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Verein fuer politische Bildung, Analyse und Kritik e.V.

ak logo ak - analyse & kritik - zeitung für linke Debatte und Praxis / Nr. 643 / 13.11.2018

Schuld ist nicht das Zölibat

Deutschland Die Studie über sexualisierte Gewalt in der katholischen Kirche ist ein einziges Vertuschungsmanöver

Von Thomas Schlingmann

»MHG-Studie« lautete die Abkürzung für die Untersuchung »Sexueller Missbrauch an Minderjährigen durch katholische Priester, Diakone und männliche Ordensangehörige im Bereich der Deutschen Bischofskonferenz«. Am 25. September 2018 hat die Deutsche Bischofskonferenz sie der Öffentlichkeit präsentiert. Dabei wurde an prominenter Stelle in der Zusammenfassung als Ursache sexualisierter Gewalt konstatiert: »Die Verpflichtung zu einem zölibatären Leben könnte Priesteramtskandidaten mit einer unreifen und abgewehrten homosexuellen Neigung als Lösung innerpsychischer Probleme erscheinen, die zusätzlich die Aussicht auf ein enges Zusammenleben ausschließlich mit Männern zumindest während der Priesterausbildung mit sich bringt. Insoweit könnten spezifische Strukturen und Regeln der katholischen Kirche ein hohes Anziehungspotenzial für Personen mit einer unreifen homosexuellen Neigung haben. Homosexuelle Beziehungen oder Praktiken werden im offiziellen, nach außen hin sichtbaren Handeln der Kirche aber abgelehnt. Somit besteht die Gefahr, dass entsprechende Neigungen versteckt ausgelebt werden (müssen).«

Diese These wurde nicht nur von den Bischöfen, sondern auch darüber hinaus begierig aufgegriffen. Es lohnt sich daher, einmal genauer zu schauen, worauf diese Annahme beruht.

Befragt wurden 50 Kleriker, denen die Ausübung sexualisierter Gewalt vorgeworfen wird oder wurde. Diese waren von den Diözesen selber vorgeschlagen worden, nach welchen Kriterien, ist unklar. Eine neutrale oder gar repräsentative Auswahl ist das nicht.

Drei Interviewer führten die Befragungen durch und einigten sich hinterher auf eine Typologie. In dieser Typologie reproduzieren sie unhinterfragt das sexualmedizinische beziehungsweise psychopathologische Ursachenmodell sexualisierter Gewalt. Diesem Modell zufolge kommt es zu sexualisierter Gewalt, wenn Täter eine der drei Krankheiten haben: eine Entwicklungsstörung, eine narzisstisch-soziopathische Persönlichkeitsstörung oder eine sexuelle Präferenzstörung (Pädophilie), die unveränderlich sein soll - obwohl Hamburger Sexualwissenschaftler_innen festgestellt haben, dass die angeblich unveränderbare Präferenzstörung Pädophilie offensichtlich doch veränderbar ist. Gesellschaftliche Ursachen sexualisierter Gewalt lassen sich so natürlich nicht erfassen, und der Ansatz, nach Krankheiten zu suchen, ist in der Vergangenheit von Betroffenenorganisationen oft genug kritisiert worden.

Tätertypen identifiziert, Problem gelöst

Die Forscher gehen davon aus, dass bestimmte Tätertypen für sexualisierte Gewalt verantwortlich sind. Andere Ursachenmodelle gibt es seit über 30 Jahren: 1983 hat David Finkelhor das Modell der vier Vorbedingungen entwickelt. Danach gibt es individuelle und gesellschaftliche Faktoren, die dazu führen, dass Täter eine Motivation zur Ausübung sexualisierter Gewalt entwickeln, innere Hemmungen überwinden, externe Hindernisse aus dem Weg räumen und den Widerstand des Kindes brechen. 1993 formulierten Ulrike Brockhaus und Maren Kolshorn dann ein feministisches Ursachenmodell, das Finkelhors Modell um die Perspektive des Opfers und des Umfeldes ergänzt. Zuletzt erstellte eine internationale Gruppe von Wissenschaftler_innen 2011 im Auftrag der EU-Kommission das Perpetration-Modell. Der Blick in die Literaturliste der MHG-Studie zeigt, dass diese Ansätze nicht einmal zur Kenntnis genommen wurden. Auf dieser fragwürdigen Basis entwickelten die Forscher dann Fragen, mittels derer alles Widersprüchliche herausgefiltert werden konnte.

