich an den ostdeutschen Zuständen nichts ändern lassen. Eine kurzfristige Solidarisierung bleibt ein Zeichen, mehr nicht. Im »braunen Osten« leben Menschen, die existenzielle Kämpfe führen, die aus der Distanz nicht zu führen sind.

Es sind nicht die 1990er Jahre. Wären sie es, läge die Chance, dass es anders hätte kommen können, noch einmal vor uns. Auch in Ostdeutschland wurden Republikaner, DVU und NPD zurückgedrängt. Aus Gründen: Menschen, die dies erkämpften, waren politisch nicht annähernd so desillusioniert und mürbe, wie sie es heute sind, viele Menschen noch nicht von der Hartz-IV-Agenda generationenweise auf's Abstellgleis geschoben, der gesellschaftliche und politische Rassismus war nicht geringer, aber zumindest noch in seiner Salonfähigkeit in Frage gestellt.

Der Gestus des »Wir sind mehr« der jetzt stattfindenden Großdemonstrationen ist ein Zeichen für die, die eins suchen. Hoffentlich gibt es ihnen die Kraft, die sie brauchen. Die wir noch brauchen werden - auch um dem Journalistenkollegen, der wieder live im ICE nach Berlin sitzt, froh, dem Schrecken von Köthen entkommen zu sein, zu erwidern: Doch, »diese übertätowierten Herren« haben Machtergreifungschancen. Das wird auch die Wahl in Sachsen 2019 bestätigen. Vielleicht verlegen wir die Verständigungsversuche besser auf einen späteren Zeitpunkt. Die Zeit dafür ist vorerst abgelaufen, so wie die Zeit von »Strafexpeditionen« oder Safari-Kameras. Wer Widerstand gegen den aufkommenden Faschismus nicht gemeinsam mit Menschen vor Ort entwickelt, versucht die eine Hegemonie mit anderem hegemonialen Verhalten zu bekämpfen. Es anders zu versuchen, ist komplizierter und braucht Zeit - Zeit, die wir nicht haben.