In den Interviews wurde der Fokus auf die Entwicklung der Sexualität gelegt. Fragen zu sexistischen Haltungen oder adultistischen Einstellungen, wie beispielsweise die Herabsetzung von Kindern als nicht vollwertige Menschen, kamen nicht vor. Somit hat die Suche nach der fehlerhaften Sexualität die Erfassung anderer Themen blockiert. Sechs der 50 Befragten wurden in eine Gruppe eingeteilt, die die Forscher folgendermaßen beschrieben: Die Interviewpartner würden »(vermeintlich) bestehende homosexuelle Neigungen und Bedürfnisse nicht eingestehen« und/oder es werde »eigene Sexualität in starkem Maße geleugnet oder verdrängt« - eine interessante Art, eine Gruppe auf Basis von Annahmen der Forscher zu konstruieren statt auf Basis von Eigenaussagen der Interviewten. Ob die Verdächtigten wirklich homosexuell sind oder ihre Sexualität verleugnen, wurde nicht überprüft. Diese Überprüfung kann aber natürlich auch gar nicht stattfinden: Wenn einer der Interviewten sagen würde, er sei homosexuell, würde er ja nicht länger verleugnen. Zugespitzt lässt sich sagen, dass es sich bei dieser Gruppe um eine Phantasiegruppe der Forscher handelt: Es wurde eine Tätergruppe konstruiert, für die es keinen Nachweis gibt. Auch dafür, dass diese Tätergruppe vom Zölibat angezogen würde, gibt es keinen Beleg.

Unkritische Resonanz

Diese so wenig fundierte Vorstellung traf dennoch auf begeisterte Zustimmung. Denn auf den ersten Blick kritisiert sie die katholische Kirche. Tatsächlich ist die Idee der durch das Zölibat in Versuchung geführten, unreifen Homosexuellen äußerst entlastend für die Kirche. Denn statt um Ideologie ging es in der folgenden Debatte um kranke, unreife Einzeltäter und einige kleinere Fehler im Einstellungsverfahren - aus Unkenntnis. So wird von den realen Ursachen sexualisierter Gewalt abgelenkt. Die katholische Kirche ist eine zutiefst patriarchale Organisation: Frauen haben bis heute in ihr nicht die gleichen Rechte wie Männer, unter Männern herrscht eine strenge Hierarchie. Es ist diese doppelte Distinktionslogik, die Geschlechterforscherin Raewyn Connell als festen Bestandteil von Männlichkeitskonstruktionen analysiert hat, die untrennbar mit der gesellschaftlichen Funktion sexualisierter Gewalt verknüpft ist und die sexualisierter Gewalt ihre Bedeutung gibt (ak 625).

Organisationen wie die katholische Kirche produzieren sexualisierte Gewalt, und das nicht nur in ihren eigenen Institutionen, sondern über ihre Ideologie auch in katholischen Familien und darüber hinaus. Gleichzeitig ist die katholische Kirche eng mit dem Staat und insbesondere, aber nicht nur mit der CDU verwoben. Die kirchliche Ideologie findet ihre Entsprechung in dem von allen bürgerlichen Parteien vertretenen Familienbild und dem Erziehungsprivileg, das Eltern zukommt. Konsequenterweise schreiben alle dann die sexualisierte Gewalt verirrten Einzeltätern zu, um so eine tiefergehende Auseinandersetzung mit den Ursachen zu vermeiden. Unterstützt werden sie von all diejenigen, die gerne nach einfachen Erklärungen suchen und so ziehen viele - ohne es zu merken - mit der katholischen Kirche an einem Strang.

Thomas Schlingmann ist Mitbegründer und Mitarbeiter von Tauwetter, einer Anlaufstelle von Männern und für Männer, die in Kindheit oder Jugend sexualisierter Gewalt ausgesetzt waren.